Leitsatz (amtlich)

›Der Grundsatz, daß sich der Krankenhausträger bei einem Lagerungsschaden von einer Fehlervermutung entlasten muß, gilt nicht, wenn bei dem Patienten eine ärztlicherseits nicht im voraus erkennbare, extrem seltene körperliche Anomalie vorliegt, die ihn für den eingetretenen Schaden anfällig gemacht hat.‹

 

Verfahrensgang

LG Bielefeld

OLG Hamm

 

Tatbestand

Der Klägerin wurde in der chirurgischen Klinik des vom Beklagten getragenen Kreiskrankenhauses H. am 14. April 1988 in Narkose ein gutartiger Knoten aus dem linken Schilddrüsenlappen entfernt. Zwischen In- und Extubation lagen 65 Minuten. Der auf einem Ausleger mit mehreren Verstellmöglichkeiten fixierte rechte Infusionsarm und der linke Arm der Klägerin waren bei der Operation abgespreizt. Nach der Operation wurde bei der Klägerin eine Armplexusparese rechts mit Betonung der unteren Plexusanteile diagnostiziert.

Mit der Behauptung, die Armplexusparese sei Folge einer auf eine falsche Lagerung des rechten Armes zurückzuführenden Nervenläsion, begehrt die Klägerin von dem Beklagten den Ersatz ihres materiellen Schadens von zusammen 65.114,64 DM, Zahlung eines Schmerzensgeldes für die Zeit bis zur Rechtshängigkeit sowie die Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz des künftigen materiellen und immateriellen Schadens.

Das Landgericht hat durch Grund- und Teilurteil den Beklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 50.000 DM verurteilt und die Klage auf Zahlung eines weitergehenden Schmerzensgeldes abgewiesen; ferner hat es festgestellt, daß der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin allen weiteren materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen oder übergegangen sind.

Das Oberlandesgericht hat die Klage abgewiesen. Mit der Revision erstrebt die Klägerin die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.

 

Entscheidungsgründe

I. Das Berufungsgericht sieht nicht als erwiesen an, daß die Plexusparese durch einen Behandlungsfehler der bei der Operation tätigen Ärzte, des mit ihrer Lagerung befaßten nichtärztlichen Personals oder durch ein vom Beklagten zu vertretendes Versagen technischer Geräte verursacht worden ist. Die bei der Operation vorgenommene Auslagerung des Infusionsarmes als solche sei nicht fehlerhaft gewesen. Allerdings hält das Berufungsgericht für bewiesen, daß die Plexusparese ohne die Auslagerung des Armes nicht eingetreten wäre. Da die richtige Lagerung des Armes während der Operation von den beteiligten Ärzten und dem sonstigen Personal uneingeschränkt beherrschbar sei, könne der Beweis des ersten Anscheins zwar grundsätzlich für eine Verursachung der Plexusläsion durch einen Behandlungsfehler sprechen. Bei der Klägerin habe nach den Ausführungen der Sachverständigen K. aber schon vor der Operation eine bis dahin nicht erkannte, denkbar seltene - in einem Verhältnis von 1:1.000.000 anzunehmende - Prädisposition für eine Plexusparese, ein sog. thoracic-outlet-Syndrom vorgelegen. Damit verbiete sich der Schluß, daß die für die Nervenläsion mitursächliche Auslagerung mit hoher Wahrscheinlichkeit fehlerhaft vorgenommen worden sei. Unter diesen Umständen gehe es nicht zu Lasten des Beklagten, daß er den Beweis für den Ausschluß aller beherrschbaren Risiken nicht erbracht habe.

Beweiserleichterungen wegen mangelhafter Dokumentation kämen der Klägerin nicht zugute, da die Wahl und Kontrolle des Ablagerungswinkels nicht dokumentationspflichtig seien.

II. Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision im Ergebnis nicht stand.

