Entscheidungsstichwort (Thema)

Behauptung der Verfassungswidrigkeit einer Vorschrift

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache ist nicht ausgeschlossen, wenn die Verfassungsmäßigkeit bzw Verfassungswidrigkeit einer Vorschrift zu klären ist.

2. Wird eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache begehrt, so muß die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde die zu entscheidende Rechtsfrage klar bezeichnen und außerdem erkennen lassen, weshalb ihrer Klärung eine grundsätzliche Bedeutung zukommt. Die bloße Behauptung der Verfassungswidrigkeit einer Vorschrift reicht nicht aus.

 

Orientierungssatz

Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit (GG Art 3 Abs 1) des Erfordernisses der Arbeitslosmeldung in AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 3 (= RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 3).

 

Normenkette

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1 Fassung: 1974-07-30, § 160a Abs. 2 Fassung: 1974-07-30; GG Art. 3 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23; AVG § 36 Abs. 1 S. 1 Nr. 3; RVO § 1259 Abs. 1 S. 1 Nr. 3

 

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts für das Land-Nordrhein-Westfalen vom 16. Januar 1975 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Der Kläger war nach seinem Hochschulstudium von August 1932 bis April 1934 arbeitslos, aber nicht beim Arbeitsamt gemeldet. Er begehrt dennoch von der Beklagten die Anerkennung (Vormerkung) dieser Zeit als Ausfallzeit im Sinne des § 36 Abs 1 Nr 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Die Beklagte hat das abgelehnt. Die Klage und Berufung waren ohne Erfolg. Nach Ansicht des Landessozialgerichts (LSG) ist es nicht grundgesetzwidrig (willkürlich), daß das Gesetz die Anrechnung einer Arbeitslosigkeit als Ausfallzeit von der Arbeitslosmeldung abhängig macht und für ehemals unbeschäftigte Jungakademiker keine Ausnahme zuläßt.

Das LSG hat die Revision nicht zugelassen. Mit der dagegen eingelegten Beschwerde beantragt der Kläger die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache. In der damals herrschenden größten Arbeitslosigkeit sei - insbesondere für Jungakademiker, eine Meldung beim Arbeitsamt nutzlos gewesen, weil die Arbeitsämter keine Stellen hätten vermitteln können. Damit stelle sich die Frage, ob § 36 Abs 1 Nr 3 AVG mit der Verfassung im Einklang stehe, soweit das Gesetz von seinen Vorteilen die große Gruppe der Arbeitslosen ausschließe, die sich wegen Nutzlosigkeit nicht beim Arbeitsamt gemeldet hätten. Diese Frage sei noch nicht entschieden.

Die Beschwerde ist zulässig. Zu den Voraussetzungen der Zulässigkeit gehört nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG, daß in der (fristgebundenen) Beschwerdebegründung die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt wird. Demgemäß ist in der Begründung die zu entscheidende Rechtsfrage klar zu bezeichnen; außerdem muß ersichtlich sein, weshalb ihrer Klärung eine grundsätzliche Bedeutung zukommt. Das gilt auch, wenn die Verfassungswidrigkeit einer Vorschrift behauptet wird. Hier kann die bloße Behauptung der Verfassungswidrigkeit nicht ausreichen; vielmehr muß dargetan sein, welche Vorschrift des Grundgesetzes verletzt ist und aus welchen Gründen. Insbesondere bei behaupteten Verstößen gegen den Gleichheitsgrundsatz ist zu erläutern, worin Ungleichbehandlung und Willkür erblickt werden (vgl BVerwG, Buchholz, 448.3 § 7 USG Nr 1); erst dann sind Inhalt und Bedeutung der zu entscheidenden Rechtsfrage der Verfassungswidrigkeit genügend gekennzeichnet. Diesen Anforderungen genügt indessen die Beschwerdebegründung des Klägers; es ist vor allem nicht zweifelhaft, daß und warum er Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes (GG) für verletzt erachtet. Auch sonst sind Bedenken gegen die Zulässigkeit der Beschwerde nicht gegeben.

Die Beschwerde ist aber nicht begründet.

Der Senat kann allerdings nicht der Meinung des Bundesgerichtshofs (BGH) folgen, daß die Frage der Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Vorschrift die Zulassung einer Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nicht rechtfertigen könne (RzW 1964, 225; 1967, 368). Der BGH begründet diese Ansicht damit, daß eine solche Zulassung nur das Verfahren verzögere, weil gegen eine die Verfassungsmäßigkeit bejahende Entscheidung noch der Weg der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht (BVerfG) offenstehe; die Verfassungswidrigkeit könne nur vom BVerfG ausgesprochen werden; dieses könne aber auch angerufen werden, wenn die Revision nicht zugelassen werde. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß das BVerfG auch bei Fragen der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, wenn diese Frage von grundsätzlicher Bedeutung ist, vor der Einlegung der Verfassungsbeschwerde zur Erschöpfung des Rechtsweges die Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde verlangt (BVerfG 16, 3; vgl auch 21, 167). Im übrigen ist die Klärungsfähigkeit auch dieser Rechtsfragen im Revisionsverfahren nicht zu bestreiten, selbst wenn eine Klärung im Sinne der Verfassungswidrigkeit nur durch Anrufung des BVerfG möglich ist. Zu Recht schließt deshalb das BVerwG die Zulassung einer Revision zur grundsätzlichen Klärung der Verfassungsmäßigkeit bzw -widrigkeit einer Vorschrift nicht aus (vgl BVerwG, Buchholz aaO sowie 232 § 90 BBG Nr 14 und 235.16 § 5 LBesG Nr 1). Wegen der Divergenz zum BGH braucht der erkennende Senat allerdings nicht den Gemeinsamen Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes anzurufen; dies ist jedenfalls deshalb nicht erforderlich, weil der Senat aus anderen Gründen hier ebenfalls zur Zurückweisung der Beschwerde kommt.

