Leitsatz (amtlich)

Eine gerichtliche Todeserklärung, bei der der Zeitpunkt des Todes des Verschollenen nach VerschÄndG Art 2 § 2 Abs 3 S 1 vom 1951-01 -15 ohne Ermittlungen festgestellt ist, schließt eine Feststellung des Todeszeitpunkts durch den Versicherungsträger nach RVO § 1260 S 1 aF aus.

 

Normenkette

RVO § 1260 S. 1 Fassung: 1934-05-17; VerschÄndG Art. 2 § 2 Abs. 3 S. 1 Fassung: 1951-01-15

 

Verfahrensgang

BSG (Vorlegungsbeschluss vom 05.11.1959; Aktenzeichen 3 RJ 117/56)

 

Tenor

Eine gerichtliche Todeserklärung, bei der der Zeitpunkt des Todes des Verschollenen nach Art. 2 § 2 Abs. 3 Satz 1 des Verschollenheitsänderungsgesetzes vom 15. Januar 1951 ohne Ermittlungen festgestellt ist, schließt eine Feststellung des Todeszeitpunkts durch den Versicherungsträger nach § 1260 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung a. F. aus.

 

Gründe

Der 3. Senat des Bundessozialgerichts (BSG.) hat dem Großen Senat folgende Frage zur Entscheidung nach § 42 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) vorgelegt:

"Schließt eine gerichtliche Todeserklärung, bei der der Zeitpunkt des Todes des Verschollenen nach Art. 2 § 2 Abs. 3 Satz 1 des Verschollenheitsänderungsgesetzes vom 15. Januar 1951 (VerschÄndG) ohne Ermittlungen festgestellt ist, eine Feststellung des Todeszeitpunkts durch den Versicherungsträger nach § 1260 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) a. F. aus mit der Folge, daß allein die gerichtliche Todeserklärung für die Entscheidung über Rentenansprüche von Hinterbliebenen maßgebend ist?"

Die Frage ist bisher in der Rechtsprechung des 4. Senats verneint worden (vgl. BSG. 5 S. 249 (252 ff.) und Urteile vom 19. September 1957 - 4 RJ 150/56 - und 24. Oktober 1957 - 4 RJ 92/56 -).

Der Große Senat hat die ihm zur Entscheidung vorgelegte Frage aus folgenden Erwägungen bejaht:

1. Die Todeserklärung hat rechtserzeugende Wirkung; denn erst und nur der förmliche Beschluß des Gerichts "begründet" die Rechtswirkungen des § 9 des Verschollenheitsgesetzes - VerschG - vom 4. Juli 1939 (RGBl. I S. 1186) in der Fassung des Gesetzes vom 15. Januar 1951 (BGBl. I S. 63) und des Gesetzes vom 26. Juli 1957 (BGBl. I S. 861-937-). Allerdings sind diese Rechtswirkungen beschränkt. Die Todeserklärung begründet regelmäßig nur Vermutungen, und zwar dahingehend, daß der Verschollene in dem im Beschluß festgestellten Zeitpunkt gestorben ist (§ 9 Abs. 1 VerschG) und daß er bis dahin gelebt hat.

Hat die Todeserklärung somit im allgemeinen auch nur die begrenzte Wirkung einer Vermutung, so wirkt sie andererseits doch für und gegen jedermann. Sie bindet insbesondere alle anderen Behörden (vgl. Schlegelberger FGG 7. Aufl. Anm. 10 zu § 16). Sie ist weder in zeitlicher noch in persönlicher oder sachlicher Hinsicht beschränkt; sie gilt für private und öffentliche Rechtsverhältnisse. Alle Rechtsverhältnisse, für die das Leben oder der Tod des Verschollenen von Bedeutung ist, sind so anzusehen, als ob der Verschollene tatsächlich in dem festgestellten Todeszeitpunkt verstorben wäre (vgl. Dronke in JW. 1916 S. 632 (637 f.); Arnold Anm. 5 zu § 9 VerschG; Hesse-Kramer, VerschG Anm. 13 zu § 9; Vogel Anm. 4 zu § 9 VerschG; Palandt, BGB 19. Aufl., Anm. 2 und 3 zu § 9 VerschG; Soergel, BGB 8. Aufl., Anm. 3 zu § 9 VerschG; Ermann, BGB 2. Aufl., Anm. 2 zu § 9 VerschG; OLG. Neustadt vom 30.11.1951 in NJW. 1952 S. 940 f.).