1. Grundsätzlich hat der Patient einen Behandlungsfehler des Arztes, aus dem er Schadensersatzansprüche gegen den Krankenhausträger herleitet, sowie dessen Ursächlichkeit für den bei ihm aufgetretenen Gesundheitschaden zu beweisen. Nur ausnahmsweise kann er dabei Beweiserleichterungen nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen für sich in Anspruch nehmen. Im Streitfall kommen der Klägerin, wie das Berufungsgericht zu Recht angenommen hat, keine Beweiserleichterungen zugute.

a) Zutreffend weist die Revision darauf hin, daß sich der Krankenhausträger in Umkehr der Beweislast analog § 282 BGB entlasten muß, wenn der Gesundheitsschaden des Patienten sich in einem Bereich ereignet hat, dessen Gefahren vom Klinikpersonal voll beherrscht werden können und müssen (Senatsurteile vom 24. Januar 1984 - VI ZR 203/82 - VersR 1984, 386, 387 und vom 8. Januar 1991 - VI ZR 102/90 - VersR 1991, 467, 468). Das gilt auch für die ordnungsgemäße Lagerung des Patienten auf dem Operationstisch und deren Überprüfung während der Operation zur Vermeidung von sog. Lagerungsschäden (Senatsurteil vom 24. Januar 1984 aaO.; OLG Köln VersR 1991, 695, 696 i.V.m. NA-Beschluß des Senats vom 20. November 1990 - VI ZR 152/90, vgl. auch Senatsurteil vom 26. Februar 1985 - VI ZR 124/83 - VersR 1985, 639, 640). Grundsätzlich obliegt dem in Anspruch genommenen Krankenhausträger der Beweis dafür, daß ein Lagerungsschaden nicht durch eine falsche Lagerung des Arms während der Operation oder ein Versagen technischer Geräte entstanden ist. Davon geht im Prinzip auch das Berufungsgericht aus, wenn es im Streitfall auch nicht eine Umkehr der Beweislast annimmt, sondern nur die Anwendung des Anscheinsbeweises für möglich hält.

Im Streitfall ist indessen für eine Anwendung dieser Grundsätze kein Raum, denn bei der Klägerin lag nach der von der Revision nicht beanstandeten Feststellung des Berufungsgerichts ein sehr selten vorkommendes sog. thoracicoutlet-Syndrom vor, das sie für eine Plexusparese auch bei einer fehlerfreien Ablagerung des Arms anfällig machte. Mit dieser Prädisposition hat sie einen Risikofaktor in das Operationsgeschehen eingebracht, der zu der Nervenläsion geführt haben kann. Er machte das Schadensfeld zu einem Gefahrenbereich, der ärztlicherseits nicht mehr uneingeschränkt beherrscht werden konnte.

Eine Ausdehnung der Beweislastumkehr auf Fälle der vorliegenden Art kommt nach Auffassung des Senats nicht in Betracht. Die Beweislastumkehr bei Lagerungsschäden beruht darauf, daß bei der Lagerung des Patienten während der Operation auch die Risikofaktoren, die sich etwa aus seiner körperlichen Konstitution ergeben, ärztlicherseits eingeplant und dementsprechend ausgeschaltet werden können und es deshalb Sache der Behandlungsseite ist, zu erklären, warum es gleichwohl zu einem Lagerungsschaden gekommen ist. Die vorliegende Fallgestaltung würde diese Beweislastumkehr nur rechtfertigen, wenn die verantwortlichen Ärzte auch die anatomische Besonderheit der Klägerin hätten in Rechnung stellen und die Armlagerung darauf einstellen können. Dem stehen indes, worauf das Berufungsgericht zu Recht abhebt, die Ausführungen der Sachverständigen Dr. K. entgegen, nach denen das thoracic-outlet-Syndrom extrem selten ist (1:1.000.000). Liegt eine derart seltene und mit vertretbarem Aufwand nicht vorab aufdeckbare Anomalie vor, was zur Beweislast der Behandlungsseite steht, so ist das damit verbundene Risiko für sie nicht mehr uneingeschränkt beherrschbar und deshalb für eine Umkehr der Beweislast kein Raum.