Der Senat hält die Rechtsfrage nämlich nicht für klärungsbedürftig. Richtig ist zwar, daß über die Verfassungsmäßigkeit des Erfordernisses der Arbeitslosmeldung in § 36 Abs 1 Nr 3 AVG bzw § 1259 Abs 1 Nr 3 RVO, sei es allgemein, sei es für die vom Kläger bezeichnete Gruppe, soweit bekannt, bisher weder vom BSG noch vom BVerfG entschieden worden ist. Wenn auch Ausführungen in mehreren Urteilen des BSG (vgl SozR Nr 13, 35 und 50 zu § 1259 RVO) die Arbeitslosmeldung wiederholt als zusätzliches gesetzliches Tatbestandsmerkmal bezeichnen, ohne die eine Arbeitslosigkeit nicht als Ausfallzeit anerkannt werden kann, so ist doch nicht ersichtlich, daß in diesen Urteilen eine beantragte Anrechnung einer Arbeitslosigkeit wegen der fehlenden Meldung abgelehnt worden ist; andererseits haben diese Urteile keine Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschrift erkennen lassen.

Wie der Senat im Beschluß vom 4. Juni 1975 (11 BA 4/75) dargelegt hat, kann indessen eine Rechtsfrage auch ohne einschlägige Rechtsprechung dann nicht klärungsbedürftig sein, wenn die Antwort darauf von vornherein praktisch außer Zweifel steht. Das ist hier der Fall. Die angeführten Urteile des BSG (vgl Nr 13 und 35) haben bereits die Gründe deutlich gemacht, weshalb der Gesetzgeber die Arbeitslosmeldung fordert. Der Gesetzgeber wollte eine zusätzliche Sicherung für das Bestehen echter Arbeitslosigkeit. Er wollte bei den in Betracht kommenden bis 1927 zurückreichenden Zeiträumen Mißbräuche ausschließen und sicherstellen, daß der Arbeitslose auch ernstlich arbeitswillig war und der Arbeitsvermittlung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zur Verfügung stand. Das sind sachlich einleuchtende Gründe.

Im übrigen hat der Kläger das Erfordernis der Arbeitslosmeldung nicht allgemein als verfassungswidrig bezeichnet. Bei der Prüfung von Zulassungsgründen ist der Senat auf die geltend gemachten Gründe beschränkt. Entscheidend ist daher die Frage, ob das Erfordernis der Arbeitslosmeldung gegen Art 3 Abs 1 GG verstößt, soweit es auch für Arbeitslose gilt, bei denen eine Meldung beim Arbeitsamt von vornherein nutzlos erschien, insbesondere in der hier streitigen Zeit. Auch hier kann jedoch von Willkür keine Rede sein. Es ist schon nicht dargetan, daß Meldungen in der Zeit der "größten Arbeitslosigkeit" allgemein wirklich nutzlos gewesen seien; keinesfalls läßt sich das für alle in Betracht kommenden Vermittlungen annehmen. Hinzu kommt, daß sich die vom Kläger bezeichnete Gruppe nicht sinnvoll abgrenzen läßt.

Abgesehen von der bestehenden Arbeitslosigkeit und der Meldung beim Arbeitsamt erfordert § 36 Abs 1 Nr 3 AVG außerdem, daß der Arbeitslose versicherungsmäßiges Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe oder Fürsorgeunterstützung oder Familienunterstützung bezogen hat oder daß eine dieser Leistungen wegen Zusammentreffens mit anderen Bezügen, wegen eines Einkommens oder wegen der Berücksichtigung von Vermögen nicht gewährt worden ist. Auf dieses weitere Tatbestandserfordernis ist der Kläger in der Beschwerdebegründung nicht eingegangen; auch aus dem angefochtenen Urteil des LSG ist nicht zu ersehen, ob eine dieser alternativen weiteren Voraussetzungen beim Kläger gegeben ist. Der Senat kann jedoch offenlassen, ob die insoweit fehlenden Feststellungen und Ausführungen ebenfalls dem Erfolg der Nichtzulassungsbeschwerde hätten im Wege stehen müssen.

Die Beschwerde ist nach alledem zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 158

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