Leitsatz (amtlich)

a) Der Träger der gesetzlichen Rentenversicherung verletzt seine Amtspflicht gegenüber einem Versicherten, der nach einem schweren Verkehrsunfall mit erlittener Querschnittslähmung wegen der Übernahme von Heilbehandlungskosten anfragt und einen Rentenantrag stellt, wenn er diesen nicht auf die Möglichkeit hinweist, daß er Mitglied der Krankenversicherung der Rentner geworden ist.

b) Er handelt auch amtspflichtwidrig, wenn er die Bitte des Versicherten, die Bearbeitung seines Rentenantrags ruhen zu lassen, als Rücknahme wertet, ohne zugleich auf die möglichen Folgen für den Krankenversicherungsschutz hinzuweisen.

 

Normenkette

GG Art. 34; BGB § 839; SGB I § 14

 

Verfahrensgang

OLG Frankfurt am Main

LG Frankfurt am Main

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 21. September 1995 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszuges, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt von der Beklagten Schadensersatz wegen amtspflichtwidriger Verletzung von Beratungs- und Betreuungspflichten.

Der Kläger, der bei der Beklagten vor seiner Befreiung von der Versicherungspflicht viele Jahre als kaufmännischer Angestellter pflichtversichert war, ehe er Ende der sechziger Jahre seinen Wohnsitz nach Italien verlegte, erlitt am 4. Mai 1972 auf der Brenner-Autobahn unverschuldet einen Autounfall, bei dem er sich eine Querschnittslähmung zuzog. Vom Krankenhaus aus wandte er sich mit Schreiben vom 15. August 1972 an die Beklagte und fragte an, ob und zu welchen Bedingungen er als selbständiger Kaufmann wieder der Versicherung beitreten könne. Ferner berichtete er von seinem Unfall und der erlittenen Verletzung und verband dies mit der Frage, ob sich die Beklagte an den Kosten des Heilverfahrens beteiligen könne. Unter Bezugnahme auf eine Eingangsnachricht der Beklagten teilte er ihr mit Schreiben vom 18. Oktober 1972 mit, daß er in ein anderes Krankenhaus verlegt worden sei, und stellte vorsorglich einen Antrag auf Rente. Die Beklagte beantwortete die Anfrage vom 15. August 1972 mit Schreiben vom 1. Dezember 1972. Hierin teilte sie dem Kläger mit, sich nicht an den Kosten einer Krankenhausbehandlung beteiligen zu können, weil dies – auch bei fehlendem oder nicht ausreichendem Krankenversicherungsschutz – in das Aufgabengebiet der Krankenversicherung falle. Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen seien nicht geprüft worden; über den Rentenantrag entscheide das Rentendezernat.

Der Kläger bat hierauf mit Schreiben vom 18. Dezember 1972, die Bearbeitung seines Rentenantrags bis auf weiteres ruhen zu lassen. Zur Erläuterung wies er darauf hin, da er trotz seiner Querschnittslähmung versuche, seine bisherigen Aufgabenbereiche zu erfüllen, habe sich bislang an seinem Einkommen nichts geändert, so daß er aus diesem Grunde nicht auf die Rente angewiesen sei. Zugleich wiederholte er seine Bitte um Information über die Möglichkeit eines Beitritts zur Angestelltenversicherung.

Das Rentendezernat der Beklagten gab dem Kläger wegen seines damals ständigen Aufenthalts in Italien mit Schreiben vom 27. Dezember 1972 Hinweise zur Einleitung eines zwischenstaatlichen Rentenverfahrens und teilte ihm mit weiterem Schreiben vom 5. Januar 1973 mit, es habe die Rücknahme seines Rentenantrags zur Kenntnis genommen. Über die Voraussetzungen der Versicherungspflicht für Selbständige erhalte er von der Versicherungsabteilung weitere Nachricht. Der Kläger hat den Zugang der Schreiben vom 27. Dezember 1972 und 5. Januar 1973 bestritten.

