Leitsatz (amtlich)

Der Rückgriffsanspruch des Sozialversicherungsträgers setzt voraus, daß Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit des Schädigers auch Eintritt und Umfang des Schadens umfaßt haben.

 

Normenkette

RVO § 640 Abs. 1

 

Verfahrensgang

OLG Celle (Urteil vom 11.09.1978)

LG Hannover

 

Nachgehend

LG Köln (Urteil vom 10.02.2005; Aktenzeichen 2 O 651/03)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des 9. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Celle vom 11. September 1978 wird zurückgewiesen.

Die Kosten der Revision fallen dem Kläger zur Last.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Die Beklagte und Stefan K., damals beide 13 Jahre alt, waren Schüler der Klasse 7 b der Realschule B. Am 14. Mai 1975 kam es während der Pause in der Klasse zu einer Rauferei zwischen beiden. Dabei zog die Beklagte Stefan K. kräftig an den Haaren. Dieser erlitt u.a. ein Kopfschwartenhämatom, das eine längere Heilbehandlung erforderlich machte.

Der Kläger als gesetzlicher Unfallversicherer des Stefan K. (§ 519 Abs. 1 Nr. 14 b RVO) verlangt von der Beklagten Ersatz der Hälfte der von ihm getragenen Aufwendungen für die Heilbehandlung in Höhe von 1.702,80 DM (die andere Hälfte hat ihm der Haftpflichtversicherer der Eltern der Beklagten erstattet) sowie Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für zukünftige, vom Kläger zu erbringende Schadensersatzleistungen. Die Beklagte, so meint er, habe Stefan K. vorsätzlich verletzt; sie sei ohne Anlaß auf ihn losgegangen, habe ihn am Haarschopf gefaßt und durch die Klasse gezogen.

Die Beklagte bestreitet, die Rauferei begonnen zu haben, und vertritt die Ansicht, sie habe nicht vorsätzlich gehandelt.

Landgericht und Oberlandesgericht haben die Klage abgewiesen. Mit der (zugelassenen) Revision verfolgt der Kläger seine Klageansprüche weiter.

 

Entscheidungsgründe

I. Das Berufungsgericht führt aus, der Kläger könne nach § 640 Abs. 1 RVO die Beklagte nur dann auf Ersatz seiner Aufwendungen in Anspruch nehmen, wenn sich ihr Vorsatz (oder ihre grobe Fahrlässigkeit) nicht nur auf die Körperverletzung ihres Mitschülers Stefan K., sondern auch auf den Eintritt des Schadens, für den Ersatz begehrt werde, gerichtet habe. Das aber sei nach seiner aufgrund der Zeugenvernehmungen getroffenen Feststellung nicht der Fall.

II. Dieser Rechtsstandpunkt des Berufungsgerichts erweist sich als zutreffend. Die dagegen gerichteten Revisionsangriffe sind nicht begründet.

1. Im allgemeinen braucht sich allerdings, von gesetzlich geregelten Ausnahmen wie § 826 BGB abgesehen, der Vorsatz des Schädigers nur auf den die Haftung begründenden Tatbestand zu beziehen, um seine Ersatzpflicht für alle daraus folgenden (adäquaten) Schäden auszulösen. Diese Zuweisung des uneingeschränkten Haftungsrisikos an den Schädiger entspricht dem Grundsatz des zivilrechtlichen Haftungssystems, daß der Schädiger im Rahmen seiner Haftung aufgrund der Verletzungshandlung für alle Schäden einzustehen hat, die dadurch verursacht worden sind. Das kann indessen, worauf zuerst Deutsch in NJW 1966, 705 ff aufmerksam gemacht hat, dann zu unbilligem Ergebnis führen, wenn für den Schädiger Haftungsprivilegierungen bestehen, wie sie im Gesetz etwa unter Verwandten und Ehegatten, zwischen Gesellschaftern und bei bestimmten Vertragsformen (Schenkung, Leihe und dergl.) angeordnet oder von der Rechtsprechung etwa zur Haftung von Arbeitnehmern bei gefahrgeneigter Arbeit entwickelt worden sind (eingehend dazu Benitz, Schadenszurechnung bei qualifiziertem Verschuldenserfordernis, 1973).