Aus der umfassenden Wirkung der gerichtlichen Todeserklärung folgt, daß sie auch für das Versicherungsverhältnis gilt. Auch der Versicherungsträger muß die Todesvermutung gegen sich gelten lassen (so schon Brunn, Monatsschrift für Arbeiter und Angestelltenversicherung, 1917 Sp. 713 (714) unter Berufung auf Dronke, JW. 1916 S. 632 (637 f.)). Wo das Recht der Rentenversicherung auf den Tod des Versicherten abstellt, greift die gerichtliche Todeserklärung Platz. Es ist demnach über Ansprüche Hinterbliebener so zu entscheiden, als ob der Eintritt des Versicherungsfalles in Gestalt des Todes des Versicherten (§§ 1256 Abs. 1, 1257, 1258 Abs. 1 Satz 1 RVO a. F., §§ 3 Abs. 1, 21 Abs. 5 SVAG) feststünde.

Gleichermaßen wirkt sich die gerichtliche Todeserklärung auf dem Gebiet des Familienrechts aus. Zwar knüpft das Familienrecht an die Todeserklärung als solche in bestimmten Fällen noch weitergehende Rechtswirkungen, die auch im Falle der Unrichtigkeit der Todeserklärung nicht oder nicht mit rückwirkender Kraft beseitigt werden können (vgl. z. B. § 1677 BGB: Beendigung der elterlichen Gewalt des für tot erklärten Elternteils). Eine solche über die Wirkung einer Vermutung hinausgehende Rechtsfolge hat das Gesetz der Todeserklärung für das in diesem Zusammenhang allein in Betracht kommende Tatbestandsmerkmal: Auflösung der Ehe nicht zuerkannt. Insoweit kann demnach die Auswirkung der Todeserklärung nur aus ihrer allgemeinen Bedeutung nach § 9 VerschG bestimmt werden. Danach ist von der Annahme auszugehen, die Ehe des Verschollenen sei mit dem in der Todeserklärung festgestellten Zeitpunkt aufgelöst (vgl. RGZ 60 S. 196 (198) mit dem beachtlichen Hinweis auf die Entstehungsgeschichte des BGB: Der Abs. 1 des § 1235 des ersten Entwurfs, der aussprach, daß auch in Ansehung der Ehe die durch die Todeserklärung begründete Vermutung bestehe, ist in der zweiten Lesung als selbstverständlich gestrichen worden). Dieser Auffassung kann nicht § 38 Abs. 2 Satz 1 des Ehegesetzes (EheG) entgegengehalten werden, wonach die frühere Ehe eines Ehegatten mit einem für tot erklärten Ehegatten mit der Schließung der neuen Ehe aufgelöst wird. Diese Vorschrift soll nur verhüten, daß bei der Wiederverheiratung im Falle der Todeserklärung die Rechtsfolgen eintreten, die sonst Platz greifen, wenn sich die durch die Todeserklärung begründete Vermutung als unrichtig erweist, daß nämlich die Rechtsverhältnisse der wirklichen Sachlage entsprechend beurteilt werden, als ob die Todeserklärung nicht erfolgt wäre (vgl. RGZ. a. a. O.). Mit § 38 Abs. 2 Satz 1 EheG wird somit nur zum Ausdruck gebracht, daß die Ehe mit dem Verschollenen durch den Eheschluß jedenfalls endgültig aufgelöst wird, wenn sie nicht schon durch den Tod des Verschollenen aufgelöst sein sollte (Staudinger, BGB 11. Aufl., Anm. 28 zu § 9 VerschG). Die Vorschrift enthält eine Ausnahme gegenüber § 20 EheG - eine Ehe ist nichtig, wenn einer der Ehegatten zur Zeit der Eheschließung mit einem Dritten in gültiger Ehe lebte -, nicht aber gegenüber § 9 Abs. 1 VerschG, wie Soergel (Anm. 6 b zu § 9 VerschG) zutreffend ausführt.

