Entscheidungsstichwort (Thema)

sozialgerichtliches Verfahren. Streitwertfestsetzung. Ermittlung des Gegenstandswertes. Kostenfreiheit. Leistungsempfänger. Träger von Strukturanpassungsmaßnahmen

 

Orientierungssatz

Der Träger ist in Streitigkeiten über die Gewährung von Zuschüssen an ihn (hier: im Rahmen von Strukturanpassungsmaßnahmen) Leistungsempfänger iS von § 183 SGG und gem § 116 Abs 2 S 1 BRAGebO ist somit kein Gegenstandswert festzusetzen.

 

Normenkette

SGG § 183 S. 1 Fassung: 2001-08-17, § 197a; BRAGebO § 116 Abs. 1 Fassung: 2001-08-17, Abs. 2 S. 1 Fassung: 2001-08-17, § 134 Abs. 1 S. 2; SGB 1 § 11; SGB 3 § 3; SGB 3 § 21; SGB 3 § 272; SGB 3 §§ 272ff

 

Verfahrensgang

Sächsisches LSG (Urteil vom 19.12.2002; Aktenzeichen L 3 AL 38/02)

SG Chemnitz (Entscheidung vom 08.01.2002; Aktenzeichen S 12 AL 136/00)

 

Tatbestand

Die Beteiligten haben im Ausgangsverfahren über die Förderung eines Arbeitsplatzes im Rahmen einer Strukturanpassungsmaßnahme (§§ 272 ff iVm § 415 Abs 3 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung ≪SGB III≫) gestritten. Die gegen den ablehnenden Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheids erhobene Klage war erstinstanzlich erfolgreich. Das Landessozialgericht hat jedoch das Urteil des Sozialgerichts auf die Berufung der Beklagten aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 19. Dezember 2002).

Die Beteiligten haben im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 27. Juli 2004 (nach von der Klägerin erhobener Revision) zur Beendigung des Rechtsstreits einen Vergleich geschlossen.

Die Klägerin beantragt die Festsetzung des Streitwerts für das Revisionsverfahren auf 34.512,12 €, weil dies dem maximalen Förderungsbetrag für insgesamt 36 Monate entspreche. Die Beklagte hält einen Gegenstandswert von 8.628,02 € für angemessen; höchstens sei jedoch der Gegenstandswert auf die Hälfte des von der Klägerin herangezogenen Betrags anzusetzen.

 

Entscheidungsgründe

Der Antrag der Klägerin ist zurückzuweisen. Die Gebühren sind vom Anwalt als Rahmengebühren nach billigem Ermessen zu bestimmen (§§ 116 Abs 1, 12 Abs 1 Satz 1 Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte ≪BRAGO≫).

Der vorliegende Antrag beurteilt sich nach der BRAGO. Das am 1. Juli 2004 in Kraft getretene Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) ist, obwohl das Revisionsverfahren erst am 27. Juli 2004 beendet worden ist, gemäß § 60 Abs 1 RVG nicht anwendbar. Die BRAGO selbst ist in der ab 2. Januar 2002 geltenden Fassung des Sechsten Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes (6. SGG-ÄndG) vom 17. August 2001 (BGBl I 2144) einschlägig.

Für die Vergütung des Rechtsanwalts in Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit enthält § 116 BRAGO eine abschließende Sonderregelung. Während § 116 Abs 1 BRAGO eine Rahmengebühr vorsieht, regelt Abs 2, wann sich die Anwaltsgebühren abweichend von Abs 1 nach dem Gegenstandswert richten. Eine Festsetzung des Gegenstandswerts kommt nach § 116 Abs 2 Satz 1 BRAGO in der ab 2. Januar 2002 geltenden Fassung jedoch nur in Betracht, wenn der Auftraggeber nicht zu den in § 183 Sozialgerichtsgesetz (SGG) genannten Personen gehört. Diese Vorschrift findet nach § 134 BRAGO in der ab 2. Januar 2002 geltenden Fassung auf den hier zu beurteilenden Antrag auf Festsetzung des Gegenstandswerts Anwendung. Zwar enthält § 134 Abs 1 Satz 1 BRAGO den Grundsatz, dass die Vergütung nach bisherigem Recht zu berechnen ist, wenn der unbedingte Auftrag zur Erledigung derselben Angelegenheit iS des § 13 BRAGO vor dem Inkrafttreten einer Gesetzesänderung erteilt oder der Rechtsanwalt vor diesem Zeitpunkt gerichtlich bestellt oder beigeordnet worden ist. Ob dies vorliegend der Fall war, also die Klägerin ihren Prozessbevollmächtigten den unbedingten Auftrag zur Einlegung einer Revision im Sinne der Vorschrift bereits vor Inkrafttreten des 6. SGG-ÄndG erteilt hat, kann dahinstehen. Denn von dem Grundsatz des § 134 Abs 1 Satz 1 BRAGO weicht § 134 Abs 1 Satz 2 BRAGO für den Fall ab, dass der Rechtsanwalt im Zeitpunkt des Inkrafttretens einer Gesetzesänderung in derselben Angelegenheit und, wenn ein gerichtliches Verfahren anhängig ist, in demselben Rechtszug bereits tätig gewesen war. Die Vergütung für das Verfahren über das Rechtsmittel, das erst nach der Gesetzesänderung eingelegt worden ist, ist dann nach dem neuen Recht zu bestimmen. Dies gilt auch für das vorliegende Verfahren, weil die Revision durch die Prozessbevollmächtigten der Klägerin, die bereits in der Vorinstanz tätig waren, am 26. März 2003, also nach Inkrafttreten des 6. SGG-ÄndG, eingelegt worden ist.

