Verfahrensgang

LSG Berlin (Urteil vom 10.09.1970)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 10. September 1970 wird als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Revision ist nicht statthaft. Sie ist deshalb als unzulässig zu verwerfen (§ 169 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG-).

Da das Berufungsgericht die Revision nicht gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen hat, wäre sie nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel im Verfahren des Berufungsgerichts in einer der Vorschrift des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG entsprechenden Form gerügt worden wäre und vorläge (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SG; BSG 1, 150).

Daran fehlt es aber.

Die Revision rügt, das Landessozialgericht (LSG) sei nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen. Der Vorsitzende des 8. Senats des LSG, Senatspräsident Dr. A …, sei erblindet und habe deshalb keinen visuellen Eindruck von den Beteiligten. Ohne die Person des Senatspräsidenten angreifen zu wollen, sei die Frage aufzuwerfen, ob es bei einem solchen Mangel überhaupt möglich sei, einen schwierigen Sachverhalt im Rahmen einer mündlichen Verhandlung erschöpfend aufzuklären. Der Vorsitzende könne sich nämlich kein eigenes Bild von den Prozeßbeteiligten machen. Seine Prozeßführung stütze sich im wesentlichen auf die Auswertung des schriftlichen Vortrages, was zu einer ungenügenden Unterrichtung der beiden Laienrichter führen könne, die ihr Urteil im wesentlichen nach ihrem Eindruck von der mündlichen Verhandlung fällen müßten. Auch die Vorbereitung des Rechtsstreits, insbesondere das Studium der zu diesem Fall beizuziehenden Entschädigungsakten könnte unter diesem Mangel leiden.

Diese Rüge der Revision, mit der sie ersichtlich, wenngleich ohne die Vorschrift zu nennen, eine Verletzung des § 551 Nr. 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) in Verbindung mit § 202 SGG rügen will, greift nicht durch. Ein LSG ist nur dann nicht vorschriftsmäßig besetzt, wenn ein nach dem Geschäftsplan mitwirkender vorsitzender Richter, eines Senats eines LSG wegen eines Gebrechens nicht oder nicht mehr fähig ist, die ihm obliegenden richterlichen Aufgaben ordnungsgemäß zu erfüllen. Das ist hier nicht der Fall.

Die wesentliche Aufgabe eines Richters besteht darin, ihm zugewiesene Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden. Dies kann er nur, wenn er sich über den jeweiligen Fall in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Gewißheit verschafft. Dazu muß er vorbereitend den Inhalt der Akten studieren. Das im Termin mündlich von den Beteiligten Vorgetragene sowie das Ergebnis einer Beweisaufnahme muß er geistig verarbeiten, ordnen und an den Maßstäben von Recht und Gesetz messen. Zu alledem ist regelmäßig auch der blinde Richter imstande. Zwar ist ihm durch die Blindheit das eigene Lesen unmöglich. Dieser Ausfall läßt sich aber dadurch wettmachen, daß ihm eine zuverlässige und geübte Hilfskraft den Inhalt der Akten und von Schriftstücken, die maßgeblichen Rechtsvorschriften, die Rechtsprechung und das Schrifttum, soweit sie einschlägig sind, vorliest. Daß sich der blinde Richter in diesem Umfang einer solchen Hilfskraft zulässigerweise bedienen darf, ist unbedenklich (vgl. BGH NJW 1963, 1010, hier: 1011). Wenn auch die Blindheit ein besonders eindrucksvolles körperliches Gebrechen ist, vermag doch der blinde Richter diesen körperlichen Mangel erfahrungsgemäß durch gesteigerte geistige Konzentrationsfähigkeit, durch ein besonders geschultes Gedächtnis und Einfühlungsvermögen sowie – wie erwähnt – mit Hilfe anderer Personen (Hilfskräfte) und technischer Mittel voll auszugleichen, so daß er in aller Regel ebenso sein Richteramt auszufüllen vermag wie ein im Sehvermögen nicht beeinträchtigter Richter.

