Entscheidungsstichwort (Thema)

Betrug

 

Verfahrensgang

LG Siegen (Urteil vom 20.02.1991)

 

Tenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Siegen vom 20. Februar 1991 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an das Landgericht Dortmund zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

I.

Das Landgericht hat den Angeklagten, einen als Kassenarzt zugelassenen Facharzt für Radiologie und Nuklearmedizin, von dem Vorwurf freigesprochen, die K. V. W.-L. (im folgenden: KVWL) in den Jahren 1982 bis 1986 durch unrichtige quartalsweise Abrechnung der Kosten für radioaktive Substanzen um etwa 550.000 DM betrügerisch geschädigt zu haben.

Grundlage der tatsächlichen und rechtlichen Beurteilung ist folgende Struktur des Kassenarztrechts: Die Ansprüche der in den gesetzlichen Krankenkassen und Ersatzkassen Versicherten auf Gewährung ärztlicher Leistungen richten sich unmittelbar gegen die jeweiligen Kassen. Während die Kassen ihrer Verpflichtung ursprünglich durch Verträge mit den einzelnen Ärzten nachkamen, gilt heute ein öffentlich-rechtliches Kollektivvertragsrecht. Vertragspartner der gesetzlichen Krankenkassen und Ersatzkassen sind die kassenärztlichen Vereinigungen, die durch die im jeweiligen Zuständigkeitsbereich tätigen Kassenärzte gebildet werden. Deren Aufgabe besteht unter anderem darin, die ärztliche Versorgung sicherzustellen, die Interessen der Kassenärzte hinsichtlich einer angemessenen Vergütung kassenärztlicher Leistungen gegenüber den Krankenkassen zu vertreten und für die Verteilung der kassenärztlichen Gesamtvergütung gemäß den ausgehandelten Vergütungsregelungen zu sorgen.

Hiervon ausgehend hat die Strafkammer im wesentlichen folgende Feststellungen getroffen: Der Angeklagte hatte seine Praxis im Jahre 1977 von seiner Mutter übernommen. Entsprechend einer von ihr mit den Kassen getroffenen Vereinbarung rechnete der Angeklagte die Kosten für radioaktive Substanzen unter Anwendung pauschalierter Beträge unmittelbar mit den Kassen ab. Ab Januar 1978 ging die Abrechnung nuklearmedizinischer Substanzen auf die KVWL über. In dem Vertrag zwischen den RVO- und Ersatzkassen und der KVWL war mit Geltung ab 1. Januar 1978 auf der Grundlage des § 5 Abs. 3 des Bewertungsmaßstabes-Ärzte (im folgenden: BMÄ) vereinbart:

§ 1

(1) Die dem an der kassenärztlichen Versorgung teilnehmenden Arzt („Kassenarzt”) entstandenen Kosten für radioaktive Stoffe, die mit ihrer Anwendung verbraucht sind, werden in Höhe der tatsächlichen Kosten erstattet.

(2) Der Kassenarzt hat bei der Beschaffung und Verwendung der radioaktiven Stoffe die für die kassenärztliche Versorgung geltenden Grundsätze über die Wirtschaftlichkeit zu beachten.

(3) Die auf den einzelnen Patienten entfallenden Kosten sind auf dem Behandlungsausweis neben der entsprechenden BMÄ-Nummer zu vermerken.

§ 2

(2) Die zahlungspflichtige Krankenkasse erstattet die berechneten Kosten für radioaktive Stoffe ohne Vergütungszuschlag. Soweit Zweifel an der Höhe der berechneten Kosten bestehen, teilt die Krankenkasse dies der KVWL mit, die sich um eine Abklärung bemüht.

Der BMÄ als die für die kassenärztliche Bundesvereinigung und die Bundesverbände der Krankenkassen maßgebliche Abrechnungsgrundlage enthielt bezüglich der Anwendung radioaktiver Substanzen unter O II A 2 folgende Bestimmung:

„Die Kosten für die Beschaffung und ggfs. die Aufbereitung solcher radioaktiver Substanzen, die mit ihrer Anwendung verbraucht sind, sowie die Kosten dieser Substanzen selbst sind in den abrechnungsfähigen Leistungen nicht enthalten. Im Hinblick auf das Gebot der Wirtschaftlichkeit hat der Kassenarzt ein optimales Verhältnis zwischen der zu beschaffenden Menge an radioaktiver Substanz und der damit zu untersuchenden bzw. zu behandelnden Patientenzahl anzustreben. Die Kosten, die von den Krankenkassen zu erstatten sind, müssen für den einzelnen Patienten in Rechnung gestellt werden.”

