Entscheidungsstichwort (Thema)

Herausnahme eines Kindes aus der Pflegefamilie. Grundsätze der Gesamtabwägung von Kindeswohl und dem Recht der leiblichen Eltern

 

Leitsatz (amtlich)

Bei der Abwägung zwischen dem Recht der leiblichen Eltern und dem Kindeswohl im Rahmen von Entscheidungen gem. § 1632 Abs. 4 BGB darüber, ob ein Kind bei der Pflegefamilie verbleiben soll, ist es von Bedeutung, ob das Kind wieder in seine Familie zurückkehren soll oder ob nur ein Wechsel der Pflegefamilie beabsichtigt ist.

 

Normenkette

BGB § 1632 Abs. 4, § 1666

 

Verfahrensgang

AG Frankfurt (Oder) (Beschluss vom 22.07.2005; Aktenzeichen 5.0 F 182/05)

 

Tenor

Die Beschwerde des Jugendamtes der Stadt F. gegen den Beschluss des AG Frankfurt/O. vom 22.7.2005 wird zurückgewiesen.

Das Beschwerdeverfahren ist gerichtsgebührenfrei. Das Jugendamt der Stadt F. hat die außergerichtlichen Kosten der Pflegeeltern und der Mutter zu erstatten.

Der Beschwerdewert wird auf 3.000 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Die Beschwerde des Jugendamtes der Stadt F. ist gem. § 621e ZPO zulässig, da die angefochtene Verbleibensanordnung des AG gem. § 1632 Abs. 4 BGB eine Endentscheidung über Familiensachen i.S.d. § 621 Abs. 1 Nr. 1 ZPO darstellt (vgl. Zöller/Philippi, ZPO, 25. Aufl., § 621e Rz. 15 sowie § 621 Rz. 38; Johannsen/Henrich/Sedemund/Treiber, Eherecht, 4. Aufl., § 621e ZPO Rz. 3 sowie § 23b GVG Rz. 28; Verfahrenshandbuch Familiensachen - FamVerf-/Schael, § 3 Rz. 87).

II. Die Beschwerde ist unbegründet. Nach § 1632 Abs. 4 BGB kann das FamG, wenn das Kind seit längerer Zeit in Familienpflege lebt und die Eltern das Kind von der Pflegeperson wegnehmen wollen, von Amts wegen oder auf Antrag der Pflegeperson anordnen, dass das Kind bei der Pflegeperson verbleibt, wenn und solange das Kindeswohl durch die Wegnahme gefährdet würde. Die Voraussetzungen für eine solche Anordnung liegen hier vor.

1. Ein Fall der Familienpflege ist gegeben. Die Vorschrift des § 1632 Abs. 4 BGB ist auch dann anwendbar, wenn das Kind, wie hier, bereits aus seiner bisherigen Pflegestelle herausgenommen wurde (OLG Frankfurt v. 19.5.1983 - 20 W 207/83, FamRZ 1983, 1164; Palandt/Diederichsen, BGB, 64. Aufl., § 1632 Rz. 12). Auf die Frage, ob das Pflegeverhältnis wirksam beendet wurde, kommt es nicht an (vgl. FamVerf/Schael, § 3 Rz. 86; Palandt/Diederichsen, BGB, 64. Aufl., § 1632, Rz. 12).

2. Die Familienpflege besteht seit längerer Zeit. Dieses Kriterium ist nicht nur nach zeitlichen Maßstäben zu beurteilen, sondern auch danach, ob das Kind in der Pflegefamilie seine Beziehungswelt gefunden hat (BayObLG v. 25.6.1985 - BReg.1 Z 36/85, FamRZ 1985, 1175; FamVerf/Schael, § 3 Rz. 86; Palandt/Diederichsen, BGB, 64. Aufl., Rz. 13). Davon ist, da sich die beiden Kinder K. und D. seit Mai 2003 und damit seit mehr als zwei Jahren bei der Pflegefamilie B. befinden, auszugehen.

3. Der Verbleibensanordnung steht nicht entgegen, dass vorliegend nicht die leiblichen Eltern, sondern das Jugendamt die Kinder aus der Pflegefamilie abgeholt hat. Die Vorschrift des § 1632 Abs. 4 BGB findet nicht nur dann, wenn die leiblichen Eltern die Kinder aus der Pflegefamilie wegnehmen wollen Anwendung, sondern zum Schutz der Pflegeeltern auch dann, wenn die Herausgabe durch einen dazu berechtigten Vormund oder Pfleger droht (Palandt/Diederichen, BGB, 64. Aufl., Rz. 14). Vorliegend hat das Jugendamt der Stadt F. zwar keinen eigenen Herausgabeanspruch, da die Mutter die Kinder von sich aus in Pflege gegeben hat und nach wie vor alleinige Inhaberin der elterlichen Sorge ist. Da die Mutter aber mit der Vorgehensweise des Jugendamtes, nämlich mit der Herausnahme der Kinder aus der Pflegefamilie und der Unterbringung im "Haus H." einverstanden war und ist, können die Pflegeeltern Schutz vor einer Herausnahme durch das Jugendamt auch im Wege der Verbleibensanordnung nach § 1632 Abs. 4 BGB in Anspruch nehmen.

4. Schließlich wird vorliegend das Kindeswohl durch die Wegnahme aus der Pflegefamilie gefährdet. Dabei ist von folgenden Grundsätzen auszugehen.

Es entspricht grundsätzlich dem Kindeswohl, wenn sich ein Kind in der Obhut seiner Eltern befindet. Denn die Erziehung und Betreuung eines minderjährigen Kindes durch Mutter und Vater innerhalb einer harmonischen Gemeinschaft gewährleistet am ehesten, dass das Kind zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit heranwächst. Dieser Idealzustand ist aber nicht immer gegeben und liegt dann nicht vor, wenn Kinder in einer Pflegefamilie aufwachsen. Dabei kann die Begründung des Pflegeverhältnisses auf einem freiwilligen Entschluss der Eltern oder des allein sorgeberechtigten Elternteils beruhen. Häufig wird es jedoch behördlich angeordnet sein. Unabhängig von der Art ihres Zustandekommens ist in Übereinstimmung mit dem Elternrecht gem. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG anzustreben, Pflegeverhältnisse nicht so zu verfestigen, dass die leiblichen Eltern mit der Weggabe in nahezu jedem Fall den dauernden Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie befürchten müssen (BVerfG v. 14.4.1987 - 1 BvR 332/86, MDR 1987, 813 = ...

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