Das trifft nur dann nicht mehr zu, wenn die besonderen Aufgaben des Richters es erfordern, daß er sich pflichtgemäß für die Entscheidung des Falles einen auf persönlicher Wahrnehmung beruhenden Eindruck von dem Aussehen einer Person oder Sache verschaffen muß, so etwa wenn das äußere Verhalten für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Beteiligten oder Zeugen von Bedeutung ist oder bei der notwendigen Einsichtnahme in Urkunden oder bei der Erhebung des Beweises durch Augenschein. In diesem Sinne hat sich für das sozialgerichtliche Verfahren bereits der 11. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in seinem Urteil vom 21. Juli 1965 – 11 RA 208/64 – ausgesprochen (vgl. BSG 23, 184, 185 f. und die dort angegebene Rechtsprechung und das dort angegebene Schrifttum).

Der erkennende Senat folgt dem.

Das hier Gesagte gilt auch für einen Senatspräsidenten als ständigem Vorsitzenden eines Senats eines LSG. Das Kernstück der Aufgaben eines solchen Vorsitzenden (vgl. §§ 34 Abs. 2, 104 bis 112, 120 Abs. 3, 138 Satz 2, 155, 158 Abs. 2, 199 Abs. 2 SGG) ist die Leitung der mündlichen Verhandlung: Er hat die mündliche Verhandlung zu eröffnen, nach dem Aufruf der Sache dafür zu sorgen, daß der Sachverhalt dargestellt wird, den Beteiligten das Wort zu erteilen, das Sach- und Streitverhältnis mit ihnen zu erörtern, auf vollständige Erklärungen sowie darauf hinzuwirken, daß die Beteiligten angemessen und sachdienliche Anträge stellen, Zeugen und Sachverständige zu vernehmen und ggf. zu beeidigen, den beisitzenden Berufsrichtern und Landessozialrichtern sachliche Fragen zu gestatten, die Ordnung in der Sitzung aufrecht zu erhalten, für die Anfertigung einer nach Form und Inhalt dem Gesetz entsprechenden Sitzungsniederschrift zu sorgen und die Verhandlung zu schließen. Diesen Aufgaben ist auch ein blinder Senatsvorsitzender gewachsen, mag er auch bei einzelnen Handlungen auf die Unterstützung durch die sehenden Richter des Senats angewiesen sein, so z.B. bei der Einsichtnahme in Ladungen und Personalpapiere oder bei Vorhaltungen aus den Akten. Demgemäß ist ein Senat eines LSG nur dann ordnungswidrig mit einem blinden Senatsvorsitzenden besetzt, wenn er sich wegen der Entscheidung des Falles einen auf persönlicher Wahrnehmung beruhenden Eindruck von dem Aussehen einer Person oder Sache machen muß. Das wird im allgemeinen im Berufungsverfahren der Sozialgerichtsbarkeit nur vereinzelt der Fall sein.

Die Revision kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, gerade in diesem Fall sei es erforderlich gewesen, daß sich Senatspräsident Dr. A … einen eigenen Eindruck von dem Aussehen einer Person oder Sache habe verschaffen müssen, und deshalb sei das Berufungsgericht nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen. Der Revision scheint ein derartiger Gedankengang vorgeschwebt zu haben, da sie davon spricht, „möglicherweise” habe das LSG aus den Gründen, die die Revision bewogen haben, die ordnungsmäßige Besetzung des Berufungsgerichts anzuzweifeln, „auch gegen § 103 SGG verstoßen”. Sie wirft dem LSG vor, es habe versäumt, den Kläger selbst zu hören. Wenn es den Kläger gehört hätte, habe aufgeklärt werden können, wo die dem Kläger bei beendeter Tätigkeit ausgehändigte Quittungskarte geblieben sei. Durch den persönlichen Eindruck von der Person des jetzt im 74. Lebensjahr stehenden Klägers hätte das LSG auch die Glaubhaftigkeit seiner Angabe feststellen können, daß er ursprünglich an die kurze Tätigkeit als Bauarbeiter nicht gedacht habe. Selbst wenn beiseite gelassen wird, ob die Revision hiermit eine den förmlichen Erfordernissen des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG genügende Rüge erhoben hat, konnte es auf den Eindruck von der Person des Klägers, den die Revision vermißt, nicht ankommen. Denn auch bei einem persönlichen Erscheinen des Klägers hätte sich, wie dies in der Natur der Sache liegt, vom Gericht nicht feststellen lassen, daß der Kläger, wie er behauptet, an Gedächtnisstörungen leidet und deshalb zu unterschiedlichen tatsächlichen Angaben gelangt ist. Derartiges hätte allenfalls, wenn es überhaupt darauf angekommen wäre, durch einen medizinischen Sachverständigen geklärt werden können, nicht aber durch den Eindruck von der Person des Klägers.

Soweit die Revision dem LSG zur Begründung der Rüge, es habe seine Amtsaufklärungspflicht (§ 103 SGG) verletzt, vorbringt, es habe verabsäumt, den Kläger selbst dazu zu befragen, wo die ihm nach beendeter Tätigkeit ausgehändigte Quittungskarte geblieben sei, entspricht dieser Vortrag nicht der Formvorschrift des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG, wonach die Revisionsbegründung bei der Rüge von Verfahrensmängeln außer der verletzten Rechtsnorm die Tatsachen und Beweismittel zu bezeichnen hat, die den Mangel ergeben. Es wäre Sache der Revision gewesen, im einzelnen und genau anzugeben, was der Kläger bei seiner gerichtlichen Anhörung über den Verbleib der genannten Quittungskarte bekunden würde. Das ist aber nicht geschehen. Die gleiche Unbestimmtheit muß die Revision gegen sich gelten lassen, soweit sie dem LSG den Verfahrensverstoß vorwirft, die Ehefrau des Klägers nicht vernommen zu haben. Die Revision schweigt dazu, was die Ehefrau des Klägers im einzelnen hätte bekunden sollen.

Es trifft zwar zu, daß das LSG Alexander Sch …, Wilhelm G … und G …, die der Kläger als Zeugen benannt hatte, nicht als Zeugen vernommen hat. Aber auch in diesem Zusammenhang hat die Revision bei ihrer Rüge, wegen der unterbliebenen Zeugenvernehmung habe das Berufungsgericht seine Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) verletzt, der Formvorschrift des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG nicht die genügende Beachtung geschenkt. Die Revisionsbegründung läßt jede Darlegung vermissen, inwiefern die vom LSG in der Sache angestellten Ermittlungen etwa unvollständig gewesen sind und aufgrund welcher Umstände es von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus gehalten war, die vom Kläger benannten Personen zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts als Zeugen zu hören (SozR SGG § 103 Nr. 14). Der bloße Vortrag, das LSG habe die vom Kläger benannten Zeugen nicht gehört, genügt diesen Anforderungen nicht.

Dem LSG kann auch nicht, wie dies die Revision will, vorgeworfen werden, es hätte die Entschädigungsakten beiziehen müssen, aus denen hervorgehe, daß der Kläger wegen seines schweren Verfolgungsschicksals an Gedächtnisstörungen leide.

Selbst wenn sich dies den genannten Akten entnehmen ließe, brauchte sich das LSG zur Aktenbeiziehung nicht gedrängt zu sehen, weil damit allenfalls der Grund für die Widersprüche aufgedeckt worden, die Tatsache der widersprüchlichen Angaben des Klägers als solche indes nicht ausgeräumt worden wäre.

Eine Auseinandersetzung damit, daß die Revision in den Ausführungen des LSG auf Seite 9 Abs. 3 des angefochtenen Urteils insofern einen Verstoß gegen die Denkgesetze glaubt sehen zu müssen, daß es angenommen hat, der Kläger sei an einer Rentenversicherung für eine Zeit von 5 Monaten im Jahre 1929 nicht interessiert gewesen, erübrigt sich, denn diese Ausführungen tragen ersichtlich die Entscheidung nicht. Sie werden mit den Worten: „Im übrigen” eingeleitet. Das läßt erkennen, daß sie nur als zusätzliche Begründung gedacht waren. Selbst wenn hier das LSG denkgesetzwidrig verfahren wäre, würde davon das Ergebnis seiner Entscheidung nicht betroffen sein.

Schließlich geht die weitere Rüge, das LSG habe gegen die Denkgesetze deshalb verstoßen, weil es dem Kläger „verübelt” habe, daß er sich nicht mehr an den Namen der Baufirma, bei der er vom 15. April bis 15. September 1929 gearbeitet habe, erinnern könne, schon aus tatsächlichen Gründen fehl. Abgesehen davon, daß die Revision nicht angibt, an welcher Stelle seines Urteils das Berufungsgericht dem Kläger das Versagen seines Erinnerungsvermögens „verübelt” haben soll, ist auch dem Gesamtinhalt des Urteils nichts Derartiges zu entnehmen.

Die Kostenentscheidung folgt aus entsprechender Anwendung des § 193 SGG

 

Fundstellen

NJW 1971, 1382

MDR 1971, 522

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