Die durch die Todeserklärung begründete Vermutung des Todes des Verschollenen und damit der Auflösung seiner Ehe entscheidet auch über den Familienrechtsstand von Kindern aus dieser Ehe (vgl. RGZ. 60 S. 196 (198 f.); OLG. Hamm in JZ. 1951 S. 345; OLG. Neustadt in NJW. 1952 S. 1940; BVerfG. 9 S. 201 (210)). Liegt der festgestellte Zeitpunkt des Todes mehr als 302 Tage vor der Geburt des Kindes, ist das Kind als unehelich anzusehen. Seine Unehelichkeit kann von jedermann geltend gemacht werden (§ 1593 BGB), ohne daß eine Anfechtung der Ehelichkeit (§§ 1594, 1595 a BGB) erforderlich wäre. Umgekehrt ist ein Kind, dessen Ehelichkeit nicht angefochten ist, als ehelich zu behandeln, wenn es nicht später als 302 Tage nach dem in der gerichtlichen Todeserklärung festgestellten Todeszeitpunkt geboren ist.

Ist aber ein Kind nach bürgerlichem Recht als ehelich oder unehelich anzusehen, so gilt dies auch für das Sozialversicherungsrecht; denn § 1258 Abs. 2 RVO a. F. verweist auf die familienrechtlichen Begriffe des bürgerlichen Rechts (vgl. hierzu die Ausführungen im Beschluß des Großen Senats vom gleichen Tage - GS 1/60).

Demnach ist die in der gerichtlichen Todeserklärung enthaltene Todeszeitpunktfeststellung sowohl für die Frage, ob und wann der Versicherungsfall - Tod des Versicherten (§§ 1256 Abs. 1, 1257, 1258 Abs. 1 Satz 1 RVO a. F., §§ 3 Abs. 1, 21 Abs. 5 SVAG) - eingetreten ist, als auch für die vom Familienrechtsstand abhängigen Anspruchsvoraussetzungen (vgl. § 1258 Abs. 2 Nr. 1 und 2 RVO a. F.) maßgebend. somit besteht für das Sozialversicherungsrecht kein Bedürfnis nach einer besonderen Feststellung des Todestages Verschollener, wenn eine gerichtliche Todeserklärung vorliegt; denn alle Fragen, für die es auf den Tod des Versicherten ankommt - sei es unmittelbar, daß sich hiernach der Eintritt des Versicherungsfalles bestimmt, sei es mittelbar, daß hiervon der Familienrechtsstand von Kindern abhängt, der wiederum den Kreis der Anspruchsberechtigten abgrenzt -, werden durch die gerichtliche Todeserklärung mit der durch sie begründeten Todeszeitpunktvermutung verbindlich beantwortet.

Daß die gerichtliche Todeserklärung eine besondere Todeszeitpunktfeststellung des Versicherungsträgers überflüssig macht, läßt auch die Entstehungsgeschichte der §§ 1259, 1260 RVO a. F. klar erkennen. Dieser Regelung liegt allein der Gedanke zugrunde, im Interesse der Hinterbliebenen die Feststellung des Todestages Verschollener und damit die Festsetzung von Hinterbliebenenrenten zu ermöglichen, wenn eine Todeserklärung nicht vorliegt. In der amtlichen Begründung zum Entwurf einer RVO (Reichstagsdrucks. "Zu Nr. 340", 12. Legislatur-Periode, II. Session 1909/10 S. 401) heißt es zu § 1250 (entspricht inhaltlich § 1259 RVO a. F.):

"Da nun die Todeserklärung nach §§ 13 bis 19 des Bürgerlichen Gesetzbuches im allgemeinen erst nach zehn Jahren zulässig ist, so kann die Gewährung von Hinterbliebenenbezügen nach dem Vierten Buch nicht von der Todeserklärung abhängig gemacht werden. Die Voraussetzungen müssen leichter erfüllbar sein, wenn die Hinterbliebenen rechtzeitig in den Besitz ihrer Bezüge kommen sollen".