Diese Regelungen bildeten die Abrechnungsgrundlage bis zum zweiten Quartal 1985. Seit dem dritten Quartal 1985 wurden die Kosten für radioaktive Stoffe mit den Ersatzkassen durch pauschalierte Beträge abgerechnet; seit Januar 1987 galt eine umfassende Pauschalberechnung.

Die KVWL hatte im Dezember 1977 alle ihr angehörenden Ärzte durch ein Rundschreiben über die Vereinbarungen informiert. Ferner hatte sie im Februar 1983 in einem Sonderrundschreiben darauf aufmerksam gemacht, daß nur die „tatsächlich gezahlten Preise auf dem Behandlungsnachweis anzugeben” seien und „nicht etwa Bruttopreise o.ä.”, wenn neben den Gebühren zusätzlich entstandene Kosten abgerechnet werden können.

Dessen ungeachtet setzte der Angeklagte die pauschale Abrechnung der Kosten für radioaktive Stoffe fort. Ob er von dem Rundschreiben und dem Sonderrundschreiben der KVWL Kenntnis bekommen hat, hat die Strafkammer nicht klären können.

Die Strafkammer hat den Angeklagten freigesprochen, weil die objektive Erfüllung des Betrugstatbestandes nicht festgestellt werden könne, zumindest aber dessen subjektive Voraussetzungen nicht erwiesen seien. Dagegen richtet sich die vom Generalbundesanwalt vertretene, mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründete Revision der Staatsanwaltschaft. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

 

Entscheidungsgründe

II.

1. Grundsätzlich hat es das Revisionsgericht hinzunehmen, wenn der Tatrichter seine Zweifel am Vorliegen der objektiven oder subjektiven Voraussetzungen eines Straftatbestandes nicht überwinden kann. Es stellt jedoch einen sachlichrechtlichen Fehler dar, wenn der Tatrichter dabei nicht alle wesentlichen Umstände in seine Überlegungen einbezogen hat, durch die derartige Zweifel hätten überwunden werden können (BGH NJW 1962, 549; Hürxthal in KK-StPO 2. Aufl. § 267 Rdn. 41).

In Fällen des Vorwurfs langjähriger betrügerischer Anfertigung kassenärztlicher Abrechnungen ist der Tatrichter trotz der besonderen Problematik der Schadensermittlung gehalten, zu jeder der Tathandlungen ausreichende Feststellungen zu treffen (BGHSt 36, 320, 321). Das ist hier nicht geschehen. Die Strafkammer ist ihrer Verpflichtung zur umfassenden Feststellung und Würdigung der vertraglichen Vereinbarungen vor allem deshalb nur unzureichend nachgekommen, weil sie fehlende Vorgaben und Probleme bei der Kostenermittlung, mit deren Hilfe sie das Vorliegen einer Täuschungshandlung und sodann die innere Tatseite im wesentlichen beurteilt, ersichtlich überbewertet. Zwar hat sie selbst darauf hingewiesen, daß „nach Erkennen des Abrechnungsproblems Aufschläge auf die Substanzkosten bis zu 130 % diskutiert worden (sind), obwohl dabei sicherlich einige der herangezogen Kostenfaktoren keinen realistischen Bezug hatten” (UA 21). Dennoch hat sich die Strafkammer durch die nach Aufdeckung umfangreicher Fehlabrechnungen einsetzende Diskussion und durch Modellrechnungen zur Schadensermittlung den Blick dafür verstellt, daß die Vereinbarungen der KVWL zur Erstattungsfähigkeit von Radionuklidkosten nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit den Regelungen und allgemeinen Grundsätzen des Kassenarzt- und Kassenarztgebührenwesens zu beurteilen sind.