Ob deswegen in all diesen Fällen zur Begründung einer alle Folgen umfassenden Haftung des Schädigers gefordert werden soll, daß sich sein Vorsatz auch auf den Eintritt und den Umfang des Schadens erstrecken muß, kann offen bleiben. Jedenfalls muß das für die Haftungsprivilegierungen im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung nach §§ 636, 637 und § 640 RVO gelten. Das folgt aus dem Sinn und Zweck dieser Vorschriften, die dem Schädiger das Haftungsrisiko nur dann aufbürden wollen, wenn er den Unfall selbst, also das die Versichertengemeinschaft finanziell belastende Ereignis, vorsätzlich (oder beim Regreß aus § 640 RVO auch nur grob fahrlässig) herbeigeführt hat. Andernfalls würde die Haftungsprivilegierung ersichtlich in wichtigen Fällen leerlaufen (so im Ergebnis Deutsch a.a.O.; ders. in Haftungsrecht I § 17 III 2 S. 258; differenzierend Benitz a.a.O. S. 84 ff, 139 und 149; für den Fall des § 277 BGB der Ansicht von Deutsch zuneigend Fikentscher, Schuldrecht, 6. Aufl., § 53 IV S. 283; a.A. Gamillscheg/Hanau, Haftung des Arbeitnehmers, 3. Aufl., S. 193).

a) Der Rückgriffsanspruch des § 640 RVO ist den Sozialversicherungsträgern vor allem deswegen eingeräumt, weil es angemessen erscheint, diese dann für ihre satzungsgemäßen Aufwendungen zu Lasten des verantwortlichen Schädigers (sei es der Unternehmer, sei es der Arbeitskollege) schadlos zu stellen, wenn eine an sich nach §§ 636, 637 RVO von ihr zu entlastende Person den Unfall durch ein besonders zu mißbilligendes Verhalten herbeigeführt hat (Senatsurteil vom 15. Januar 1974 – VI ZR 137/72 – VersR 1974, 651, 652; Marschall von Bieberstein VersR 1972, 991, 994 m.w.Nachw.). Damit verliert hier der das Schadensersatzrecht beherrschende Ausgleichsgedanke an Gewicht. Ersatz seiner Aufwendungen soll dem Sozialversicherungsträger im wesentlichen aus präventiven, erzieherischen Gründen gewährt werden (vgl. dazu auch den Bericht des Sozialpolitischen Ausschusses des Bundestages zum UVNG, BT-Drucks. IV 938 – neu – S. 18, abgedruckt bei Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Aufl., § 640 Anm. 1, der auf das „strafwürdige Verhalten” des Schädigers in solchen Fällen hinweist). Insoweit hat die Änderung der Regreßvorschrifte durch das UVNG, worauf das Berufungsgericht mit Recht hinweist, jedenfalls nichts zu Lasten der Betroffenen ändern wollen.

Gleiches gilt für das Haftungsprivileg des Unternehmers gegenüber Ansprüchen von Betriebsangehörigen aus Arbeitsunfall nach § 636 RVO sowie der Versicherten gegenüber entsprechenden Ansprüchen der in demselben Betrieb tätigen Betriebsangehörigen nach § 637 RVO. Das System der gesetzlichen Unfallversicherung beruht auf dem Prinzip, die Haftpflicht des Verantwortlichen dadurch abzulösen, daß in der Regel für den Schaden die gesetzliche Unfallversicherung eintreten soll (BGHZ 63, 313, 315). Anders ist es nur bei vorsätzlicher Herbeiführung des (Arbeits-)Unfalls, so daß wiederum an das besonders zu mißbilligende Verhalten angeknüpft wird sowie daran, daß sich dieses Verhalten gerade auf den Schadenserfolg, nämlich auf den die in der gesetzlichen Unfallversicherung zusammengeschlossene Versichertengemeinschaft wegen der daraus folgenden Aufwendungen belastenden Unfall bezieht. Es handelt sich mithin um ein in sich geschlossenes System der Schadensbereinigung, das nur aus den genannten besonderen Gründen zu Lasten der Versicherten durchbrochen wird, indem es auf ihre Haftpflicht zurückgreift.