Als die Todeserklärung von Kriegsteilnehmern durch Bundesratsverordnungen in den Jahren 1916 und 1917 gegenüber dem bisherigen Recht, insbesondere durch Abkürzung der Abwesenheitsfristen und Vereinfachung des Verfahrens, wesentlich erleichtert wurde, entstand die Frage, ob die Sondervorschriften der RVO für den Verschollenheitsfall (damals §§ 1265, 1266) dadurch ihre Bedeutung verloren hätten; v. Olshausen (NJW. 1916 S. 642 (643)) hatte der Meinung Ausdruck gegeben, daß die Versicherungsträger in Zukunft voraussichtlich erst nach erfolgter Todeserklärung Renten gewähren würden, nachdem die Todeserklärung Kriegsverschollener in so hohem Grade erleichtert worden sei. Das Reichsversicherungsamt (RVA.) entschied sich in seinem Runderlaß vom 18. Mai 1916 (AN. 1916 S. 509) dafür, die Versicherungsträger anzuweisen, bei Verschollenheit des Versicherten entweder den Antragstellern anheimzugeben, die Todeserklärung des Versicherten zu erwirken, oder selbständig das Vorliegen der Verschollenheit zu prüfen.

Im Sozialversicherungsrecht gilt somit in dieser Hinsicht das gleiche wie im Beamtenrecht (vgl. § 133 BBG und Nr. 6 der amtlichen Richtlinien zum BBG (abgedruckt bei Fischbach, Bundesbeamtenrecht 2. Aufl.)) und im Versorgungsrecht (vgl. § 52 Abs. 1 BVG und Nr. 1 der Verwaltungsvorschriften zu § 52 BVG). In diesen Fällen darf die Leistungsverwaltung unter mehr oder minder geringfügiger Abweichung vom allgemeinen Verschollenheitsbegriff (§ 1 Abs. 1 VerschG) nach den Merkmalen ihres jeweiligen Verschollenheits-Sonderrechts (§ 133 Abs. 1 BBG; § 52 Abs. 1 BVG) den vermutlichen Todeszeitpunkt des Verschollenen nur feststellen, wenn eine gerichtliche Todeserklärung nicht vorliegt.

2. Das RVA. hat allerdings in seiner Entscheidung vom 20. Januar 1931 (EuM. Bd. 29 S. 265) aus Billigkeitsgründen ein Bedürfnis für eine besondere Feststellung des Todeszeitpunktes des verschollenen Versicherten durch den Versicherungsträger trotz Vorliegens einer gerichtlichen Todeserklärung bejaht: Die Vorschriften der §§ 1259, 1260 RVO a. F. (die in der Entscheidung des RVA. zitierten §§ 1265, 1266 RVO entsprechen den genannten Vorschriften) seien zugunsten der Hinterbliebenen eines verschollenen Versicherten geschaffen; die Vorteile dieser Regelung seien demnach allen Hinterbliebenen in gleicher Weise zuzuwenden; dem würde es widersprechen, wenn die Hinterbliebenen solcher Versicherten nicht daran teilhaben sollten, die im gerichtlichen Aufgebotsverfahren für tot erklärt worden seien, bevor der Todestag durch den Versicherungsträger nach § 1260 Satz 1 RVO a. F. festgestellt sei.

Bei dieser Billigkeitserwägung des RVA. muß berücksichtigt werden, daß nur sie es angesichts der Härte der damaligen Anwartschaftsregelung ermöglichte, eine Anwartschaft noch als aufrechterhalten anzusehen, die unter Zugrundelegung der Feststellung der gerichtlichen Todeserklärung über den Todeszeitpunkt (Ende des 10. Kalenderjahres nach Beginn der Verschollenheit) längst verfallen war. Hat dieser Ausgangspunkt mit der zunehmenden Verbesserung des Anwartschaftsrechts zugunsten der Versicherten und ihrer Hinterbliebenen durch § 4 Abs. 2 des Sozialversicherungsanpassungsgesetzes (SVAG) und seine Vorläufer - erst recht mit der grundsätzlichen Beseitigung der Anwartschaft durch das Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) - an Bedeutung verloren, hat andererseits die Entwicklung des Sozialversicherungsrechts zu Fragestellungen geführt, die die Billigkeitserwägung des RVA. mit neuen Schwierigkeiten belasten. Während das RVA. noch davon ausgehen konnte, daß eine Billigkeitsbetrachtung den Hinterbliebenen schlechthin zugute kommt, so können im Hinblick auf § 21 Abs. 5 SVAG die Interessen der Hinterbliebenen - der Witwe einerseits, der Waisen andererseits - durchaus im Widerstreit liegen (vgl. den vom BayLVA. in Breith. 1953 S. 1251 entschiedenen Fall). Hinzu kommt, daß der vom RVA. entschiedene Verschollenheitsfall (allgemeine Verschollenheit mit zehnjähriger Verschollenheitsfrist und auf den Ablauf des 10. Kalenderjahres nach Beginn der Verschollenheit abgestellter Todeszeitpunktfeststellung; vgl. demgegenüber jetzt §§ 3, 9 Abs. 2, 3 Buchst. a VerschG) gegenüber den heute durchaus im Vordergrund stehenden Fällen der Kriegsverschollenheit praktisch bedeutungslos ist. In diesen Fällen kann in der Regel aber verhältnismäßig rasch (vgl. § 4 VerschG, Art. 2 § 1 VerschÄndG) eine gerichtliche Todeserklärung mit einer dem Verschollenheitsbeginn zeitlich nahen Todeszeitpunktfeststellung (vgl. § 9 Abs. 2, 3 Buchst. b VerschG, Art. 2 § 2 Abs. 2 und 3 und § 3 Abs. 2 Satz 1 und 2 VerschÄndG) erreicht werden.

Zeigt sich somit schon, daß nach den heutigen Verhältnissen das vom RVA. angenommene Bedürfnis für eine eigene Todeszeitpunktfeststellung des Versicherungsträgers neben oder entgegen der gerichtlichen Todeserklärung nicht besteht, so verstärken sich noch die Bedenken gegen eine Übernahme der Rechtsprechung des RVA. wenn die vom RVA. nur am Rande berührte Frage der Zulässigkeit einer solchen Feststellung geprüft wird. Zu Unrecht sieht das RVA. mit Brunn (Monatsschrift für Arbeiter und Angestelltenversicherung 1917 Sp. 713) in der Todeszeitpunktfeststellung des Versicherungsträgers eine Widerlegung der in der gerichtlichen Todeserklärung enthaltenen Todesvermutung. Die durch § 9 Abs. 1 VerschG begründete Todesvermutung ist allerdings widerlegbar (§ 292 Zivilprozeßordnung - ZPO -); denn das VerschG schreibt nichts anderes vor. Der Gegenbeweis gegenüber der Todeszeitpunktvermutung setzt jedoch die volle Gewißheit der Unrichtigkeit voraus. Deshalb reicht auch ein hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, daß der Verschollene zu einem anderen als dem im Beschluß festgestellten Zeitpunkt gestorben ist, nicht aus, den Beweis der Unrichtigkeit der Todeserklärung zu erbringen (Arnold Anm. 11 zu § 9 VerschG, Vogel Anm. 8 zu § 9 VerschG). Wenn der Versicherungsträger den Todestag des Verschollenen "nach billigem Ermessen" (§ 1260 Satz 1 RVO a. F.) feststellt, so setzt er der Todeszeitpunktfeststellung in der gerichtlichen Todeserklärung nur eine eigene - möglicherweise mit einem höheren Grad der Wahrscheinlichkeit - entgegen, ohne den "Beweis des Gegenteils" zu erbringen, wie ihn § 292 ZPO für die Widerlegung der Vermutung fordert.

Indessen kann dahinstehen, ob die Rechtsprechung des RVA. unter den damaligen rechtlichen Verhältnissen zutraf. Jedenfalls läßt sie sich nicht zur Rechtfertigung der Befugnis des Versicherungsträgers verwerten, entgegen der gerichtlichen Todeserklärung eine eigene Feststellung über den Todeszeitpunkt des verschollenen Versicherten zu treffen, insbesondere dann nicht, wenn diese Feststellung sich zu Ungunsten der Hinterbliebenen auswirken soll und damit der für das RVA. entscheidende Gesichtspunkt nicht nur verlassen, sondern in sein Gegenteil verkehrt würde.

3. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang - entgegen der in BSG. 5 S. 252 ff. vertretenen Auffassung -, ob im Todeserklärungsverfahren Ermittlungen über den Zeitpunkt des Todes angestellt worden sind oder ob ohne Ermittlungen ein vom Gesetz vorgeschriebener "schematischer" Todeszeitpunkt festgestellt worden ist (vgl. Art. 2 § 2 Abs. 3 VerschÄndG). Das Gesetz unterscheidet für die Frage der Rechtswirkungen, die an die gerichtliche Todeserklärung geknüpft sind, nicht danach, wie die Todeserklärung zustande gekommen ist. Vielmehr legt § 9 Abs. 1 Satz 1 VerschG allen gerichtlichen Todeserklärungen - auch den nach dem VerschÄndG ergangenen (Art. 2 § 8 VerschÄndG) - die gleiche umfassende Wirkung bei, die, wie bereits dargelegt, alle für die Feststellung der Rentenansprüche Hinterbliebener bedeutsamen Fragen, soweit sie vom Tode des Versicherten abhängen, verbindlich beantwortet.

Dabei können nicht, wie der 4. Senat befürchtet (a. a. O. S. 253 f.), für die bürgerlich-rechtlichen Vorfragen und für die sozialversicherungsrechtlichen Fragen verschiedene Todeszeitpunktfeststellungen zur Anwendung kommen; denn die durch die gerichtliche Todeserklärung begründete Todesvermutung gilt für beide Fragenkomplexe.

Ebensowenig steht das Amtsermittlungsprinzip der Anerkennung der uneingeschränkten Wirkung aller gerichtlichen Todeserklärungen für das Rentenverfahren entgegen (vgl. aber a. a. O. S. 252 f.). Hiernach sind die Versicherungsträger und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit verpflichtet, den Sachverhalt mit dem Ziel aufzuklären, der Wahrheit möglichst nahekommende Feststellungen zu treffen. Dabei wird das Ermittlungsthema vom materiellen Recht bestimmt. Hiernach ist bei der Feststellung von Hinterbliebenenrenten u. a. von Amts wegen zu ermitteln, ob der Eintritt des Versicherungsfalles (Tod des Versicherten) nachgewiesen ist oder zum mindesten eine "Ersatztatsache" in Gestalt der gerichtlichen Todeserklärung vorliegt, die zwar widerlegbar und berichtigungsfähig ist, jedoch für alle Rechtsverhältnisse, bei denen es auf den Tod des für tot erklärten Verschollenen ankommt, diesen Beweis erbringt, so lange sie nicht widerlegt oder berichtigt ist. Da aber das materielle Recht nicht nach der Art und Weise des Zustandekommens der gerichtlichen Todeserklärung unterscheidet, beschränkt sich auch die Aufklärungspflicht des Versicherungsträgers auf die Frage, ob überhaupt eine gerichtliche Todeserklärung vorliegt.

Das gleiche gilt für die bürgerlich-rechtlichen Vorfragen des Rentenverfahrens. Hängt z. B. der Anspruch auf Waisenrente davon ab, daß die den Anspruch erhebende Waise "eheliches Kind" des Versicherten ist (§ 1258 Abs. 2 Nr. 1 RVO a. F.), so haben sich die Ermittlungen des Versicherungsträgers allein darauf zu erstrecken, ob das Kind nach bürgerlichem Recht als eheliches Kind des Versicherten anzusehen ist. Da aber das bürgerliche Recht für die den Familienrechtsstand bestimmende Frage, ob die Ehe aufgelöst ist, jede gerichtliche Todeserklärung gleichermaßen gelten läßt, verpflichtet auch das Amtsermittlungsprinzip den Versicherungsträger grundsätzlich nicht dazu, mehr als die Tatsache der gerichtlichen Todeserklärung festzustellen.

Allerdings ist nicht völlig von der Hand zu weisen, daß dergestalt unter Umständen "von der Willkür der Beteiligten abhängige oder schematische Feststellungen, welche die allgemeiner Lebenserfahrungen mehr als erforderlich außer acht lassen" (BSG. 5 S. 253), die Rentenansprüche Hinterbliebener bestimmen. Kann der Versicherungsträger auch nicht in diesen Fällen der gerichtlichen Todeserklärung mit schematischer Todeszeitpunktfeststellung eine eigene Feststellung des Todeszeitpunkts entgegensetzen, so ist es ihm jedoch auf einem anderen Wege unter Umständen möglich, eine Richtigstellung des schematisch festgesetzten Todeszeitpunkts zu betreiben. Ist nämlich nach Art. 2 § 2 Abs. 3 Satz 1 VerschÄndG als Zeitpunkt des Todes des Verschollenen das Ende des Jahres 1945 festgestellt worden, ohne daß Ermittlungen über die Todeszeit angestellt worden waren, so kann jeder, der ein rechtliches Interesse an der Feststellung einer anderen Todeszeit hat, beantragen, diese Ermittlungen nunmehr anzustellen und die Feststellung zu ändern (Art. 2 § 3 Abs. 1 VerschÄndG). Einer solchen Antragsbefugnis des Versicherungsträgers steht nicht entgegen, daß das "rechtliche Interesse" des Versicherungsträgers an der Einleitung des Todeserklärungsverfahrens (§ 16 Abs. 2 Buchst. c VerschG) in der Rechtsprechung nicht anerkannt ist (vgl. OLG. Düsseldorf vom 25.5.1954 in JMBl. NRW. S. 163 und BGHZ. 4 S. 323 sowie 9 S. 111). In der Tat wäre ein Eingriff Dritter in den innersten Bereich der Familie über den Kopf derer hinweg, die es vor allem angeht, ob ein naher Familienangehöriger für tot erklärt werden soll, nicht unbedenklich. Wesentlich anders liegen die Dinge, wenn der Verschollene bereits für tot erklärt ist. Dann ist die einschneidende Vorentscheidung schon getroffen, die infolge ihrer persönlichen Natur grundsätzlich den unmittelbar Beteiligten vorbehalten ist. Unbedenklich wird man daher mit dem Bundesgerichtshof (Beschl. vom 22.10.1958 in MDR 1959 S. 29; vgl. auch Münzel in MDR 1959 S. 198) den Leistungsverwaltungen, die auf Grund der Todeserklärung in Anspruch genommen werden, das berechtigte Interesse an der Richtigstellung eines schematisch festgesetzten Todeszeitpunkts zuerkennen müssen. So gesehen erscheint die Zweiteilung des Verfahrens nach Art. 2 §§ 2 und 3 VerschÄndG durchaus sinnvoll. Zunächst wird - aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung, aber wohl auch aus der Erfahrung heraus, daß bei vielen Verschollenen des zweiten Weltkrieges eine der Wahrheit nahekommende Feststellung des Todeszeitpunktes gar nicht möglich ist - der Todeszeitpunkt ohne Ermittlungen festgesetzt, wenn kein dementsprechender Antrag gestellt ist; das Verfahren mit diesem vorläufigen Abschluß kann aber - innerhalb einer Ausschlußfrist von fünf Jahren (Art. 2 § 3 Abs. 2 Satz 3 VerschÄndG in Verbindung mit § 33 a Abs. 2 Satz 3 VerschG) - auf Antrag eines Berechtigten mit dem Ziel fortgesetzt werden, den "wahrscheinlichsten" Todeszeitpunkt (§ 3 Abs. 2 Satz 2 VerschÄndG) festzustellen. Damit ist auch der Gefahr begegnet, daß die Angehörigen mit der Todeszeitpunktfeststellung "manipulieren" könnten; denn sie haben nur einen vorläufigen Einfluß auf die Art der Todeszeitpunktfeststellung und müssen es hinnehmen, daß die Todeserklärung, ist das Verfahren erst einmal in Gang gesetzt, auf die Grundlage von Ermittlungen gestellt und der Todeszeitpunkt geändert wird, wenn sich überhaupt ein Zeitpunkt feststellen läßt, "der der wahrscheinlichste ist" (Art. 2 § 3 Abs. 2 Satz 1 VerschÄndG).

4. Zusammenfassend ist somit festzustellen, daß die gerichtliche Todeserklärung mit der durch sie begründeten Vermutung über den Todeszeitpunkt des verschollenen Versicherten für alle vom Tode des Versicherten abhängigen Voraussetzungen der Ansprüche Hinterbliebener maßgebend ist und eine Feststellung des Todestags des Verschollenen durch den Versicherungsträger nach § 1260 Satz 1 RVO a. F. ausschließt.

 

Fundstellen

BSGE, 139

NJW 1960, 2213

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