Leitsatz (amtlich)

Auch der Chefarzt einer organisatorisch nicht selbständigen Klinik ist, wenn er im medizinischen Bereich weisungsfrei ist, hinsichtlich der Haftung für von ihm begangene Behandlungsfehler als verfassungsmäßig berufener Vertreter der das Krankenhaus tragenden Körperschaft zu betrachten (teilweise Aufgabe von BGHZ 1, 383; 4, 138, 152).

 

Normenkette

BGB §§ 31, 89, 823

 

Verfahrensgang

OLG Oldenburg (Oldenburg) (Urteil vom 31.03.1978)

LG Osnabrück

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des 6. Zivilsenats des Oberlandesgerichts in Oldenburg vom 31. März 1978 wird zurückgewiesen.

Die Kosten der Revision fallen der Beklagten zur Last.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Nach der Geburt der Klägerin am … wurde ein Tumor im Bereich des rechten Unterkiefers, Ohres und der Claviculargrube festgestellt. Sie wurde deshalb alsbald in das Kinderhospital der beklagten Stadt eingeliefert. Von da wurde sie am 11. September 1973 in die chirurgische Klinik der städtischen Krankenanstalten zur operativen Behandlung verlegt. Dort entfernte der Chefarzt und frühere Zweitbeklagte am 13. September 1973 den Tumor. Die pathologische Untersuchung ergab ein nichtmalignes Lymphangiom.

Da die Geschwulst in den folgenden Wochen nachwuchs, riet der frühere Zweitbeklagte zu einer Neuoperation und führte diese am 6. Dezember 1973 durch. Nach Entlassung der Klägerin am 21. Dezember 1973 bemerkten deren Eltern, die seitens der Klinik darauf nicht hingewiesen worden waren, daß die rechte Gesichtshälfte des Kindes kein Mienenspiel aufwies und weitgehend starr war. Der schließlich deshalb konsultierte Spezialist Professor Dr. M. in G. stellte eine Durchtrennung des Facialisstammes fest. Da er die Enden nicht aufzufinden vermochte, verzichtete er schließlich auf den Versuch einer Wiederherstellung, um die noch kleine Klägerin nicht mit einer allzu langwierigen Operation zu belasten. Er empfahl eine zweite, umfangreichere Operation in zwei bis drei Jahren; diese hat bisher nicht stattgefunden.

Die Klägerin behauptet, daß dem Zweitbeklagten ein Behandlungsfehler unterlaufen sei, weil er das Durchtrennen des Facialisstammes nicht durch dessen Freilegung verhütet habe. Eine Radikaloperation unter Opferung des Facialis (auf die sich der Zweitbeklagte zeitweise berufen hatte) sei ohnehin nicht vertretbar gewesen. Außerdem habe der schadensursächliche Eingriff nicht auf einer wirksamen Einwilligung ihrer Eltern beruht, weil diese nicht auf die Gefahr der Nervschädigung und auf die Alternative einer schonenderen Operation hingewiesen worden seien.

Auf die Klage hat das Landgericht der Klägerin für die zurückliegende Zeit gegenüber der beklagten Stadt ein Schmerzensgeld von 10.000 DM zugesprochen und festgestellt, daß die Beklagte auch künftigen materiellen und immateriellen Schaden der Klägerin zu ersetzen habe. Die Klage gegen den Zweitbeklagten hat es abgewiesen, weil für ihn, wie es meinte, gemäß Art. 34 GG die Stadt einzustehen habe.

Die Klägerin legte gegen dieses Urteil kein Rechtsmittel ein. Die Berufung der beklagten Stadt blieb ohne Erfolg. Mit ihrer Revision erstrebt sie weiterhin Klagabweisung.

 

Entscheidungsgründe

Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, daß der Chefarzt der chirurgischen Klinik, auch wenn er Beamter war, nicht hoheitlich, sondern im fiskalischen Bereich tätig geworden ist, als er die Klägerin behandelte. Dies entspricht seit BGHZ 4, 138 ständiger Rechtsprechung (zuletzt BGHZ 63, 265, 270) und ist auch zwischen den Parteien nicht mehr umstritten (vgl. auch Daniels NJW 1972, 307; Laufs, Arztrecht 2. Aufl. Rdn. 181). Daher kann sich eine Einstandspflicht der beklagten Stadt für Fehler ihres Chefarztes nicht aus Art. 34 GG ergeben, wie das Landgericht rechtsfehlerhaft angenommen hatte. Daß es zu Unrecht mit dieser Begründung die Klage abgewiesen hat, soweit sie gegen den Chefarzt gerichtet war, hat die Klägerin indessen durch Verzicht auf die Einlegung eines Rechtsmittels hingenommen.