b) Auch wegen angeblich unzureichender Dokumentation stehen der Klägerin keine Beweiserleichterungen zu. Über die korrekte Lagerung des Arms und die vor und während der Operation vorgenommenen Kontrollen fehlt es zwar an einer Dokumentation. Jedoch hält das Berufungsgericht für bewiesen, daß in der Klinik des Beklagten grundsätzlich ein Abduktionswinkel von weniger als 90 Grad gewählt und die tatsächliche Einstellung dieses Winkels durch den Anästhesisten überprüft und der Infusionsarm während der Operation grundsätzlich beobachtet werde. Die tatsächliche Durchführung derartiger Kontrollen gehört, wie das Berufungsgericht zu Recht annimmt, zu den Routinemaßnahmen, die entgegen der Auffassung der Revision keiner Dokumentation bedürfen (Senatsurteil vom 24.1.1984 aaO. S. 387), mögen sie im Einzelfall für den reibungslosen Ablauf der Operation und die Sicherheit des Patienten auch von großer Bedeutung sein. Aus dem Urteil des Senats vom 23. März 1993 - VI ZR 26/92 - VersR 1993, 836, auf das sich die Revision bezieht, ergibt sich nichts anderes.

2. Da die Klägerin danach keine Beweislastumkehr oder sonstige Beweiserleichterungen für sich in Anspruch nehmen kann, obliegt ihr im Streitfall der volle Beweis dafür, daß die Plexusparese auf einen vom Beklagten zu vertretenden Fehler zurückzuführen ist.

Diesen Beweis hat die Klägerin nach Auffassung des Berufungsgerichts nicht erbracht. Insbesondere sieht das Berufungsgericht nicht als erwiesen an, daß den an der Operation beteiligten Ärzten oder dem mit der Lagerung befaßten Klinikpersonal ein Behandlungsfehler, auf dem der Nervenschaden der Klägerin beruht, zur Last fällt. Dabei legt es zugrunde, daß der in der Klinik des Beklagten für einen Eingriff an der Schilddrüse grundsätzlich gewählte Armablagerungswinkel von weniger als 90 Grad medizinisch vertretbar sei. Die Revision rügt zu Recht, daß diese Feststellung von den Ausführungen der gerichtlichen Sachverständigen nicht getragen wird und dazu weitere Aufklärung notwendig ist.

Bisher hat keiner der beiden Sachverständigen klar erklärt, welcher Abduktionswinkel zur Vermeidung von Armplexusschäden üblich ist und dem medizinischen Standard entspricht. Der Sachverständige Prof. Dr. R. hat zunächst sogar die Auslagerung der Arme mit einem Winkel von 80 bis 90 Grad aus chirurgischer Sicht für nicht erforderlich, sondern wegen des schlechten Zugangs zum Hals eher als unerwünscht erachtet. Später hat er eingeräumt, daß an einigen Kliniken bei Operationen dieser Art der Arm des Patienten ausgelagert werde und es dabei zu keiner höheren Zwischenfallsrate komme. Er hat jedoch zu keiner Zeit Ausführungen darüber gemacht, wie groß der Abduktionswinkel sein müsse, um Plexusschäden auszuschließen. Die Sachverständige Dr. K. hat zwar erklärt, bei einem kritischen Winkel von 90 Grad bestehe das Risiko einer Armplexusläsion. Sie hat aber auch darauf hingewiesen, daß prophylaktisch ein Abduktionswinkel von 70 bis 80 Grad nicht überschritten werden sollte. Auch daraus geht nicht klar hervor, welcher Winkel bei derartigen Operationen dem medizinischen Standard entspricht. Bei dieser Sachlage ist die Feststellung des Berufungsgerichts, die grundsätzliche Wahl eines Abduktionswinkels "von weniger als 90 Grad" sei medizinisch vertretbar, ohne ausreichendes Fundament.

III. Nach alledem muß das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden, damit die notwendige Aufklärung zu der Frage, ob in der Wahl des Abduktionswinkels ein Behandlungsfehler liegt, nachgeholt werden kann.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2993314

NJW 1995, 1618

BGHR BGB § 823 Abs. 1 Arzthaftung 92

DRsp I(125)436e

MDR 1995, 579

VersR 1995, 539

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge