Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Vorlage an 4. Senat des BSG. Entscheidungskompetenz des zur Entscheidung als Beschwerdegericht zuständigen Senats über Begründetheit der Revision. Zurückverweisung

 

Orientierungssatz

Bei dem 4. Senat des BSG wird angefragt, ob er an seiner in dem Beschluss vom 16.11.2000 - B 4 RA 122/99 B = SozR 3-1500 § 160 Nr 33 vertretenen Rechtsauffassung festhält, dass der zur Entscheidung als Beschwerdegericht zuständige Senat nicht dazu berufen ist, inzidenter über den Erfolg einer angestrebten Revision vor dem Revisionsgericht selbst abschließend zu entscheiden, weil die Anwendung des Rechtsgedankens von § 170 Abs 1 S 2 SGG ausgeschlossen ist.

 

Normenkette

SGG § 41 Abs. 3 Sätze 1-2, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 5, § 170 Abs. 1 S. 2

 

Verfahrensgang

Sächsisches LSG (Urteil vom 30.04.2008; Aktenzeichen L 1 KR 133/07)

SG Dresden (Entscheidung vom 31.07.2007; Aktenzeichen S 15 KR 216/07)

 

Tenor

Bei dem 4. Senat des Bundessozialgerichts wird angefragt, ob er an seiner in dem Beschluss vom 16. November 2000 - B 4 RA 122/99 B - vertretenen Rechtsauffassung festhält, dass der zur Entscheidung als Beschwerdegericht zuständige Senat nicht dazu berufen ist, inzidenter über den Erfolg einer angestrebten Revision vor dem Revisionsgericht selbst abschließend zu entscheiden, weil die Anwendung des Rechtsgedankens von § 170 Abs 1 Satz 2 SGG ausgeschlossen ist.

 

Gründe

I. Der erkennende 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat über eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision zu entscheiden, die der 1957 geborene, bei der beklagten AOK versicherte Kläger erhoben hat. Der Kläger, dem ein Grad der Behinderung von 100 sowie die Merkzeichen G, Bl, H und RF zuerkannt worden sind, leidet ua unter einer hochgradigen Myopie (-28,0 dpt) und bezieht neben einer Erwerbsminderungsrente Blindengeld nach dem Landesblindengeldgesetz. Sein Antrag, ihm für mindestens acht Stunden pro Woche dauerhaft Haushaltshilfe zu gewähren, da er aufgrund seiner Sehbehinderung bei der Führung seines Haushalts und der Bearbeitung behördlicher Korrespondenz auf ständige Hilfe angewiesen sei, die er von seiner niedrigen Rente nicht bezahlen könne, blieb bei der Beklagten und den Vorinstanzen ohne Erfolg. Das Sozialgericht (SG) hat ausgeführt, die Voraussetzungen sowohl des § 38 Abs 1 als auch des § 38 Abs 2 SGB V iVm der Satzung der Beklagten seien nicht erfüllt. Der Kläger lebe nicht mit einem Kind in einem Haushalt zusammen, es liege keine ärztliche Bescheinigung über die Unmöglichkeit einer Weiterführung des Haushalts vor und es bestünden auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Weiterführung des Haushalts wegen akuter schwerer Krankheit oder akuter Verschlimmerung einer Krankheit nicht möglich sein solle (Gerichtsbescheid vom 31.7.2007, zugestellt am 3.8.2007 ohne Hinweis auf den Anspruch nach § 4 Abs 2 der Verordnung zur barrierefreien Zugänglichmachung von Dokumenten für blinde und sehbehinderte Personen im gerichtlichen Verfahren ≪Zugänglichmachungsverordnung≫ - ZMV - vom 26.2.2007, BGBl I 215). Das Landessozialgericht (LSG) hat die am 17.9.2007 eingelegte Berufung des Klägers verworfen: Weil der Kläger seine Post von Hilfspersonen in chronologischer Reihenfolge habe abarbeiten lassen, obwohl er gewusst habe, dass ihn mit dem Gerichtsbescheid ein amtliches, Fristen auslösendes Dokument erreicht habe, sei die dadurch verursachte Versäumnis der Berufungsfrist vermeidbar gewesen. Im Übrigen seien entsprechend den Ausführungen des SG weder die gesetzlichen noch die satzungsmäßigen Voraussetzungen für die Gewährung einer Haushaltshilfe erfüllt (Urteil vom 30.4.2008).

Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil beruft sich der Kläger auf Verfahrensfehler.

II. Der erkennende Senat beabsichtigt, die Beschwerde des Klägers trotz eines im Raum stehenden Verfahrensfehlers als unbegründet zurückzuweisen, weil nach dem Rechtsgedanken des § 170 Abs 1 Satz 2 SGG einer Revision der Erfolg zu versagen wäre. Daran sieht sich der Senat allerdings gehindert, weil er dabei in entscheidungstragender Weise von der Rechtsprechung des 4. Senats des BSG abweichen würde. Er legt dem 4. Senat daher die im Beschlusstenor enthaltene Frage zur Beantwortung vor (vgl § 41 Abs 2 und 3 SGG).

1. Der 4. Senat des BSG ist weiterhin für die Beantwortung der Anfrage zuständig, obwohl seit seinem Beschluss vom 16.11.2000 (SozR 3-1500 § 160 Nr 33) sich seine Zuständigkeit nach dem Geschäftsverteilungsplan teilweise geändert hat. Nach § 41 Abs 3 Satz 1 SGG ist eine Vorlage an den Großen Senat nur zulässig, wenn der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, auf Anfrage des erkennenden Senats erklärt hat, dass er an seiner Rechtsauffassung festhält. Der Senat, von dessen Entscheidung der 1. BSG-Senat abweichen will, ist der 4. BSG-Senat.

Eine Ausnahme von der Regel des § 41 Abs 3 Satz 1 SGG liegt nicht vor. § 41 Abs 3 Satz 2 SGG bestimmt: "Kann der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, wegen einer Änderung des Geschäftsverteilungsplanes mit der Rechtsfrage nicht mehr befasst werden, tritt der Senat an seine Stelle, der nach dem Geschäftsverteilungsplan für den Fall, in dem abweichend entschieden wurde, nunmehr zuständig wäre." Die Voraussetzungen dieser Regelung sind nicht erfüllt, weil der 4. Senat weiterhin mit der vom erkennenden Senat aufgeworfenen Rechtsfrage befasst werden kann. Er kann auch künftig über die entsprechende Anwendung des § 170 Abs 1 Satz 2 SGG im Rahmen von Nichtzulassungsbeschwerden entscheiden. In solchen Fällen verbleibt es bei der regelmäßigen Zuständigkeit gemäß § 41 Abs 3 Satz 1 SGG. Das entspricht bereits dem klaren Wortlaut, aber auch Entstehungsgeschichte, Systematik und Zweck der Regelung.

Nach der Entstehungsgeschichte (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung eines Rechtspflegevereinfachungsgesetzes, BT-Drucks 11/3621 S 54 zu Art 2 Nr 10 - § 132 GVG; S 57 zu Art 4 Nr 1 - § 41 SGG) bestimmt Satz 2, an welchen Senat die Anfrage zu richten ist, wenn der Senat, der vorher abweichend entschieden hat, nicht mehr besteht oder für die Rechtsfrage nicht mehr zuständig ist. Die Regelung knüpft an frühere Rechtsprechung an, wonach eine Abweichung auch dann vorliegt, wenn zwar eine Änderung in der Geschäftsverteilung eingetreten ist, und der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, trotz des Wechsels in der Zuständigkeit jederzeit in die Lage kommen kann, über die Rechtsfrage erneut entscheiden zu müssen (vgl BSGE 58, 183, 188 = SozR 1500 § 42 Nr 10; BFHE 154, 556; vgl auch BFHE 145, 147; Lüdtke, SGG, 3. Aufl 2009, § 41 RdNr 9; Zeihe, SGG, Stand Mai 2008, § 41 RdNr 12b mwN; Ruban in: Gräber, FGO, 6. Aufl 2006, § 11 RdNr 9 mwN; Pietzner in: Schoch/Schmidt-Aßmann/derselbe, VwGO, Stand September 2007, § 11 RdNr 40 mwN). Sie bezweckt, quasi eine Nachfolgeregelung für den Adressaten einer Divergenzanfrage zu treffen, wenn dies wegen einer Änderung der Geschäftsverteilung unerlässlich ist, weil der bisher als Adressat zuständige Spruchkörper nach dem Geschäftsverteilungsplan für die Rechtsfrage, über die abweichend entschieden wurde, nun nicht mehr zuständig wäre.

2. Der erkennende Senat geht davon aus, dass bei der Entscheidung über die Beschwerde der Rechtsgedanke des § 170 Abs 1 Satz 2 SGG zu berücksichtigen ist (vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 28 mwN). Steht fest, dass die vorinstanzlichen Entscheidungen in einem etwaigen Revisionsverfahren jedenfalls aus vom LSG angestellten Erwägungen heraus bestätigt werden müssten, ist eine Revision nicht zuzulassen. Verfahrensrecht hat nicht der Fortführung eines Prozesses um seiner selbst Willen zu dienen, letztlich zum Schaden aller ohne greifbaren Nutzen.

In derartigen Fällen ist vielmehr - auch in Beschwerdeverfahren - auf den Rechtsgedanken aus § 170 Abs 1 Satz 2 SGG zurückzugreifen. Hiernach ist in der Revisionsinstanz ein Rechtsmittel auch dann zurückzuweisen, wenn zwar die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils eine Gesetzesverletzung ergeben, die Entscheidung sich aber aus anderen Gründen als richtig darstellt. Die Vorschrift ist Ausdruck des allgemeinen Gedankens, dass ein Verfahren nicht wegen eines Fehlers fortgeführt werden soll, der mit Sicherheit für das endgültige Ergebnis des Prozesses bedeutungslos bleiben wird. In gleicher Weise wie für eine stattgebende Entscheidung im Revisionsverfahren selbst ist daher auch für eine Revisionszulassung kein Raum, wenn feststeht, dass das angefochtene Urteil unabhängig vom Vorliegen der geltend gemachten Zulassungsgründe aus anderen als den vom Berufungsgericht angestellten Erwägungen Bestand haben wird (ebenso: BSG, 2. Senat - Beschluss vom 12.12.2006 - B 2 U 130/06 B; BSG, 11. Senat - Beschluss vom 30.6.1994 - 11 BAr 139/93; stRspr des Bundesverwaltungsgerichts: BVerwGE 14, 342, 346 f; BVerwGE 54, 99 = Buchholz 310 § 132 VwGO Nr 153; Buchholz 310 § 132 VwGO Nr 166, Nr 178; Buchholz 310 § 144 VwGO Nr 34; stRspr des Bundesfinanzhofs: Beschluss vom 30.10.1998 - III B 56/98 - BFH/NV 1999, 635 mwN; ferner: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 160a RdNr 18 mwN).

3. Die abweichende Auffassung des 4. BSG-Senats überzeugt nicht (vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 63 ff). Er stützt sich - ohne die hierfür vorgesehene Anrufung des Großen Senats - insbesondere darauf, nur aufgrund der fiktiven Annahme einer aufgrund Zulassung statthaften und dann zulässig eingelegten Revision und nur anstelle des dann berufenen Revisionsgerichts könnte das Beschwerdegericht entscheiden. Hierzu sei es nach dem gesetzlich begrenzten Gegenstand des Beschwerdeverfahrens (§ 160 Abs 2 SGG) nicht befugt. Denn hierfür sei es nicht der gesetzliche Richter iS von Art 101 Abs 1 Satz 2 GG.

Diese Rechtsauffassung trägt der gebotenen Auslegung der Regelungen über die Nichtzulassungsbeschwerde im Hinblick auf die Prozessökonomie nicht hinreichend Rechnung. § 170 Abs 1 Satz 2 SGG ist Ausdruck des allgemeinen Gedankens, dass ein Verfahren nicht allein wegen eines Fehlers fortgeführt werden soll, der mit Sicherheit für das endgültige Ergebnis des Prozesses bedeutungslos bleiben wird (vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 28 S 52, mwN; Sendler, DVBl 1992, 240). Dieser Grundgedanke gilt nicht nur für das Revisionsverfahren, sondern auch für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision (vgl auch zB BSG - 12. Senat - SozR 4-1500 § 160a Nr 6 und - dem folgend BSG, Beschluss vom 30.11.2006 - B 9a VJ 7/05 B - juris). Der inzwischen eingeführte § 160a Abs 5 SGG belegt im Übrigen, dass das Beschwerdegericht sehr wohl Funktionen des Revisionsgericht übernehmen kann.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI7712779

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