Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlagepflicht und Vorlageberechtigung nationaler Gerichte an den Europäischen Gerichtshof. Ermessen

 

Orientierungssatz

Bei Zweifeln über die Auslegung von Gemeinschaftsrecht trifft eine Verpflichtung nach Art 234 Abs 3 EGV nur letztinstanzliche Gerichte, andere Gerichte "können" vorlegen (Art 234 Abs 2 EG). Verfahrensfehlerhaft geht das LSG nur dann vor, wenn Instanzgerichte über die Vorlage nicht frei entscheiden könnten (für diese Befugnis aber BFH vom 2.4.1996 - VII R 119/94 = BFHE 180, 231), sondern eine Ermessensentscheidung zu treffen hätten (so BSG vom 29.1.1991 - 7 BAr 48/90 = DBlR 3719a, SGG/§ 160a und BVerwG vom 14.12.1992 - 5 B 72/92 = NVwZ 1993, 770) und hier ein Fall der Ermessensreduzierung auf Null vorläge.

 

Normenkette

EG Art. 234 Abs. 2-3

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 30.09.2003; Aktenzeichen L 14 KG 6/03)

SG Nürnberg (Urteil vom 11.01.1999; Aktenzeichen S 9 KG 93/97)

 

Gründe

Streitig ist die Gewährung von Kindergeld ab 1. Januar 1996.

Der Kläger - deutscher Staatsangehöriger - lebt mit seiner 1989 in Spanien geborenen Tochter spätestens seit Mitte 1994 in diesem Land. Er bezieht Renten wegen Invalidität bzw Erwerbsunfähigkeit vom spanischen und deutschen Rentenversicherungsträger. Zur Anspruchsbegründung war in beiden Fällen die Berücksichtigung von Anwartschaftszeiten aus beiden Ländern erforderlich. Die Beklagte lehnte die Gewährung von Kindergeld für die Tochter des Klägers oder eines Differenzbetrages zu der dem Kläger anfangs in Spanien gewährten Familienbeihilfe für den Zeitraum ab dem 1. Januar 1996 allein auf Grund des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) sowie auch unter Heranziehung europäischen Gemeinschaftsrechts durch Bescheid vom 12. September 1996 ab. Diese Entscheidung bestätigten die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 4. März 1997, das Sozialgericht Nürnberg durch Urteil vom 11. Januar 1999 und das Bayerische Landessozialgericht (LSG) durch Beschluss vom 30. September 2003. Das LSG hat zur Begründung ua ausgeführt: Ein Anspruch auf Kindergeld nach dem BKGG bestehe bereits deswegen nicht, weil die Tochter des Klägers keinen Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland habe. Auch unter Heranziehung des Gemeinschaftsrechts stehe dem Kläger für seine Tochter kein Kindergeld zu. Unter Rückgriff auf Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (≪EuGH≫; ua vom 24. September 2002 ≪C 471/99≫) sei Art 77 Abs 2 Buchstabe b i EWG-Verordnung (EWGV) 1408/71 wie folgt auszulegen: Für die Familienbeihilfe im Sinne dieser Vorschrift sei bei "Doppelrentnern" das Wohnsitzland zuständig, wenn dort grundsätzlich Leistungen der Familienbeihilfe im Leistungskatalog für Rentner vorgesehen seien, unabhängig davon, ob ein Anspruch hierauf tatsächlich realisierbar sei. Werde ein derartiger Anspruch ausgeschlossen oder beschränkt, weil bestimmte nationale Anspruchsvoraussetzungen im Einzelfall nicht erfüllt seien, führe dieses nicht zu einer Zuständigkeit des Nichtwohnsitzstaates, von dem die zweite Rente bezogen werde, wenn diese nicht allein auf Grund der Vorschriften dieses Mitgliedsstaates gewährt werde. Insoweit sei dem Kläger auch kein Rechtsverlust im Hinblick auf das deutsche Kindergeld entstanden. Angesichts der Vielzahl von Entscheidungen des EuGH zu diesem Problemkomplex bestehe auch keine Veranlassung zu einer erneuten Vorlage dort zur Vorabentscheidung nach Art 274 EG-Vertrag (EGV).

Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Beschluss hat der Kläger beim Bundessozialgericht (BSG) Beschwerde eingelegt. Er beruft sich auf grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und macht einen Verfahrensfehler geltend.

Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, da keiner der in § 160 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) abschließend aufgeführten Zulassungsgründe ordnungsgemäß dargetan ist (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG).

Grundsätzliche Bedeutung iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtssicherheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Ein Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und des Schrifttums angeben, welche Rechtsfragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung aus Gründen der Rechtseinheit oder Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Um seiner Darlegungspflicht zu genügen, muss der Beschwerdeführer mithin Folgendes aufzeigen: (1) eine konkrete Rechtsfrage, (2) ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, (3) ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit sowie (4) die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung, also eine Breitenwirkung (BSG SozR 1500 § 160 Nr 17 und § 160a Nr 7, 11, 13, 31, 59, 65). Daran fehlt es hier.

Der Kläger hat bereits keine konkrete Rechtsfrage hinreichend deutlich bezeichnet. Soweit er die Auffassung vertritt, das LSG habe insbesondere die Vorschrift des Art 77 Abs 2 Buchstabe b i EWGV 1408/71 unzutreffend ausgelegt und angewendet, hat er nicht hinreichend dargelegt, inwieweit dieses weiteren abstrakten Klärungsbedarf nach sich zieht. Seinem Vortrag ist zu entnehmen, dass der EuGH sich mehrfach mit der Frage der Anwendbarkeit dieser Vorschrift befasst hat. Dann hätte es jedoch weiterer Darlegungen bedurft, welcher Klärungsbedarf dennoch verblieben sei und welche Argumente im Einzelnen der EuGH bisher nicht berücksichtigt hat, die ihn veranlassen könnten seine bisherige Rechtsprechung zu überdenken. Keinesfalls genügt der Kläger seinen Darlegungspflichten, indem er lediglich seine Rechtsauffassung der des EuGH entgegenstellt.

Soweit der Kläger rügt, das LSG habe verfahrensfehlerhaft eine Vorlage nach Art 234 Buchstabe a EGV an den EuGH verweigert, fehlt es ebenfalls an den nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG erforderlichen Darlegungen. Er nimmt zu Unrecht an, nichtletztinstanzliche Gerichte - wie ein LSG - seien bei Zweifeln über die Auslegung von Gemeinschaftsrecht verpflichtet, die Sache dem EuGH vorzulegen. Eine solche Verpflichtung trifft nach Art 234 Abs 3 EGV aber nur letztinstanzliche Gerichte, andere Gerichte "können" vorlegen (Art 234 Abs 2 EGV). Verfahrensfehlerhaft wäre das LSG deshalb nur vorgegangen, wenn Instanzgerichte über die Vorlage nicht frei entscheiden könnten (für diese Befugnis aber BFHE 180, 231), sondern eine Ermessensentscheidung zu treffen hätten (so BSG, Beschluss vom 29. Januar 1991 - 7 BAr 48/90 - JURIS - und BVerwG NVwZ 1993, 770; vgl auch Loytved, SGb 2001, 1, 6) und hier ein Fall der Ermessensreduzierung auf Null vorläge. Der Kläger hat in der Beschwerdebegründung nicht aufgezeigt, dass sich das Ermessen des LSG hier zur Vorlagepflicht verdichtet hätte.

Die Verwerfung der nach alledem nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 iVm § 169 SGG ohne Hinzuziehung der ehrenamtlichen Richter.

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1755818

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