I.

Damit kann sich eine Haftung der beklagten Stadt für einen vom früheren Zweitbeklagten verschuldeten Schaden nur – soweit es um materielle Schäden geht – aus Vertrag (§ 278 BGB) und bezüglich des angesichts der schweren Entstellung der Klägerin im Vordergrund stehenden, nur auf unerlaubte Handlung zu stützenden Schmerzensgeldanspruchs (§ 847 BGB) über entweder § 831 oder aber §§ 31, 89 BGB ergeben.

Das Berufungsgericht hat die Eintrittspflicht der beklagten Stadt aus dem letzteren Rechtsgrund bejaht. Für die Richtigkeit dieser Beurteilung spricht vieles (vgl. Daniels a.a.O. S. 308). Indes zwingt der Streitfall nicht dazu, dies abschließend zu entscheiden. Sollte nämlich die Frage zu verneinen sein, dann müßte zwangsläufig die Haftung aus § 831 BGB platzgreifen. Daher bleibt die Rüge der Revision, daß der Stellungnahme des Berufungsgerichts ein unzutreffendes Verständnis der Organisation der Krankenanstalten der beklagten Stadt zugrundeliege, im Ergebnis erfolglos.

1. a) Nach Auffassung des Berufungsgerichts hat die Beklagte nach §§ 31, 89 BGB für einen Fehler des Chefarztes einzustehen. Es nimmt Bezug auf das Senatsurteil vom 21. September 1971 – VI ZR 122/70 – NJW 1972, 334 = VersR 1971, 1123, wonach der Chefarzt des einzigen städtischen Krankenhauses, dem der gesamte medizinische Betrieb mit alleiniger Entscheidungsbefugnis überlassen worden ist, haftungsrechtlich als verfassungsmäßig berufener Vertreter zu behandeln ist, und zwar insbesondere ohne Rücksicht auf seine rechtsgeschäftliche Vertretungsmacht. Das Berufungsgericht meint, diese Grundsätze müßten auch hier gelten. Denn dem Chefarzt sei erkennbar der gesamte medizinische Bereich der chirurgischen Klinik mit alleiniger Entscheidungsbefugnis überlassen worden. Er trage nach § 7 Abs. 3 der von der Beklagten vorgelegten Dienstanweisung für die städtischen Krankenanstalten vom 27. September 1971 die allgemeine Verantwortung für diagnostische und therapeutische Maßnahmen, übe die ärztliche Fachaufsicht aus (§ 7 Abs. 1 b. bb) und dürfe sämtlichen Ärzten und der ärztlichen Fachaufsicht unterstehenden nichtärztliche Mitarbeitern Weisungen erteilen (§ 7 Abs. 2). Demgegenüber falle es nicht ins Gewicht, daß er hinsichtlich der Leitung der Klinik im außerärztlichen Bereich einem Kollegium, bestehend aus dem Verwaltungsleiter, der Oberin (der Hauptanstalt!) und dem ärztlichen Direktor der Krankenanstalten unterstellt sei.

b) Dem liegt, wie der Revision einzuräumen ist, teilweise ein rechtlich nicht mögliches Verständnis der „Dienstanweisung” zugrunde.

aa) Das Berufungsgericht ist Mißverständnissen zum Opfer gefallen, zu denen allerdings die teilweise wenig klare Fassung der Dienstanweisung beigetragen haben mag. Denn obwohl diese von „Krankenhausleitung” spricht, wo es um die Leitung „der Krankenanstalten” der beklagten Stadt geht, und in § 1 von der Zielsetzung „des Hauses” spricht, was der Außenstehende auf eine einzelne Klinik beziehen würde, wird bei sorgfältiger Lektüre klar, daß sich die vom Berufungsurteil zitierten Vorschriften des § 7 auf einen „ärztlichen Direktor” der Gesamtheit der Krankenanstalten beziehen. Über die Institution dieses gesamtzuständigen „ärztlichen Direktors” hat allerdings die beklagte Stadt, deren Sache dies gewesen wäre, nie etwas konkretes vorgetragen, und erst in ihrer Revisionsbegründung (nach Abschluß der Tatsacheninstanzen) mitteilen lassen, daß diese Punktion im zweiten Halbjahr 1973 ein Professor Dr. K. ausgeübt habe. Ob dieser damit ständig betraut war, oder ob ihm die Funktion, wie nicht selten, nur als einem von mehreren Klinikleitern im Turnus zugefallen ist (dies könnte für das praktische Gewicht seiner Einflußnahme auf die einzelnen Kliniken von erheblicher Bedeutung sein), hat die Beklagte ebensowenig vorgetragen, wie, welche Klinik in der Dienstanweisung als „Hauptanstalt” fungiert, deren Oberin u.a. der Krankenhausleitung angehört.