§ 116 Abs 2 Satz 1 BRAGO in der seit 2. Januar 2002 geltenden Fassung ist indes vorliegend nicht anwendbar. Danach ist maßgebend, ob die Klägerin als Auftraggeberin zu den in § 183 SGG genannten Personen gehört. § 116 Abs 2 Satz 1 BRAGO verweist insoweit auf die jeweils aktuell geltende Fassung des § 183 SGG, damit auf die ebenfalls durch das 6. SGG-ÄndG mit Wirkung vom 2. Januar 2002 geänderte Fassung dieser Norm. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Übergangsregelung des Art 17 Abs 1 Satz 2 6. SGG-ÄndG (BSG SozR 3-2500 § 116 Nr 24; SozR 3-2500 § 135 Nr 21; SozR 4-1500 § 183 Nr 1) steht dem nicht entgegen. Denn § 134 BRAGO enthält eine eigenständige Übergangsregelung (so auch BSG, Beschluss vom 22. September 2004 - B 11 AL 33/03 R -, zur Veröffentlichung vorgesehen).

Die Klägerin gehört zu dem durch § 183 SGG nF privilegierten Personenkreis; denn sie ist Leistungsempfänger im Sinne dieser Vorschrift. Dies ergibt sich aus Wortlaut, Systematik und Sinn der Vorschrift über die Kostenfreiheit des sozialgerichtlichen Verfahrens.

Nach dem Wortlaut des § 183 Satz 1 SGG werden außer den Versicherten und Behinderten auch die "Leistungsempfänger einschließlich Hinterbliebenenleistungsempfänger" von den Gerichtskosten des sozialgerichtlichen Verfahrens freigestellt. Klarstellend wird im 2. Halbsatz ausgeführt, es komme auf die jeweilige Eigenschaft als Kläger oder Beklagter an. Der Wortlaut des § 183 Satz 1 SGG lässt es nicht zweifelhaft erscheinen, dass auch Träger iS des SGB III bei Streitigkeiten über die Gewährung von Zuschüssen an sie als Träger - unabhängig davon, ob sie Arbeitgeber sind (vgl zum Begriff des Trägers § 21 SGB III) - als "Leistungsempfänger" zum privilegierten Personenkreis gehören (so zu Arbeitgeberleistungen nach dem SGB III auch BSG, Beschluss vom 22. September 2004 - B 11 AL 33/03 R - zur Veröffentlichung vorgesehen). Dies entspricht der Terminologie und Systematik des SGB III, das Leistungen an Arbeitnehmer, an Arbeitgeber und an Träger kennt (dazu Eicher im Kasseler Handbuch des Arbeitsförderungsrechts, 2003, § 1 RdNr 35). Bei den im SGB III unter diesen Kategorien aufgeführten Leistungen (vgl nur § 3 SGB III) handelt es sich damit auch um Sozialleistungen iS des § 11 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil (SGB I); für die Auslegung des § 183 SGG ist dies jedoch nicht von entscheidender Bedeutung (s auch BSG, Beschluss vom 22. September 2004 - B 11 AL 33/03 R -, zur Veröffentlichung vorgesehen).

Aus der Entstehungsgeschichte des § 183 SGG ergeben sich keine durchgreifenden Argumente gegen diese Auslegung. Zwar ist in der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum 6. SGG-ÄndG zu der korrespondierenden Regelung in § 197a SGG ausgeführt, dass die Anwendung des Gerichtskostengesetzes und bestimmter Vorschriften der Verwaltungsgerichtsordnung für Verfahren geregelt werde, an denen Personen beteiligt seien, die keines besonderen sozialen Schutzes in Form eines kostenfreien Rechtsschutzes bedürften (BT-Drucks 14/5943 S 29). Daran anschließend werden in der Gesetzesbegründung Streitigkeiten von Sozialleistungsträgern untereinander oder Streitigkeiten zwischen Sozialleistungsträgern und Arbeitgebern sowie Vertragsarztverfahren als Beispiele dafür genannt, dass eine Gebührenprivilegierung nach dem auf die Durchsetzung von Sozialleistungsansprüchen ausgerichteten Schutzzweck der Regelung nicht gerechtfertig sei. Die allgemeine Nennung von Streitigkeiten zwischen "Sozialleistungsträgern und Arbeitgebern" ist jedoch kein hinreichender Beleg für eine einschränkende Auslegung des § 183 Satz 1 SGG, weil nicht deutlich wird, ob auch Streitigkeiten über Arbeitgeberleistungen oder sogar Trägerleistungen, die für das SGB III typisch sind, gemeint waren.

Eine Auslegung gegen den Wortlaut widerspräche im Übrigen auch dem mit den Arbeitgeberleistungen und Trägerleistungen des SGB III verfolgten Zweck. Gerade dieser legt es nahe, auch Arbeitgeber und Träger hinsichtlich der damit verbundenen Streitigkeiten nach § 183 SGG gerichtskostenfrei zu stellen. Denn diese Leistungen zielen im Ergebnis nicht auf eine Bereicherung des Arbeitgebers oder Trägers ab, sondern dienen mittelbar der Förderung von förderungsbedürftigen Arbeitnehmern. Dann ist es aber auch gerechtfertigt, Träger oder Arbeitgeber im Zusammenhang mit Streitigkeiten über die Gewährung von Förderleistungen durch die Bundesagentur für Arbeit nicht mit Gerichtskosten zu belasten. Damit entfällt auch für den Anwalt die Möglichkeit, nach Gegenstandswert (§ 116 Abs 2 BRAGO) abzurechnen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2347568

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