Rn 114

Entgegen den bei Inkrafttreten der InsO aufgestellten Prognosen hat sich in der Insolvenzpraxis ein Standard dahingehend eingestellt, dass von der Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbots nach Abs. 2 Nr. 2 in Verbindung mit einer vorläufigen Insolvenzverwaltung nur in seltenen Fällen Gebrauch gemacht wird. Dies beruht auf den oben bereits angesprochenen[310] und von der Praxis sehr schnell erkannten Problemen bzw. Haftungsrisiken bei einer vorläufigen Insolvenzverwaltung mit Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis, die sich dann aus §§ 25 Abs. 2, 55 Abs. 2, Abs. 4, 61 ergeben. Die Gerichtspraxis hat also die im Vergleich zum bisher geltenden Recht stark differenzierte Regelung der einzelnen Maßnahmen in § 21 angenommen und ist sich offenbar der Pflicht bewusst, stets die Erforderlichkeit der einzelnen ins Auge gefassten Sicherungsmaßnahmen zu prüfen. Dazu ist aber naturgemäß die Kenntnis des Insolvenzgerichts von den beim Schuldner herrschenden Einzelumständen erforderlich. Zur Erlangung dieser Kenntnis hat sich das sog. Gutachtermodell entwickelt.[311] Danach sollte bei Vorliegen eines zulässigen Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens zunächst kurzfristig ein Sachverständiger bestellt werden mit dem Auftrag festzustellen, welche Sicherungsmaßnahmen unter Berücksichtigung der konkreten Vermögensverhältnisse des Schuldners erforderlich sind, um bis zur Entscheidung über den Insolvenzantrag eine für die Gläubiger nachteilige Veränderung der Vermögenslage des Schuldners zu verhindern. Daneben kann der Sachverständige gleichzeitig mit der Überprüfung beauftragt werden, ob beim Schuldner ein Insolvenzgrund vorliegt und welche Aussichten für eine Fortführung des Schuldnerunternehmens bestehen. Außerdem kann vom Insolvenzgericht nach § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 eine Einstellung bzw. Untersagung von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen gegen den Schuldner erfolgen. Dabei sollten die Ermittlungen des Sachverständigen zur Erforderlichkeit weiterer Sicherungsmaßnahmen kurzfristig, d.h. innerhalb weniger Stunden oder weniger Tage erfolgen. Zweckmäßig ist hier eine kurze Fristsetzung durch das Gericht. Um flexibler reagieren zu können, kann der Sachverständige auch kurzfristig telefonisch die Verhängung weiterer Sicherungsmaßnahmen anregen. Die Zulässigkeit eines solchen abgestuften Vorgehens ergibt sich sowohl aus § 5 Abs. 1 Satz 2 als auch aus der Generalklausel des § 21 Abs. 1. Da dem Sachverständigen nicht automatisch die Rechte nach § 22 Abs. 3 zustehen, müssen ihm diese Befugnisse nach § 20, § 21 Abs. 1 durch das Insolvenzgericht in dem Bestellungsbeschluss ausdrücklich übertragen werden, um ein effektives Vorgehen zu ermöglichen. Das Insolvenzgericht ist im Antragsverfahren aber nicht befugt, den mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragten Sachverständigen im Ernennungsbeschluss zu ermächtigen, entsprechend § 22 Abs. 3 Satz 1 die Wohn- und Geschäftsräume des Schuldners zu betreten und dort Nachforschungen anzustellen.[312]

 

Rn 115

Neben diesem Vorgehen hat sich verbreitet die gerichtliche Übung eingestellt, zur Vermeidung der Probleme aus § 55 Abs. 2, § 61 zwar eine vorläufige Insolvenzverwaltung, aber kein allgemeines Verfügungsverbot anzuordnen. In der Mehrheit der Fälle wird dabei die vorläufige Insolvenzverwaltung bis auf wenige offenbar geeignete bzw. unproblematische Ausnahmefälle mit einem allgemeinen oder spezifischen Zustimmungsvorbehalt nach § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 kombiniert und die Rechtsstellung des vorläufigen Insolvenzverwalters ansonsten den Befugnissen des "starken" Verwalters in § 22 Abs. 1 angenähert (sog. "halbstarke" vorläufige Insolvenzverwaltung).[313] Ergänzt werden sollte eine solche "schwache" Insolvenzverwaltung um einen Auftrag an den vorläufigen Verwalter, gleichzeitig als Sachverständiger zu prüfen, ob beim Schuldner ein Insolvenzgrund vorliegt, sein Vermögen die Kosten des Verfahrens decken wird und welche Aussichten für eine Fortführung des Schuldnerunternehmens bestehen. Da bei Anordnung einer "schwachen" vorläufigen Insolvenzverwaltung die als haftungsträchtig erkannten Masseverbindlichkeiten nach § 55 Abs. 2 vermieden werden, bleibt das Problem bestehen, Wege zu finden, rechtzeitig vor Verfahrenseröffnung die durch den vorläufigen Verwalter veranlassten Verbindlichkeiten zu begleichen, die nach Verfahrenseröffnung bloße Insolvenzforderungen nach § 38 darstellen. Dieses Dilemma kann auch nicht durch die gerichtliche Ermächtigung des Insolvenzverwalters beseitigt werden, "mit rechtlicher Wirkung für den Schuldner zu handeln", da eine solche Ermächtigung eines sogenannten "schwachen" vorläufigen Insolvenzverwalters unzulässig ist.[314] Zulässig sind dagegen in solchen Fällen gerichtliche Einzelermächtigungen des vorläufigen Verwalters, in dem jeweils konkret bestimmten Zusammenhang zu Lasten des Schuldnervermögens Masseverbindlichkeiten in einem später eröffneten Verfahren zu begründen. Sie können als flexibles Instrument auch im Wege einer Bündel- oder Projektermäc...

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