Trotz dieses unzulänglichen Prozeßvortrags der beklagten Stadt kann das angefochtene Berufungsurteil insoweit keinen Bestand haben, als es die Vorschriften in § 7 der Dienstanweisung auf den früheren Zweitbeklagten als Leiter der chirurgischen Klinik bezieht, während sie tatsächlich den „ärztlichen Direktor” der Gesamtanstalten betreffen; daß der Zweitbeklagte diese Funktion selbst ausgeübt hätte, ist nicht ersichtlich und wird auch vom Berufungsgericht nicht angenommen.

bb) Demnach könnte davon ausgegangen werden, daß auch der Zweitbeklagte als Chefarzt der chirurgischen Klinik einer fachlichen Aufsicht unterlag, denn § 7 Abs. 3 lautet: „der ärztliche Direktor darf sämtlichen Ärzten … Weisungen erteilen.” Damit wäre der Chefarzt als aufsichtsbedürftiger Verrichtungsgehilfe im Sinne des § 831 BGB anzusehen, denn das erwähnte Senatsurteil vom 21. September 1971 beruht auf der Erwägung, daß sich eine Juristische Person der Verantwortung für einen für sie Tätigen nicht dadurch entziehen darf, daß sie ihn einerseits von jeder sachlichen Einflußnahme freistelle, andererseits aber auch nicht zum verfassungsmäßigen Vertreter im Sinne der §§ 30, 31 BGB bestellt. Fraglich erscheint freilich, wie dies andererseits mit der Regelung des § 7 Abs. 3 der Dienstanweisung vereinbar ist, die abschließend besagt: „Die allgemeine Verantwortung der Chefärzte für diagnostische und therapeutische Maßnahmen bleibt unberührt”. Das könnte wiederum dafür sprechen, daß die Chefärzte der einzelnen Krankenhäuser eben doch im ärztlichen Bereich, in den gegebenenfalls ein Behandlungs- oder Aufklärungsfehler fällt, weisungsfrei sind, wie das wohl der häufigen Praxis entsprechen dürfte.

2. Die Frage bedarf indessen keiner Vertiefung. Denn wenn man zugunsten der beklagten Stadt unterstellen wollte, daß der Zweitbeklagte nicht einer ihrer verfassungsmäßig berufenen Vertreter, sondern nur ihr Verrichtungsgehilfe gewesen sei, dann hätte sie den Entlastungsbeweis gemäß § 831 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht geführt. Dies vermag das Revisionsgericht selbst zu beurteilen.

Die Beklagte hat zwar unter Beweisantritt in der Berufungsinstanz vorgetragen, sie habe bei der Auswahl des Zweitbeklagten die größtmögliche Sorgfalt aufgewandt. Vom Gelingen dieses Beweises ist, da er nicht erhoben worden ist, für die Revisionsinstanz auszugehen. Im übrigen aber hat sich die Beklagte auf den Vortrag beschränkt, daß der Zweitbeklagte bisher seine Arbeit „optimal und ohne jede Beanstandung” ausgeführt habe und eine Leitung der Verrichtung bei dieser Tätigkeit nicht in Frage komme. Letzteres mag hinsichtlich der einzelnen ärztlichen Tätigkeiten eines Chefarztes zutreffen. Doch hätte es dann, wenn ihm die Beklagte keine volle Selbständigkeit im ärztlichen Bereich und damit die Stellung eines Vertreters im Sinne der §§ 31, 89 BGB einräumen wollte, sondern ihn ernstlich der fachlichen Weisungsbefugnis eines ärztlichen Direktors unterstellt hatte, einer laufenden allgemeinen Aufsicht und Kontrolle hinsichtlich der ärztlichen Tätigkeit bedurft, über die die beklagte Stadt nichts vorgetragen hat. Sie hat nicht einmal vorgetragen, daß sie durch allgemeine Anweisungen eine ordnungsgemäße Erfüllung der ärztlichen Aufklärungspflicht angestrebt habe.