Der Kläger bezieht nach einem im Februar 1978 gestellten weiteren Rentenantrag aufgrund Bescheids der Beklagten vom 14. September 1978 mit Wirkung ab 1. Februar 1978 für einen am 4. Mai 1972 eingetretenen Versicherungsfall Rente wegen Berufsunfähigkeit, die nach Nachweis der Aufgabe seiner selbständigen Erwerbstätigkeit in eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit umgewandelt wurde.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Beklagte habe seine Anfrage vom 15. August 1972 unrichtig bzw. unvollständig beantwortet. Insbesondere habe sie ihn nicht darauf aufmerksam gemacht, daß er allein durch seine Rentenantragstellung Mitglied der Krankenversicherung der Rentner geworden sei. Hätte sie dies getan und die einschlägigen Vorschriften des europäischen Gemeinschaftsrechts beachtet, hätte er seinen Rentenantrag nicht zum Ruhen gebracht. Bei ordnungsgemäßer Beratung hätte er daher bereits im Jahr 1972 Rente beziehen und in der Krankenversicherung der Rentner Deckung für seine durch den Versicherungsfall ausgelösten Kosten der Krankenbehandlung erhalten können. Der Kläger begehrt daher mit seiner am 9. Januar 1990 zugestellten Klage von der Beklagten Schadensersatz für Heilbehandlungskosten von 187.460,27 DM, für ausgebliebene Rentenzahlungen (Berufs-/Erwerbsunfähigkeitsrente) in der Zeit von Mai 1972 bis Januar 1978 einen Betrag von 88.400 DM und eine weitere Rentennachzahlung von 18.600 DM für die Zeit von Februar 1978 bis März 1983, die sich aus der Differenz zwischen der von der Beklagten gezahlten Berufsunfähigkeitsrente und der nach Auffassung des Klägers in diesem Zeitraum bereits geschuldeten Erwerbsunfähigkeitsrente ergeben soll. Versuche des Klägers, den geltend gemachten Schaden im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ersetzt zu erhalten, hatten keinen Erfolg. Das Bayerische Landessozialgericht wies eine entsprechende Klage mit Urteil vom 8. März 1984 ab, das Bundessozialgericht die Nichtzulassungsbeschwerde mit Beschluß vom 12. Dezember 1984 zurück.

Die Klage auf Schadensersatz blieb in den Vorinstanzen erfolglos. Mit seiner Revision verfolgt der Kläger seine im Berufungsrechtszug gestellten Anträge weiter.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

1. Das Berufungsgericht führt aus, die Erklärungen der Beklagten in ihrem Schreiben vom 1. Dezember 1972 stellten keine zum Schadensersatz verpflichtende fehlerhafte Auskunft der Behörde dar. Dies hält den Rügen der Revision nicht stand.

a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats müssen Auskünfte, die ein Beamter erteilt, dem Stand seiner Erkenntnismöglichkeit entsprechend sachgerecht, d. h. vollständig, richtig und unmißverständlich sein, so daß der Empfänger der Auskunft entsprechend disponieren kann. Diese Amtspflicht besteht gegenüber jedem Dritten, in dessen Interesse oder auf dessen Antrag die Auskunft erteilt wird. Für die Frage, ob die Auskunft den zu stellenden Anforderungen genügt, kommt es entscheidend darauf an, wie sie vom Empfänger aufgefaßt wird und werden kann und welche Vorstellungen zu erwecken sie geeignet ist. Dabei hängt der Umfang der Auskunftspflicht auch vom Inhalt der Frage ab, die der Auskunftsuchende an die Behörde richtet (Senatsurteil vom 13. Juni 1991 – III ZR 76/90 – BGHR BGB § 839 Abs. 1 Satz 1 Auskunft 5 = NJW 1991, 3027 m.w.N.).

