Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. keine Gelegenheit zur Teilnahme an der mündlichen Verhandlung. Nichterhalt der Terminbestimmung. Verantwortung des Gerichts. Ausnahme nur bei Unregelmäßigkeiten und Auffälligkeiten nach Aktenlage. Abstellen auf den Einzelfall

 

Orientierungssatz

1. Es kann nicht in allen Fällen einer "schlichten" Bekanntgabe einer Terminbestimmung oder Ladung von einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ausgegangen werden, wenn ein Beteiligter behauptet, die Ladung nicht erhalten zu haben. Dies gilt etwa dann, wenn sich nach Aktenlage bereits Unregelmäßigkeiten und Auffälligkeiten bei Übersendungen mit einfachem Brief im Zugangs- und "Herrschaftsbereich" des Adressaten ergeben haben (vgl BSG vom 1.10.2009 - B 3 P 13/09 B = SozR 4-1500 § 62 Nr 12 und vom 2.5.2013 - B 4 AS 262/12 B).

2. Dennoch liegt es auch weiterhin vorrangig in der Verantwortung des Gerichts, den Anspruch auf rechtliches Gehör sicherzustellen. Das Gericht muss sich daher - je nach den Gegebenheiten des Einzelfalls - gegebenenfalls Gewissheit darüber verschaffen, ob ein für die Wahrung des rechtlichen Gehörs bedeutsames Schreiben den Beteiligten auch tatsächlich erreicht hat.

 

Normenkette

SGG § 160a Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, §§ 62, 63 Abs. 1 S. 2; GG Art. 103 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 01.02.2012; Aktenzeichen L 12 AS 2038/10)

SG Köln (Gerichtsbescheid vom 19.11.2010; Aktenzeichen S 28 AS 3547/10)

 

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 1. Februar 2012 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I. Der Kläger beantragte im Oktober 2009 SGB II-Leistungen und wurde von dem Beklagten aufgefordert, bis spätestens 16.11.2009 einen Schufa-Auszug, eine Unbedenklichkeitsbescheinigung vom Finanzamt und eine Rentabilitätsvorschau in Bezug auf seine geplante Selbständigkeit vorzulegen (Schreiben vom 30.10.2009). Den hiergegen gerichteten Widerspruch verwarf der Beklagte als unzulässig (Widerspruchsbescheid vom 26.8.2010). Klage und Berufung hatten keinen Erfolg (Gerichtsbescheid des SG vom 19.11.2010; Urteil des LSG vom 1.2.2012). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, der Senat könne auch in Abwesenheit des Klägers verhandeln und entscheiden, weil in der ordnungsgemäßen Terminbenachrichtigung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden sei. Zwar bestünden Zweifel, ob das SG die Klage zu Recht als unzulässig habe abweisen können, weil der Widerspruchsbescheid eine Regelung treffe. Die Klage sei jedoch unbegründet, weil der Beklagte zu Recht entschieden habe, dass der Widerspruch mangels eines vorliegenden Verwaltungsaktes unzulässig sei. Das Schreiben vom 30.10.2009 enthalte nur eine Mitwirkungsaufforderung ohne konkreten Regelungsinhalt. Das SG habe durch Gerichtsbescheid entscheiden dürfen. Die diesbezügliche Mitteilung brauche keinen weiteren Inhalt aufzuweisen.

Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger geltend, es liege ein wesentlicher Verfahrensfehler vor, weil das LSG im Termin am 1.2.2012 durch Urteil entschieden und nicht wegen seiner Abwesenheit vertagt habe. Der Senatsvorsitzende habe mit Ladungsverfügung vom 17.12.2011 für Mittwoch, den 1.2.2011, um 13.35 Uhr terminiert. Er habe die Terminnachricht nicht erhalten und entsprechend den Termin nicht wahrnehmen können. Nach dem Sitzungsprotokoll des LSG sei bei Aufruf der Sache am 1.2.2012 um 13.37 Uhr für den Beklagten lediglich dessen Prozessvertreter anwesend gewesen. Feststellungen zu seinem Nichterscheinen seien nicht getroffen worden. Da nur der Beklagte mit Empfangsbekenntnis geladen worden sei, habe sich das LSG gedrängt fühlen müssen, ggf über die Geschäftsstelle nachzufragen, ob Gründe für sein Nichterscheinen bekannt seien. Aus der Akte sei ersichtlich gewesen, dass er nur mit einfachem Brief zum Termin geladen worden sei, so dass nicht als sicher angesehen werden konnte, dass er die Terminmitteilung erhalten habe. Zudem habe das LSG aus seinen Schriftsätzen den Eindruck gewinnen müssen, dass es ihm um die Sache selbst gegangen sei. Bedenken bestünden auch wegen der Nichteinhaltung einer angemessenen Wartezeit, weil das LSG keinen - in der Regel üblichen - Zeitraum von 15 Minuten berücksichtigt habe, sondern bereits um 13.37 Uhr den Rechtstreit aufgerufen habe.

II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Der von dem Kläger gerügte Verfahrensmangel einer unzureichenden Gewährung rechtlichen Gehörs liegt vor und führt hier gemäß § 160a Abs 5 SGG iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.

Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist ua begründet, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Das Berufungsurteil ist unter Verletzung des Anspruchs des Klägers auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) ergangen. Das Gebot des rechtlichen Gehörs erfordert, dass den Beteiligten ausreichend Gelegenheit zur Abgabe sachgemäßer Erklärungen gegeben werden muss, dies vor allem in der mündlichen Verhandlung (BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 5; BSG SozR 3-1500 § 128 Nr 14). Wird aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden, müssen die Beteiligten die Möglichkeit haben, hieran teilzunehmen. Diese Möglichkeit hatte der Kläger jedoch nicht, weil er die Terminbenachrichtigung zu dem Termin am 1.2.2012 nach seinen Angaben nicht erhalten hat.

Zwar müssen Terminbestimmungen und Ladungen nach § 63 Abs 1 Satz 2 SGG (idF des 6. SGG-Änderungsgesetzes vom 17.8.2001 - BGBl I 2144) nicht (mehr) zugestellt werden; es genügt schon die Bekanntgabe, etwa durch einfachen Brief oder durch Einwurfschreiben. Es liegt jedoch weiterhin vorrangig in der Verantwortung des Gerichts, den Anspruch auf rechtliches Gehör sicherzustellen. Dieses muss sich - je nach den Gegebenheiten des Einzelfalls - gegebenenfalls Gewissheit darüber verschaffen, ob ein für die Wahrung des rechtlichen Gehörs bedeutsames, aber mit einfachem Brief übersandtes Schreiben den Beteiligten auch tatsächlich erreicht hat.

Dass der Kläger die Terminmitteilung nicht erhalten hat, ergibt sich aus seiner Beschwerdebegründung. Ein Nachweis über den Erhalt dieses Schreibens fehlt. Es kann nicht regelmäßig allein aufgrund des bloßen Absendens einer Terminmitteilung gefolgert werden, dass dieses Schreiben den Beteiligten auch erreicht hat. Wird auf eine förmliche Zustellung mit Nachweis des Erhalts des Zugangs über die Terminmitteilung oder Ladung zu einem Verhandlungstermin verzichtet, muss sich das LSG - je nach den Besonderheiten des Falls - damit befassen, ob dieses Schreiben den Beteiligten auch erreicht hat und sich ggf Gewissheit darüber verschaffen, dass dieses zugegangen ist (vgl zum Anhörungsschreiben nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG: BSG Beschluss vom 29.11.2012 - B 14 AS 176/12 B, juris RdNr 5 mwN). Zwar kann nicht in allen Fällen einer "schlichten" Bekanntgabe einer Terminbestimmung oder Ladung von einer Verletzung des § 63 SGG ausgegangen werden, wenn ein Beteiligter behauptet, die Ladung nicht erhalten zu haben, etwa wenn sich nach Aktenlage bereits Unregelmäßigkeiten und Auffälligkeiten bei Übersendungen mit einfachem Brief im Zugangs- und "Herrschaftsbereich" des dafür erforderlichen Adressaten ergeben haben (vgl hierzu BSG SozR 4-1500 § 62 Nr 2; Beschluss des Senats vom 2.5.2013 - B 4 AS 263/12 B). Ein derartiger Fall ist hier jedoch nicht gegeben, weil der - jeweils mit Postzustellungsurkunde zugestellte - Gerichtsbescheid des SG vom 19.11.2010 und der Beschluss des LSG über die Ablehnung der Befangenheit vom 23.8.2011 sowie die sonstigen Schriftsätze den Kläger unproblematisch erreicht haben.

Es liegen zudem einzelfallbezogene Besonderheiten vor, die es - nach Auswertung des Akteninhalts dieses Verfahrens - nahelegen, dass der Kläger auf den Erhalt der Terminmitteilung über den Verhandlungstermin vor dem LSG am 1.2.2012 reagiert hätte. So hat er auf ausdrückliche Nachfrage des Berichterstatters beim LSG zu einem Einverständnis ohne mündliche Verhandlung vom 10.1.2011 deutlich gemacht, dass er hiermit nicht einverstanden sei und weitere rechtliche Erörterungen durch das Berufungsgericht für erforderlich halte. Zudem hat er ausdrücklich kritisiert, dass das SG in seinem Anhörungsschreiben vom 28.10.2010 zum Gerichtsbescheid keine Hinweise zu der dort vertretenen Auffassung, es handele sich um ein Verfahren ohne besondere Schwierigkeiten rechtlicher Art, gegeben habe. Auch wegen des hierdurch dokumentierten Interesses des Klägers am Ausgang des Verfahrens geht der Senat bei zusammenfassender Würdigung davon aus, dass die Terminmitteilung nicht in den Herrschaftsbereich des Klägers gelangt ist.

Weiteres Vorbringen des Klägers war nicht erforderlich, weil "wegen des besonderen Rechtswertes der mündlichen Verhandlung" im allgemeinen davon auszugehen ist, dass eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, die einen Verfahrensbeteiligten daran hindert, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen, für die Entscheidung ursächlich geworden ist (vgl nur BSG SozR 3-1750 § 227 Nr 1 RdNr 16). Gründe die eine Ursächlichkeit des gerügten Verfahrensfehlers für das angefochtene Urteil ausschließen könnten, sind hier nicht ersichtlich (vgl auch Urteil des Senats vom 19.2.2009 - B 4 AS 10/08 R und Urteil vom 24.2.2011 - B 14 AS 87/09 R - SozR 4-4200 § 60 Nr 1).

Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG mit dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Da letzteres hier der Fall ist, macht der Senat von dieser Möglichkeit Gebrauch und verweist in der Sache insofern auch auf das Urteil des 14. Senats des BSG vom 24.2.2011 (B 14 AS 87/09 R - SozR 4-4200 § 60 Nr 1).

Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI4746740

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