Leitsatz (amtlich)

Bei einem der Klage stattgebenden Urteil sind in den Entscheidungsgründen die angewandte Rechtsnorm und die für erfüllt erachteten Tatbestandsmerkmale anzugeben, sofern nicht auch ohne solche Ausführungen klar ist, um welche Norm und welche Tatbestandsmerkmale es sich handelt.

 

Normenkette

SGG § 136 Abs 1 Nr 6 Fassung: 1953-09-03, § 160 Abs 2 Nr 3 Fassung: 1974-07-30, § 202 Fassung: 1953-09-02; ZPO § 313 Abs 3

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 25.10.1983; Aktenzeichen L 18 An 21/82)

SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 25.11.1981; Aktenzeichen S 7 An 217/80)

 

Gründe

Die Revision war gemäß § 160a iVm § 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zuzulassen, weil die Beklagte in ihrer Nichtzulassungsbeschwerde einen Verfahrensmangel geltend gemacht hat, auf dem das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) beruhen kann. Sie rügt mit Recht eine Verletzung der Verfahrensvorschrift des § 136 Abs 1 SGG. Dieser bestimmt, was "das Urteil enthält", nach Nr 6 gehören dazu "die Entscheidungsgründe". Was hierunter zu verstehen ist, ergibt der entsprechend anwendbare § 313 Abs 3 Zivilprozeßordnung (ZPO); "die Entscheidungsgründe enthalten" danach "eine kurze Zusammenfassung der Erwägungen, auf denen die Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht". Wie der Senat bereits entschieden hat (SozR 1500 § 136 Nr 1), ist deshalb bei einem den Klageanspruch verneinenden Urteil darzulegen, daß die rechtserheblichen Anspruchsvoraussetzungen fehlen (dort zur Verneinung von Berufsunfähigkeit). Umgekehrt ist bei einem der Klage stattgebenden Urteil auszuführen, daß die rechtserheblichen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind. Zum Mindestinhalt hierfür gehört die Angabe der angewandten Rechtsnorm und der für erfüllt erachteten Tatbestandsmerkmale (Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 41. Aufl § 313 Anm 7B). Darauf kann nur dann verzichtet werden, wenn auch ohne solche Ausführungen klar ist, um welche Norm und welche Tatbestandsmerkmale es sich handelt.

Im vorliegenden Fall kam das LSG nach der Beweiswürdigung zu dem Ergebnis, es bleibe nur der Schluß übrig, daß "die Versicherungsunterlagen entweder bei der Beklagten oder an anderer Stelle verlorengegangen sind"; möglich sei auch, daß sie bei der Beklagten falsch abgelegt und daher nicht mehr auffindbar seien; auch sei nicht auszuschließen, daß die Versicherungsunterlagen infolge einer solchen falschen Ablage in den Teil des Kartenarchivs gelangt seien, der durch Kriegseinwirkung vernichtet worden ist, "so daß der Senat keine Bedenken hatte, die Verordnung über die Feststellung von Leistungen aus den gesetzlichen Rentenversicherungen bei verlorenen, zerstörten, unbrauchbar gewordenen oder nicht erreichbaren Versicherungsunterlagen (VuVO) anzuwenden".

Diese Ausführungen beziehen sich erkennbar auf den (nicht genannten) § 1 der VuVO. Er bestimmt in mehreren Alternativen, unter welchen Voraussetzungen es für die Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen, zu deren Nachweis die Versicherungsunterlagen dienen, genügt, daß diese Tatsachen glaubhaft gemacht sind. Das ist nach Abs 1 Satz 1 der Fall, wenn die Versicherungsunterlagen fehlen, die von einem Versicherungsträger aufzubewahren sind, dessen Karten- oder Kontenarchiv vernichtet oder nicht erreichbar ist. Ist das Karten- oder Kontenarchiv des Versicherungsträgers - wie bei der Beklagten - nur teilweise vernichtet, findet nach Abs 2 der Abs 1 Satz 1 nur Anwendung, wenn die Unterlagen in dem vernichteten Teil aufzubewahren gewesen sind. Die Glaubhaftmachung der in Abs 1 Satz 1 genannten Tatsachen ist nach Abs 1 Satz 2 außerdem zugelassen, wenn glaubhaft gemacht ist, daß die Quittungs- oder Versicherungskarte beim Arbeitgeber oder Versicherten oder nach den Umständen des Falles auf dem Wege zum Versicherungsträger zerstört, verlorengegangen oder unbrauchbar geworden ist.

Aus dem Urteil des LSG ergibt sich nicht, welche der - von der Beklagten hier sämtlich nicht für gegeben erachteten - Alternativen des § 1 VuVO das LSG für erfüllt angesehen, welche in § 1 VuVO enthaltene Teilregelung es mithin angewandt hat. Das LSG hat weder eine angewandte Alternative bezeichnet, noch läßt sich aus den Urteilsgründen oder sonst Klarheit darüber gewinnen. Das Urteil gibt nur Vermutungen Raum; die Entscheidungsgründe sollen den Beteiligten jedoch Gewißheit über die zugrunde gelegte Rechtsnorm (Teilrechtsnorm) verschaffen. Deshalb hätte das LSG, falls es etwa die Regelung des § 1 VuVO im Wege der Analogie auf einen weiteren dort nicht genannten Tatbestand hätte erstrecken wollen, auch dies in den Entscheidungsgründen deutlich machen müssen.

Das Urteil kann iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG auf dem Verfahrensmangel beruhen. Dabei läßt der Senat erneut (vgl SozR 1500 § 136 Nr 1) offen, ob die der Vorschrift des § 136 Abs 1 Nr 6 SGG nicht genügende Urteilsbegründung immer auch einen absoluten Revisionsgrund iS des § 551 Nr 7 ZPO ("Entscheidung nicht mit Gründen versehen") iVm § 202 SGG bildet, so daß die Ursächlichkeit der Gesetzesverletzung für das Urteil unwiderleglich zu vermuten wäre. Denn auch wenn man das verneint, läßt sich nicht ausschließen, daß das Urteil des LSG auf dem gerügten Verfahrensmangel beruhen kann. Dem läßt sich nicht entgegenhalten, daß der - hier nach mündlicher Verhandlung - gefüllte Urteilsspruch nicht mehr durch Mängel bei der späteren Abfassung des schriftlichen Urteils berührt werden könne. Insoweit muß berücksichtigt werden, daß die schriftlichen Entscheidungsgründe die zum Urteilsspruch führenden Erwägungen wiederzugeben haben. Von Mängeln, die in der Urteilsbegründung erkennbar werden (etwa mangelnde Gerichtskunde usw), ist regelmäßig daher anzunehmen, daß sie auch Mängel bei den Erwägungen auf dem Wege zum Urteilsspruch gewesen sind. Demzufolge ist nicht auszuschließen, daß das LSG schon bei der Urteilsfindung von keiner klaren Auffassung über die hier anzuwendende Alternative des § 1 VuVO ausgegangen ist; hiervon kann der Urteilsspruch beeinflußt worden sein.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1655198

Breith. 1984, 915

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