Das Berufungsgericht verweist zutreffend auch auf die besonderen Beratungs- und Betreuungspflichten, die der Beklagten als Rentenversicherungsträger dem Kläger gegenüber oblagen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, die bereits für die Rechtslage vor Inkrafttreten des § 14 SGB I Anwendung gefunden hat, ist eine umfassende Beratung des Versicherten die Grundlage für das Funktionieren des immer komplizierter werdenden sozialen Leistungssystems. Im Vordergrund steht dabei nicht mehr nur die Beantwortung von Fragen oder Bitten um Beratung, sondern die verständnisvolle Förderung des Versicherten, d. h. die aufmerksame Prüfung durch den Sachbearbeiter, ob Anlaß besteht, den Versicherten auch von Amts wegen auf Gestaltungsmöglichkeiten oder Nachteile hinzuweisen, die sich mit seinem Anliegen verbinden; denn schon gezielte Fragen setzen Sachkunde voraus, über die der Versicherte oft nicht verfügt. Eine Leistungsgewährung darf nicht deshalb unterbleiben, weil der einzelne nicht über die ihn begünstigenden Bestimmungen Bescheid weiß. Die Beratungspflicht ist deshalb nicht auf Normen beschränkt, die der betreffende Sozialversicherungsträger, hier die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte als die für die gesetzliche Rentenversicherung zuständige Körperschaft, anzuwenden hat. Die Kompliziertheit des Sozialrechts liegt gerade in der Verzahnung seiner Sicherungsformen bei den verschiedenen versicherten Risiken (z. B. den Risiken der Renten- und der Krankenversicherung) sowie in der Verknüpfung mit anderen Sicherungssystemen (BSGE 61, 175, 176 f; BSG SozR 1200 § 14 Nr. 13 und Nr. 16; Grüner/Dalichau, SGB I, § 14 Anm. I; Krauskopf/Baier, Soziale Krankenversicherung Pflegeversicherung, 3. Aufl., § 14 SGB I Rn. 4). Daher kann sich der Leistungsträger nicht auf die Beantwortung konkreter Fragen oder abgegrenzter Bitten beschränken, sondern muß sich bemühen, das konkrete Anliegen des Ratsuchenden zu ermitteln und – unter dem Gesichtspunkt einer verständnisvollen Förderung – zu prüfen, ob über die konkrete Fragestellung hinaus Anlaß besteht, auf Gestaltungsmöglichkeiten, Vor- oder Nachteile hinzuweisen, die sich mit dem Anliegen verbinden. Den Anspruch auf Beratung hat jeder bezüglich solcher sozialrechtlicher Rechte und Pflichten, die ihm in seiner Person jetzt oder künftig zustehen bzw. obliegen können (Krauskopf/Baier, aaO, § 14 SGB I Rn. 2).

b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist die Beklagte mit der Beantwortung des Schreibens des Klägers vom 15. August 1972 in ihrem Schreiben vom 1. Dezember 1972 ihren dem Kläger gegenüber bestehenden Pflichten nicht nachgekommen.

aa) Eine Amtspflichtverletzung kann nicht schon deshalb verneint werden, weil das Landessozialgericht in seinem Urteil vom 8. März 1984 den vom Kläger geltend gemachten sozialrechtlichen Herstellungsanspruch verneint und hierbei das Handeln der Mitarbeiter der Beklagten als rechtmäßig bewertet hat. Zwar sind die Zivilgerichte an ein verwaltungs- oder sozialgerichtliches Urteil, das die Wirksamkeit und Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes bejaht und deshalb aus sachlichen Gründen eine Anfechtungs-, Verpflichtungs-, Leistungs- oder Feststellungsklage abweist, im Rahmen seiner Rechtskraftwirkung gebunden. Das Urteil des Landessozialgerichts ist jedoch nur insoweit der Rechtskraft fähig, als es über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch entschieden hat. Ob sich die Mitarbeiter der Beklagten pflichtgemäß oder pflichtwidrig verhalten haben, war in dem Verfahren vor dem Landessozialgericht lediglich eine Vorfrage, auf die sich die Rechtskraftwirkung des Urteils nicht erstreckt (Senat BGHZ 103, 242, 245 m.w.N.).