Denn die Beklagte kann sich hinsichtlich ihres Chefarztes nicht einen haftungsrechtlichen Freiraum dadurch schaffen, daß sie ihm einerseits die Stellung eines verfassungsmäßig berufenen Vertreters vorenthält, andererseits aber wegen der gehobenen Art der Tätigkeit auf jede Überwachung verzichten zu können glaubt (vgl. Steffen in RGR-Komm. BGB, 12. Aufl. § 30 Rdn. 5; für den nichtärztliche Bereich vgl. schon RG JW 1936, 915). Vielmehr muß ein im medizinischen Bereich völlig weisungsfrei arbeitender Chefarzt haftungsrechtlich als verfassungsmäßig berufener Vertreter behandelt werden. Soweit für Ärzte in früheren Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (etwa in BGHZ 1, 383; 4, 138, 152) eine andere Auffassung zum Ausdruck gekommen ist, kann daran nicht festgehalten werden. Der III. Zivilsenat, der anders als der II. Zivilsenat auch heute noch teilweise mit diesem Rechtsgebiet befaßt ist, hat auf Antrage mitgeteilt, daß er auf der Entscheidung BGHZ 4, 138, soweit sie dem hier Ausgeführten widersprechen sollte, nicht bestehe.

II.

1. Das Berufungsgericht stellt fest, daß der Zweitbeklagte seine Pflicht zur Aufklärung der Eltern der Klägerin schuldhaft verletzt und überdies die zweite Operation fehlerhaft vorgenommen hat. Es führt aus:

Der frühere Zweitbeklagte habe beim zweiten Eingriff nach eigenem Vortrag eine Schädigung der Gesichtsnerven als vermeintlich unvermeidlich bewußt in Kauf genommen. Er habe aber – nach eigener Darstellung der Beklagten – jedenfalls keinen konkreten Hinweis auf dieses schwere Risiko und seine Folgen gegeben. Deshalb habe er für die Folgen einzustehen, da nicht bewiesen sei, daß die Eltern gleichwohl in die Operation eingewilligt haben würden.

Außerdem sei die von ihm vorgenommene Radikaloperation unter Opferung des Facialis nicht angezeigt und daher fehlerhaft gewesen, wie das Berufungsgericht aufgrund sachverständiger Beratung feststellt. Überdies habe er fehlerhaft versäumt, als erstes den Gesichtsnerv durch Freipräparieren darzustellen. Angesichts dieses schwerwiegenden Fehlers könne sich die Beklagte nicht darauf berufen, daß eine Verletzung des Nervs auch bei Anwendung größtmöglicher Sorgfalt immerhin vorkommen könne.

2. Dies alles läßt einen Rechtsirrtum nicht erkennen. Die Revision begibt sich mit ihren Angriffen insoweit auf das ihr verschlossene Gebiet der tatrichterlichen Würdigung, wie im einzelnen nicht ausgeführt werden muß (§ 565 a ZPO). Doch mag darauf hingewiesen werden, daß die Revision den sachverständigen Zeugen Professor Dr. Miehlke grundlegend mißversteht, wenn sie seiner Aussage entnehmen will, daß bei dem Eingriff mit 50 % Wahrscheinlichkeit eine erhebliche Schädigung des Gesichtsausdrucks verbleibe. Der Zeuge äußert sich dort eindeutig nicht über den Eingriff, den der Zweitbeklagte vorgenommen hat, sondern über die Aussichten einer operativen Wiederherstellung.

III.

Nach allem hat das angefochtene Urteil im Ergebnis Bestand, so daß die Revision der beklagten Stadt mit der Kostenfolge aus § 97 ZPO zurückzuweisen war.

 

Unterschriften

Dr. Weber, Dunz, Dr. Steffen, Dr. Kullmann, Dr. Ankermann

 

Fundstellen

Haufe-Index 1502189

BGHZ

BGHZ, 74

NJW 1980, 1901

JR 1980, 508

Nachschlagewerk BGH

VerwRspr 1980, 935

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