Vor der Erörterung, ob die pauschale Abrechnung wegen fehlender Vorgaben das Merkmal der Täuschung erfüllt, hätte es zunächst der Auslegung des zugrunde liegenden Vertragswerkes anhand objektiver Auslegungskriterien bedurft. Dazu hätte hier um so mehr Anlaß bestanden, als die KVWL selbst sachkundige Vertragspartnerin der Vereinbarung gewesen ist. Daß sie in dieser Eigenschaft einer Kostenregelung zugestimmt hätte, deren Anwendung den Kassenärzten offensichtlich ohne umfangreiche betriebswirtschaftliche Berechnungen nicht möglich gewesen wäre, liegt eher fern. Daher wären die angeblich fehlenden Vorstellungen und Vorgaben der KVWL auch vor dem Hintergrund ihrer eigenen Versäumnisse zu werten gewesen. Die KVWL könnte nämlich im Hinblick auf die gegen sie gerichteten Rückzahlungsforderungen der Kassen in Höhe von etwa 9 Millionen DM (UA 19) ein besonderes Interesse daran haben, den Schaden durch eine ihrem Anliegen günstigere Vertragsauslegung gering zu halten.

2. Bei der gebotenen Auslegung wäre folgendes zu erwägen gewesen:

a) Die Vereinbarungen zur Kostenerstattung verbrauchter Radionuklide bilden einen Ausnahmefall des allgemeinen Prinzips, nach dem Kosten und Nebenleistungen grundsätzlich mit den abrechnungsfähigen Leistungen vergütet sind (§§ 4, 5 BMÄ). In § 5 Abs. 1 und 3 BMÄ heißt es:

(1) Die allgemeinen Praxiskosten und die durch die Anwendung von ärztlichen Instrumenten und Apparaturen entstehenden Kosten werden mit den Gebühren abgegolten, soweit nicht etwas anderes bestimmt ist.

(3) Mit den Gebühren für Laboratoriumsdiagnostik, Röntgendiagnostik oder die Anwendung radioaktiver Stoffe werden alle hierdurch entstandenen tatsächlichen Kosten, ausgenommen Versand- und Portokosten, abgegolten, soweit nicht für einzelne Leistungen etwas anderes bestimmt ist. Die Gebühren für die Anwendung radioaktiver Stoffe umfassen nicht die Kosten solcher Stoffe, die mit ihrer Anwendung verbraucht sind.

Der Ausnahmecharakter der in O II A 2 BMÄ enthaltenen Erstattungsregelung und die daraus folgende restriktive Auslegung des Kostenrahmens erschließt sich ferner aus dem Zweck der Regelung: Lassen sich die üblicherweise bei einer Behandlung anfallenden Sach- und Nebenkosten in einer für alle Ärzte nahezu gleichen Höhe beziffern und gebührenmäßig bewerten, so ist dies bei den radioaktiven Substanzen infolge ihrer kurzen Verfallzeit (UA 3, 15) nicht ohne weiteres möglich. Ärzte mit einem großen Bedarf an Radionukliden können nicht nur preisgünstiger einkaufen; sie sind auch in der Lage, die Substanzen vor deren Verfall vollständig zu nutzen und die Nebenkosten der Beschaffung sowie die Kosten der Aufbereitung (Auswaschen des 99m Technetiums im sog. Radionuklidgenerator) auf mehrere Patienten zu verteilen.

Obwohl der Kassenarzt im Hinblick auf das Gebot der Wirtschaftlichkeit ein optimales Verhältnis zwischen der zu beschaffenden Menge an radioaktiver Substanz und der damit zu untersuchenden bzw. zu behandelnden Patientenzahl anzustreben hat (O II B 1 a BMÄ; vgl. Brück, Kommentar zum EBMÄ, Rdn. 1 zu O II B), bleiben kleineren Praxen derartige Kostenvorteile selbst bei wirtschaftlicher Planung und vorausschauender Steuerung der Behandlungstermine verschlossen.

Dies bedingt einen Konflikt zwischen den Prinzipien der Wirtschaftlichkeit und dem Auftrag zur Sicherstellung der ärztlichen Versorgung. Denn die kassenärztlichen Vereinigungen haben einerseits für die Wirtschaftlichkeit der kassenärztlichen Versorgung einzustehen (§§ 368 Abs. 3, 368 e RVO, jetzt § 70 SGB V). Auf der anderen Seite verpflichtet sie der Sicherstellungsauftrag (§§ 368 Abs. 3, 368 n Abs. 1 RVO, jetzt §§ 72, 75 SGB V), dafür zu sorgen, daß die Versicherten in allen Gebieten und zu allen Zeiten die erforderliche kassenärztliche Versorgung nach dem jeweiligen Stand der medizinischen Wissenschaft und Technik erhalten (vgl. Heinemann/Liebold, Kassenarztrecht, 5. Aufl. § 368 n RVO Rdn. C 692 f. und § 70 SGB V Rdn. C 70-6 f.; Wiegand, Kassenarztrecht, 1988, § 368 n RVO Rdn. 1 und 2; Hess in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht § 75 SGB V Rdn. 2 und 4). Die erkennbare Absicht der Vertragspartner, ohne Rücksicht auf die Gesamtwirtschaftlichkeit die tatsächlich entstandenen Kosten zu erstatten, ließ sich seinerzeit nicht durch eine auf alle Ärzte anwendbare Pauschalierung, sondern nur durch eine individuelle, den einzelnen Patienten berücksichtigende Berechnung und Rechnungstellung verwirklichen (vgl. O II B 1 b BMÄ).

b) Die restriktive, an den Besonderheiten der Radionuklide auszurichtende Auslegung der vertraglichen Bestimmungen erschließt sich beispielhaft an den nur „gegebenenfalls” in den abrechnungsfähigen Leistungen nicht enthaltenen Aufbereitungskosten (O II A 2 BMÄ): Da sowohl die „in vivo”- als auch die „in vitro”-Anwendungen, bei denen die Testsubstanzen fast gebrauchsfertig geliefert werden, vorbereitende Arbeiten erfordern, bezieht sich das „gegebenenfalls” bei den Aufbereitungskosten ersichtlich auf den Sonderfall der „in vivo”-Anwendung. Nur dort bedarf es einer Aufbereitung der Substanz, weil das benötigte 99m Technetium mit Hilfe des sog. Radionuklidgenerators aus dem langlebigeren 99-Molybdän „ausgewaschen” werden muß, bevor es – portionsweise – entnommen werden kann (UA 3). Somit sind auch dort die Kosten der Aufbereitung um so geringer, je mehr Portionen in einem Arbeitsgang hergestellt werden können.

c) Die gesonderte Kostenerstattung beruht deshalb nicht darauf, daß der Radiologe besondere Aufwendungen personeller und sachlicher Art hat, die bei Ärzten anderer Fachbereiche nicht anfallen (so LG Hagen MedR 1991, 209). Die Erstattungsregelung ist vielmehr durch die kurze Verfallzeit der Radionuklide und die dadurch bedingten wirtschaftlichen Besonderheiten veranlaßt gewesen.

d) Hätte sich die Strafkammer diesen Regelungszusammenhang vergegenwärtigt, wäre ihr der Weg zu einer naheliegenden wesentlich restriktiveren Auslegung der zugrunde liegenden Vereinbarungen und damit auch zu einer realistischeren Sicht der Verständnisprobleme eröffnet gewesen: Als Kosten der Substanzen wären nur die Netto-Substanzkosten in Ansatz zu bringen. Kosten für die Beschaffung und gegebenenfalls die Aufbereitung könnten den Netto-Substanzkosten zugeschlagen werden, wenn sie dem bezogenen Material im Einzelfall eindeutig zuzuordnen sind. Dagegen wären die Kosten des Praxispersonals und der Praxiseinrichtung ebenso wie die Kosten der Entsorgung Bestandteil der allgemeinen in den Gebühren enthaltenen Praxisunkosten (vgl. Wezel/Liebold, Handkommentar zum BMÄ, 5. Aufl. 1987, zu O II A).

e) Zwar mag es auch bei der restriktiven Auslegung der Regelung Unklarheiten und Zweifelsfälle geben. Sie wären indessen nicht von solchem Gewicht, um mit ihrer Hilfe das Merkmal der Täuschung verneinen zu können. Denn die gesonderte Erstattungsfähigkeit der Kosten verbrauchter Radionuklide und der spezifischen Nebenkosten sollte dem Arzt keine zusätzliche Verdienstquelle eröffnen. Sie sollte ihn lediglich in die Lage versetzen, die seiner Praxis angemessenen tatsächlichen Unkosten als durchlaufende, wenn auch auf den einzelnen Patienten aufgeteilte Kosten in Rechnung zu stellen.

Wer in dieser Weise zur Angabe seiner individuell errechneten tatsächlichen Kosten verpflichtet ist, gleichwohl aber ohne jede Berechnung und ohne jede eigene substantiierte Kalkulation pauschal „Beträge geltend macht(e), die nach seiner Auffassung die tatsächlich entstandenen Kosten ausmachten” (UA 19), der täuscht (vgl. BGH wistra 1984, 23; BayObLG NJW 1988, 2550; RGSt 60, 294; RGSt 64, 342, 347; Lackner in LK StGB 10. Aufl. § 263 StGB Rdn. 24).

3. Etwas anderes könnte lediglich dann gelten, wenn die objektiv unzutreffenden Kostenangaben eindeutig als Pauschalierung gekennzeichnet worden wären oder wenn sie im Sinne einer Frage nach der Erstattungsfähigkeit bestimmter Posten hätten verstanden werden müssen. Beides hat weder im einzelnen Behandlungsausweis noch in der Quartalsabrechnung Ausdruck gefunden.

a) Die Strafkammer meint zwar, aus dem Einsatz gleichbleibender „runder” Beträge sei für die KVWL ersichtlich gewesen, daß der Angeklagte pauschal abgerechnet habe (UA 20). Jedoch hat sie insoweit neben dem Gesichtspunkt einer möglicherweise mittelbaren Täuschung der RVO- und Ersatzkassen nicht erwogen, daß derartige Werte bei der großen Zahl gleichartiger Anwendungen – beim Angeklagten durchschnittlich 15–20 Patienten je Behandlungstag (UA 3) – keineswegs ausgeschlossen waren. Auch der Umstand, daß „diese Vorgehensweise” bei einem großen Teil der über die KVWL abrechnenden Nuklearmediziner üblich gewesen ist (UA 20), stünde einer Vorspiegelung falscher Tatsachen nicht entgegen. Das gilt um so mehr, als dies in Ermangelung wirksamer Kostenkontrollen den Eindruck der KVWL eher verfestigen mußte, die abgerechneten Kosten entsprächen den tatsächlich entstandenen Aufwendungen.

Daher hätte es im Hinblick auf die eigenen vertraglichen Verpflichtungen der KVWL gegenüber den Kassen näherer Erörterung bedurft, aus welchem konkreten Verhalten der Angeklagte die Akzeptanz vertragswidriger pauschaler Abrechnungen durch die KVWL geschlossen haben will. Angesichts der allein in diesem Fall vereinbarten Vergleichssumme von 460.000 DM (UA 12) versteht sich ein stillschweigendes Einverständnis der KVWL jedenfalls nicht von selbst.

b) Die lediglich interne Kenntnis der Verantwortlichen würde die Frage nach dem Irrtum auf Seiten der KVWL aufwerfen. Ein Irrtum liegt aber nicht nur vor, wenn der Getäuschte von der Gewißheit der behaupteten Tatsache ausgeht, sondern auch dann, wenn er trotz gewisser Zweifel eine Verfügung trifft, weil er es für unwahrscheinlich hält, daß die behauptete Tatsache nicht zutrifft (BGH wistra 1990, 305 m.w.Nachw.). Leichtgläubigkeit des Getäuschten und Erkennbarkeit der Täuschung bei hinreichend sorgfältiger Prüfung sind dagegen für den Irrtum ohne Belang (BGHSt 34, 199, 201; BGH bei Dallinger MDR 1972, 387).

c) Die Erwägung der Strafkammer, die Abrechnungserklärungen hätten nicht die täuschende Behauptung unbedingter Richtigkeit der geltend gemachten Beträge enthalten, sie ließen die Möglichkeit einer abweichenden Bewertung der KVWL offen (UA 19 f.), ist ebenfalls nicht geeignet, eine Täuschungshandlung zu verneinen.

Ob und unter welchen Voraussetzungen eine derartige „offene” Antragstellung angesichts der besonderen Beziehungen zwischen Kassenarzt und kassenärztlicher Vereinigung und angesichts der Verpflichtung des Kassenarztes zu wahrheitsgemäßer Leistungsberechnung (vgl. die der Quartalsabrechnung beizufügende Versicherung – UA 7) prinzipiell möglich ist, bedarf hier keiner Erörterung. Die KVWL wäre ohne Buchungsunterlagen zur Berechnung der individuellen Radionuklidkosten des Angeklagten gar nicht in der Lage gewesen. Das Vertrauen, die KVWL „werde es schon richtig machen”, hätte deshalb zumindest eine beurteilungsfähige Darstellung der Fakten und Zahlen vorausgesetzt (vgl. BGH JZ 1952, 46).

4. Die vorstehend aufgezeigten Mängel wiederholen sich weitgehend in den Erwägungen, mit denen die Strafkammer die innere Tatseite des Betruges verneint hat.

a) Für den Schädigungsvorsatz ist es ausreichend, daß der Täter die schadensbegründenden Umstände kennt (BGH bei Holtz MDR 1981, 810; BGHR StGB § 263 Abs. 1 Vorsatz 1). Die Absicht, sich einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß es dem Angeklagten letztlich auf eine für ihn praktikable Abrechnung angekommen sein mag (BGHSt 16, 1, 3 f.; BGH, Urteil vom 15. Mai 1985 – 2 StR 115/85). Entscheidend ist allein, ob er in der Annahme gehandelt hat, eine Erstattung in der geltend gemachten Höhe beanspruchen zu können (BGHSt 3, 160, 162; BGH bei Dallinger MDR 1956, 10; BGHR StGB § 263 Abs. 1 Irrtum 7; vgl. auch BGH GA 1966, 52; BGH wistra 1982, 68). Auch das hat die Strafkammer nicht rechtsfehlerfrei dargelegt.

b) Die Strafkammer hat es zunächst versäumt, den damaligen Kenntnisstand des Angeklagten bezüglich der Einzelheiten der Kostenerstattungsvereinbarungen bzw. zum kassenärztlichen Gebührenwesen aufzuklären. Bei der Frage, ob der Angeklagte von den beiden Rundschreiben der KVWL Kenntnis bekommen hat, hätte sie insbesondere erwägen müssen, daß die Vereinbarung vom Dezember 1977 gegenüber der bisherigen Praxis auch insofern mit einer Änderung verbunden war, als die Abrechnung der Substanz-, Beschaffungs- und Aufbereitungskosten ab 1. Januar 1978 von den einzelnen Kassen auf die KVWL übergegangen war, eine Regelung, an die sich der Angeklagte ersichtlich gehalten hat. Auch die im Sonderrundschreiben vom 24. Februar 1983 enthaltenen Hinweise entsprachen nach den Feststellungen der Strafkammer im wesentlichen der Anlage 4 § 1 zum Gesamtvertrag-Ärzte, an der sich der Angeklagte ausweislich seiner Abrechnung ab 3. Quartal 1983 ebenfalls orientiert hat (UA 4, 7).

c) Ferner wäre die Strafkammer wie bei der Beweiswürdigung zur Täuschungshandlung auch hier gehalten gewesen, die Vorstellungen des Angeklagten zur Gesamtkalkulation seiner Beschaffungs- und Aufbereitungskosten in Verbindung mit den Besonderheiten des kassenärztlichen Gebührenwesens zu erörtern. Derartigen Überlegungen war sie nicht deshalb enthoben, weil der Angeklagte für das 2. und 3. Quartal 1980 durch den Prüfungsausschuß der KVWL – bezüglich der Pauschalierung beanstandungsfrei – einer Wirtschaftlichkeitsprüfung unterzogen worden war.

Grundsätzlich haben die Prüfungs- und Beschwerdeausschüsse nur die Wirtschaftlichkeit zu prüfen. Die Entscheidung, ob und nach welcher vertraglichen Bestimmung eine Leistung abrechnungsfähig ist, obliegt dagegen der kassenärztlichen Vereinigung (§ 34 Abs. 1 Buchst. a, Abs. 2 Bundesmantelvertrag – Ärzte – BMV-Ä –; § 12 Ziff. 3 Arzt/Ersatzkassen-Vertrag; BSGE 42, 268, 270 f.; 57, 151, 152 f.; Hess in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht § 75 SGB V Rdn. 12 f., § 106 SGB V Rdn. 4). Die Wirtschaftlichkeitsprüfung durch Prüfungs- und Beschwerdeausschüsse (§ 368 n Abs. 5 RVO jetzt § 106 SGB V) dient der medizinisch-fachlichen Feststellung der Unwirtschaftlichkeit (vgl. jetzt § 106 Abs. 2 SGB V „arztbezogene Prüfung”). Sie erfolgt entweder aufgrund einer Einzelfallprüfung oder nach der statistischen Methode (BSGE 19, 123, 128; 46, 136, 137; 55, 110, 112).

Eine Einzelfallprüfung hat im Falle des Angeklagten nicht stattgefunden. Da die statistische Methode auf einem Vergleich der nach Eingang der Quartalsabrechnungen ermittelten durchschnittlichen Fallkosten aller Fachkollegen aus dem Gebiet des zu prüfenden Arztes beruht (vgl. Wiegand, Kassenarztrecht, § 368 n RVO Rdn. 31; Hess in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht § 106 SGB V Rdn. 8 f.; BSGE 55, 110, 112), besagt eine derartige Wirtschaftlichkeitsprüfung grundsätzlich nichts über die vertragskonforme Abrechnung. Die Aufdeckung einer gebührenordnungswidrigen Berechnung hätte zwar zur Richtigstellung führen können (§ 34 Abs. 2 BMV-Ä). Die Urteilsfeststellungen lassen jedoch nicht erkennen, daß den Prüfungsinstanzen die fehlerhafte Abrechnung aufgefallen ist.

Unter diesem Blickwinkel ist auch die nach Einlassung des Angeklagten anläßlich des 1980 durchgeführten Prüfungsverfahrens erteilte Auskunft eines Prüfarztes zu sehen. Die Erklärung, bei einer Spanne von 10 bis 20 DM pro Schilddrüsentest gehe ein Kostenansatz im mittleren Bereich in Ordnung (UA 9, 14), mag aus damaliger Sicht bei einer vergleichenden Wirtschaftlichkeitsprüfung zutreffen, über die Notwendigkeit einer ordnungsgemäßen Kostenermittlung sagt sie schon deshalb nichts aus, weil vergleichbare Unkorrektheiten anderer den durchschnittlichen tatsächlichen Kostenaufwand verfälschen mußten.

d) Die von der Strafkammer angestellten Berechnungen als Grundlage einer etwaigen Schadensvorstellung des Angeklagten werden den Besonderheiten des seinerzeit geltenden Abrechnungsverfahrens nicht gerecht. Ob der Angeklagte geglaubt hat, anstelle konkreter Abrechnung einen Pauschalanspruch in dieser Höhe geltend machen zu können, ist vorrangig anhand seiner Vorstellungen zur Erstattungsfähigkeit und seiner konkreten Kostensituation darzulegen. Dabei unterscheidet sich die Methodik der Ermittlung der Ansprüche nach subjektiven Vorstellungen grundsätzlich nicht von der einer objektiven Schadensberechnung.

Auch wenn jeder Einzelakt des Betruges zunächst anhand der gegenüber der KVWL geltend gemachten Patientenabrechnung zu beurteilen ist, muß im Hinblick auf die vertraglich vorgegebene Aufteilung der Gesamtkosten bei exakter Berechnung auf den einzelnen Anwendungsfall abgestellt werden, und zwar auf die Beschaffung und gegebenenfalls Aufbereitung für die jeweilige Patientengruppe, bei deren Behandlung die beschafften Substanzen tatsächlich verbraucht worden sind.

Läßt sich eine derartige Berechnung unter Einbeziehung der Vorstellung des Angeklagten mangels ausreichender Belege (vgl. dazu BGHZ 72, 132, 137) nicht mehr darstellen, so wäre auch ein Vergleich der gesamten Substanz-, Beschaffungs- und Aufbereitungskosten mit den vom Angeklagten tatsächlich geltend gemachten Gesamtkosten in Betracht gekommen.

Wenn sich die Strafkammer letztlich nicht in der Lage gesehen hat, die nach Vorstellung des Angeklagten bestehenden Ansprüche zu berechnen, so konnte das nicht ohne weiteres Veranlassung geben, den subjektiven Mindestschaden anhand andernorts oder später vereinbarter Festbeträge zu ermitteln. Zwar wird man bei einer Bezifferung des Schadens in diesen Fällen nicht umhin kommen, Kostenfaktoren, die einer Festbetragsregelung zugrunde liegen mögen, als Grundlage der notwendigen Schätzung zu berücksichtigen (vgl. dazu BGHSt 36, 320, 328; BGH NJW 1958, 1244; BGH wistra 1991, 177). Die Höhe der Festbeträge ist jedoch zur Ermittlung der Ansprüche des Angeklagten aus seiner Sicht schon deshalb von geringem Gewicht, weil die vereinbarte konkret-individuelle Abrechnung gerade das Ziel verfolgte, die durchschnittlich erforderlichen Kosten bei größerem Umfang der Anwendungen niedrig zu halten. Schließlich muß die Abkehr von der konkreten Kostenermittlung, über deren tatsächliche Grundlagen das Urteil außer der mangelnden Praktikabilität der bisherigen Regelung keine Einzelheiten mitteilt, auch im Zusammenhang mit der gesamten Gebühren- und Kostenstruktur für die radionuklide Diagnostik gesehen werden.

Daß die seit der Praxisübernahme im Jahre 1977 angesetzten Pauschalen, über deren Zustandekommen und über deren Berechnungsgrundlagen das Urteil im einzelnen ebenfalls nichts mitteilt, den tatsächlichen Kostenaufwand um weitaus mehr als den von der Strafkammer mit 195.000 DM bezifferten Mindestschaden überschreiten, ist nach den sonstigen Feststellungen des Urteils offensichtlich. Das belegen nicht nur die Zahlen der Prüfungskommission aus dem Jahre 1980 – der Kostenbetrag des Angeklagten überstieg seinerzeit den Mittelwert der Gebietsgruppe um 116 bzw. 114 % (UA 8, 9). Ferner war die auf einem Berechnungsmodell des Verteidigers Prof. Dr. Azzola beruhende, im Wege des Vergleichs vereinbarte Ersatzleistung an die KVWL in Höhe von 460.000 DM bezüglich der Nebenkosten mit durchschnittlich 57 % Aufschlag auf die Substanzkosten kalkuliert (UA 12, 13).

e) Angesichts des selbst von der Strafkammer ermittelten Mindestschadens mögen die Auslegungsprobleme, die weitgehend auch von den Fachkollegen beanstandungsfrei praktizierte fehlerhafte Berechnung der Kosten und die mangelnden Kontrollen der KVWL anhand der von ihr selbst vereinbarten Erstattungsregelungen Anlaß geben, die individuelle Schuld des Angeklagten gering zu bemessen, ein zumindest bedingter Betrugsvorsatz (vgl. dazu BGH bei Dallinger MDR 1975, 22; BGH, Urteil vom 2. April 1985 – 1 StR 65/85 m.w.Nachw.) ließ sich mit ihrer Hilfe jedoch nicht ohne weiteres verneinen.

Die Sache bedarf deshalb neuer Verhandlung. Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, die Sache an ein anderes Landgericht zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 StPO).

III.

Sollte der neue Tatrichter die Voraussetzungen des Betruges bejahen, wird er auch das Vorliegen eines Gesamtvorsatzes sorgfältig zu prüfen haben (zum Gesamtvorsatz bei ärztlichen Quartalsabrechnungen vgl. BGHSt 36, 320 f.; BGHR StGB § 263 Abs. 1 Gesamtvorsatz 1).

 

Unterschriften

Salger, Steindorf, Nehm, Maatz, Basdorf

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1134328

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