bb) Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts genügte es nicht, daß die Beklagte die Anfrage des Klägers, ob sie sich aufgrund seiner langjährigen früheren Mitgliedschaft bei ihr an den Kosten des Heilverfahrens beteiligen könne, vordergründig zutreffend dahingehend beantwortet hat, daß ihr dies auch bei fehlendem oder nicht ausreichendem Krankenversicherungsschutz nicht möglich sei, da die Durchführung derartiger Maßnahmen in das Gebiet der – gesetzlichen oder privaten – Krankenversicherung falle.

Zu Recht verweist die Revision darauf, daß die Antwort der Beklagten unvollständig und irreführend war, irreführend deshalb, weil sie eine so nicht gegebene strikte Trennung zwischen Renten- und Krankenversicherung nahelegte, unvollständig, weil sie dem Kläger den Umstand vorenthielt, daß er – entsprechend dem Regelfall – mit dem in seinem Schreiben vom 18. Oktober 1972 gestellten Rentenantrag Mitglied der Krankenversicherung der Rentner geworden war, an die die Beklagte dann Beiträge hätte entrichten müssen. Mit den von der Beklagten gegebenen „Auskünften” war es daher nicht getan; vielmehr gab die Lage, die der Kläger in seinem Schreiben vom 15. August 1972 geschildert hatte, Anlaß zur Beratung über seine sozialrechtlichen Rechte.

cc) Eine wirtschaftliche Notlage war dabei nicht – wie das Berufungsgericht meint – Voraussetzung einer entsprechenden Beratungs- und Betreuungspflicht. Vielmehr genügten hierfür die vom Berufungsgericht festgestellten Umstände.

Das Berufungsgericht geht zutreffend davon aus, daß die von dem Kläger geschilderte Querschnittslähmung den Eintritt der Berufsunfähigkeit „nahelegte”. Ferner legt es seiner Beurteilung zugrunde, dem Schreiben des Klägers vom 15. August 1972 sei zu entnehmen gewesen, daß er jedenfalls einen Teil der Behandlungskosten selbst habe tragen müssen. Schließlich nimmt das Berufungsgericht zu Recht an, aus der Sicht der Beklagten habe es keinen Hinweis darauf gegeben, daß der Kläger von der mit Stellung des Rentenantrags verbundenen Mitgliedschaft in der Krankenversicherung der Rentner (vgl. §§ 315 a Abs. 1 Satz 1, 165 Abs. 1 Nr. 3 RVO a.F.) Kenntnis gehabt habe. Dann ist es aber unverständlich, daß die Beklagte den Kläger hierauf nicht aufmerksam gemacht hat. Das Bundessozialgericht (vgl. BSGE 61, 175, 176 f; BSG SozR 1200 § 14 Nr. 16) verlangt angesichts der Verknüpfung der verschiedenen Sicherungssysteme sogar Hinweise, die über das Gebiet des auskunftgebenden Sozialversicherungsträgers hinausgehen können; um so mehr gilt dies hier, als die Beklagte im Hinblick auf die Rentenantragstellung für die Krankenversicherung der Rentner eigene Pflichten treffen konnten.

Unter den gegebenen, aus dem Schreiben vom 15. August 1972 ersichtlichen Umständen verengt das Berufungsgericht daher die Anfrage des Klägers zu Unrecht auf eine bloße Beteiligung gerade der Beklagten. Dem Kläger ging es erkennbar darum, ob er aufgrund seiner langjährigen Mitgliedschaft bei der Beklagten Anspruch auf Ersatz eines Teils seiner Krankheitskosten hatte. Angesichts der vom Kläger geschilderten Verletzungen hätte bereits eine ordnungsgemäße Antwort auf sein Schreiben vom 15. August 1972 den Hinweis auf die – nicht nur theoretische – Möglichkeit eines Rentenantrags und die damit verbundene Mitgliedschaft in der Krankenversicherung der Rentner enthalten müssen. Nachdem aber der Rentenantrag gestellt war, drängte sich ein Hinweis auf die nunmehr grundsätzlich bestehende Mitgliedschaft geradezu auf.

dd) Die Hinweispflichten der Beklagten sind entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht dadurch entfallen, daß sie davon ausgehen konnte, der Kläger werde nunmehr von der Krankenversicherung der Rentner die nötigen Informationen erhalten. Der Kläger hatte die Beklagte am 15. August 1972 um Auskunft ersucht, die diese in angemessener Frist zu erteilen hatte, zumal sie nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nach dem Schreiben des Klägers vom 18. Oktober 1972 die Krankenversicherung der Rentner weder von dem Rentenantrag unterrichtet noch dem Kläger einen entsprechenden Vordruck für eine Meldung übersandt hatte.

Die Beklagte durfte auch nicht in Betracht ziehen, daß der Kläger gemäß § 165 Abs. 6 RVO a.F. ausnahmsweise von der Mitgliedschaft nach § 165 Abs. 1 Nr. 3 RVO, etwa als freiwillig Versicherter nach § 176 RVO a.F. (vgl. Krauskopf, Soziale Krankenversicherung 1973, § 165 RVO Anm. 6.2. m.w.N.), ausgeschlossen war. Vielmehr mußte sie vom Regelfall ausgehen und den Kläger von der Möglichkeit des Versicherungsschutzes unterrichten. Daß die Versicherung in der Krankenversicherung der Rentner in vielen Fällen die erste für einen Rentenantragsteller unmittelbar bedeutsame Folge seines Rentenantrages ist und – auch im Hinblick auf befristete Befreiungsmöglichkeiten – Beratungspflichten des Rentenversicherungsträgers auslöst, ist in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts anerkannt (BSG SozR 1200 § 14 Nr. 13).

2. Es kann offenbleiben, ob dem Berufungsgericht zu folgen ist, wenn es ausführt, die Beklagte habe die Bitte des Klägers in seinem Schreiben vom 18. Dezember 1972, die Bearbeitung des Rentenantrags „bis auf weiteres ruhen zu lassen”, jedenfalls schuldlos als Rücknahme seines Antrags werten dürfen, nachdem ihre Schreiben vom 27. Dezember 1972 und 5. Januar 1973 unbeantwortet geblieben seien. Angesichts der nachteiligen Folgen für den von dem Kläger in seinem Schreiben vom 15. August 1972 erhofften Krankenversicherungsschutz ist es unverständlich, daß die Beklagte ihre Deutung nicht mit einem Hinweis auf den Verlust der möglicherweise durch den Rentenantrag erworbenen Ansprüche auf die Krankenversicherung verbunden und nicht nochmals zurückgefragt hat, nachdem ihre Schreiben – nach Behauptung des Klägers wegen des Verlustes der Briefe in dem italienischen Poststreik – ohne Antwort geblieben waren. Denn das Berufungsgericht geht davon aus, daß der Kläger – für die Beklagte erkennbar – von seinem seit der Stellung des Rentenantrags grundsätzlich bestehenden Versicherungsschutz keine Kenntnis hatte. Da hier bei Zugrundelegung der Angaben des Klägers in seinem Schreiben vom 15. August 1972 die Gefahr einer Schädigung in einer erheblichen Größenordnung auf der Hand lag, kommt es nicht einmal auf die Behauptung des Klägers an, den Rentensachbearbeitern der Beklagten sei durch eine interne Dienstanweisung aufgegeben, im Falle einer Antragsrücknahme auf die nachteiligen Folgen für den Krankenversicherungsschutz aufmerksam zu machen. Denn der Sozialversicherungsträger hat den Versicherten auch vor der nahen Möglichkeit einer Fehlentscheidung zu bewahren (vgl. BSGE 61, 175, 178). Dieser Pflicht ist er nicht dadurch enthoben, daß er in seinem Bereich verschiedene Stellen mit der Bearbeitung eines Anliegens betraut, das eine übergreifende Betrachtung fordert.