Entsprechend dem Wortlaut des Gesetzes muß sich der Vorsatz (oder im Falle des § 640 RVO auch die grobe Fahrlässigkeit) des Schädigers, soll er auf Ersatz in Anspruch genommen werden, in diesen Fällen nicht nur auf die Verletzung einer Verhaltensnorm, sondern auf die (dadurch herbeigeführte) Verursachung des Arbeitsunfalles beziehen (vgl. Lauterbach a.a.O. § 636 RVO Anm. 32; BAG VersR 1976, 574 = AP Nr. 9 zu § 636 RVO m.zust. Anmerkung von Weitnauer; mindestens offengelassen für den früheren § 898, jetzt § 636 RVO in BGHZ 34, 375, 380/381). Ähnlich liegt es bei der Ausschlußklausel des § 4 Abs. 2 Nr. 1 AHB: Im Bereich der privaten Haftpflichtversicherung bleiben danach von der Versicherung ausgeschlossen Versicherungsansprüche aller Personen, die den Schaden vorsätzlich herbeigeführt haben (vgl. § 152 VVG). Das bedeutet, daß der Vorsatz des Schädigers sich nicht nur auf das Schadensereignis, – sondern mindestens bedingt – auch auf die Schadensfolgen erstrecken muß; der Versicherte muß also das Bewußtsein haben, sein Verhalten werde den schädlichen Erfolg haben (BGH Urt. v. 26.5.71 – IV ZR 28/70 = NJW 1971, 1456 = VersR 1971, 806 und Urteil vom 12. Juli 1972 – IV ZR 23/71 – VersR 1972, 1039; ebenso Senatsurteil vom 13. Juli 1971 – VI ZR 140/70 – VersR 1971, 1119, 1121). Der dieser Regelung zugrundeliegende Gedanke, daß der Schädiger den Versicherungsschutz nur dann verlieren soll, wenn sein Verhalten gerade im Hinblick auf die Herbeiführung des Schadens zu mißbilligen ist, weil dann eine Schadensabnahme durch die Versichertengemeinschaft nicht mehr vertretbar erscheint, findet sich in den entsprechenden Regelungen der gesetzlichen Unfallversicherung wieder, wenn dort darauf abgestellt wird, daß der Schädiger vorsätzlich (oder ggfs. grob fahrlässig) das den Schaden verursachende Ereignis, nämlich den Arbeitsunfall, herbeigeführt hat. Der innere Grund dafür, dem Schädiger den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung zu versagen und ihn Ersatzansprüchen des Unternehmers oder von Betriebsangehörigen sowie Rückgriffsansprüchen des Trägers gesetzlichen Unfallversicherung auszusetzen, liegt mithin nicht schon darin, daß er überhaupt eine Verletzungshandlung begangen hat, sondern darin, daß er mit der Herbeiführung des Unfalls den Schaden angerichtet hat, und zwar in besonders vorwerfbarer Weise. Hat er indessen mit der Möglichkeit des Eintrittes eines größeren Schadens nicht gerechnet und ist ihm insofern auch nicht das in den §§ 636, 640 RVO vorausgesetzte schwere Verschulden anzulasten, fehlt es an einer wesentlichen Voraussetzung für die endgültige Schadenszuweisung an ihn. In der Regel soll nach der gesetzlichen Regelung ihm gerade das Risiko der Haftung für Arbeitsunfälle genommen werden, nicht zuletzt im Interesse des Betriebsfriedens, solange ihm wegen seines Verhaltens nicht schwerwiegende Vorwürfe gemacht werden können. Das ist aber nicht der Fall, wenn seine Schuld sich nicht gerade auch auf den Eintritt des Schadens beziehen läßt.

b) Insbesondere bei Schulunfällen zeigt sich, daß eine solche Reduzierung der Haftungsüberwälzung auf vorsätzliche oder grob fahrlässige Schadenszufügung erforderlich ist. Raufereien in der Schule sind für Kinder und Jugendliche typisch und meist gerade Ausfluß der besonderen Schulsituation (dazu Näheres Senatsurteil BGHZ 67, 279, 282 f). Daß die Beteiligten sich dabei zuweilen auch Schmerzen zufügen, wird von ihnen häufig sogar gewollt, mindestens billigend in Kauf genommen. Auch solche Kinder und Jugendliche wollen aber im Normalfalle ihren „Kontrahenten” keine ernsthafte, dauerhafte Verletzung zufügen. Nur dann, wenn sie solche Folgen billigend in Kauf nehmen oder ihren möglichen Eintritt wenigstens grob fahrlässig außer acht gelassen haben, wenn also Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit gerade auf den Eintritt einer über die den körperlichen Auseinandersetzungen eigenen vorübergehenden Schmerzzufügungen hinausgehende Schädigung gerichtet sind, liegt der innere Grund dafür vor, den Rückgriff des Sozialversicherungsträgers wegen seiner Aufwendungen zuzulassen. Alle anderen, von den Schülern während des Schulbesuchs angerichteten Schäden sollen ihnen gerade abgenommen werden, insbesondere auch solche, die bei Spielereien und Raufereien entstehen. Nur diese Lösung dient letztlich auch dem Schulfrieden und damit dem ungestörten Zusammenleben von Lehrern und Schüllern in der Schule. Anderes mag gelten, wenn besondere Brutalität im Spiele ist. Dann liegt der Schluß auf den Vorsatz der Schadenszufügung nahe.

2. Dem Berufungsgericht ist auch darin zuzustimmen, daß diese einschränkende Auslegung des Begriffs des Vorsatzes und der groben Fahrlässigkeit in § 64 Abs. 1 RVO nicht etwa deswegen entbehrlich ist, weil § 640 Abs. 2 RVO die Träger der Sozialversicherung verpflichtet, nach billigem Ermessen, insbesondere unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Schädigers, auf den Ersatzanspruch zu verzichten. Freilich würde die Verpflichtung zu einem solchen Verzicht in allen Fällen, in denen der Vorsatz oder die grobe Fahrlässigkeit des Schädigers sich nicht auf die Entstehung des Schadens gerichtet haben, sehr nahe liegen. Eine klare Abgrenzung schon des Umfangs des Rückgriffsanspruchs nach § 640 Abs. 1 RVO steht indessen im Vordergrund und entspricht auch besser der oben genannten Interessenlage, insbesondere auch der Wahrung des Schulfriedens, als ein Ausweichen auf das zur Vermeidung von unbilligen Härten geschaffene Korrektiv des § 640 Abs. 2 RVO.

3. Im Streitfall scheidet nach diesen Grundsätzen ein Anspruch des Klägers gegen die Beklagte nach § 640 Abs. 1 RVO, der allein in Betracht kommt, aus. Die Beklagte hat nach den tatrichterlichen Feststellungen die besonderen Schadensfolgen nicht vorsätzlich und auch nicht grob fahrlässig herbeigeführt. Die insbesondere gegen die Verneinung grober Fahrlässigkeit gerichteten Revisionsangriffe sind nicht begründet. Das Berufungsgericht hat den Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit nicht verkannt. Seine Ansicht, die zur Tatzeit 13-jährige Beklagte hätte nach dem an sie anzulegenden Sorgfaltsstandard nicht voraussehen müssen, daß ihr Verhalten derart schwerwiegende Schadensfolgen auslösen könne, hält sich mindestens im Rahmen des dem Tatrichter zustehenden Beurteilungsermessens.

 

Unterschriften

Dr. Weber, Dunz, Scheffen, Dr. Kullmann, Dr. Ankermann

 

Fundstellen

Haufe-Index 1742392

BGHZ

BGHZ, 328

NJW 1980, 2527

NJW 1980, 996

Nachschlagewerk BGH

JZ 1980, 145

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