3. a) Nach dem objektivierten Sorgfaltsmaßstab, der im Rahmen des § 839 BGB gilt, kommt es für die Beurteilung des Verschuldens auf die Kenntnisse und Fähigkeiten an, die für die Führung des übernommenen Amtes erforderlich sind (Senat BGHZ 117, 240, 249). Dabei ist auf die Anforderungen an den pflichtgetreuen Beamten in der in Frage stehenden konkreten Amtsstellung abzuheben (Senatsurteil vom 18. Dezember 1986 – III ZR 214/85 – BGHR BGB § 839 Abs. 1 Satz 1 Verschulden 3 = LM BGB § 839 (Fk) Nr. 10), hier also auf den für Fragen der Sozialversicherung ausgebildeten Angestellten und Beamten. Daß die hier angesprochenen Zusammenhänge zwischen Renten- und Krankenversicherung und sich hieraus ergebende Beratungs- und Betreuungspflichten zu dem für die Führung des Amtes notwendigen Bestand an Wissen gehören, steht außer Frage.

b) Ein Verschulden der zuständigen Mitarbeiter der Beklagten ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil ihnen mehrere Kollegialgerichte rechtmäßiges Verhalten bescheinigt haben.

Zwar haben das Landessozialgericht bei seiner Entscheidung über den Herstellungsanspruch des Klägers und die Vorinstanzen des vorliegenden Amtshaftungsprozesses deren Verhalten als rechtmäßig angesehen. Auf die allgemeine Richtlinie, daß einen Amtsträger in der Regel kein Verschulden trifft, wenn ein mit mehreren Rechtskundigen besetztes Kollegialgericht die Amtstätigkeit als objektiv rechtmäßig angesehen hat (vgl. Senat BGHZ 97, 97, 107), kann sich die Beklagte hier aber nicht berufen. Bei dieser Regel handelt es sich nur um eine allgemeine Richtlinie für die Beurteilung des im Einzelfall gegebenen Sachverhalts. Sie greift unter anderem nicht ein, wenn das Gericht eine gesetzliche Bestimmung „handgreiflich falsch” ausgelegt hat, ferner, wenn und soweit das Gericht für die Beurteilung des Falles wesentliche Gesichtspunkte unberücksichtigt gelassen hat oder sich bereits in seinem rechtlichen Ausgangspunkt von einer rechtlich verfehlten Betrachtungsweise nicht hat freimachen können (Senatsurteil vom 21. Oktober 1993 – III ZR 68/92 – BGHR BGB § 839 Abs. 1 Satz 1 Verschulden 24 = NVwZ 1994, 825, 826 m.w.N.). So liegt es hier.

Das Landessozialgericht hat in seinem Urteil vom 8. März 1984 den Inhalt der Anfrage auf eine Kostenbeteiligung der Beklagten selbst verengt und die angesichts der Verzahnung der Sicherungsformen des Sozialrechts bestehende umfassendere Beratungspflicht außer acht gelassen. Es hat zudem den Gesichtspunkt unberücksichtigt gelassen, daß die Beklagte selbst in ihrem Antwortschreiben vom 1. Dezember 1972 die Möglichkeit gesehen hat, daß der Kläger in keiner Weise krankenversichert war. Der letztgenannte Mangel haftet auch der Entscheidung des Landgerichts an. Das Berufungsurteil enthält zwar eine eingehende und sorgfältige Würdigung des Sachverhalts. Es hat aber gleichfalls die schon vor dem Inkrafttreten des § 14 SGB I bestehenden Beratungspflichten der Beklagten, die über ihren unmittelbaren Sozialleistungsbereich hinausgingen, nicht ausreichend berücksichtigt, die Fragestellung des Klägers in seinem Schreiben vom 15. August 1972 auf den engeren Leistungsbereich der Beklagten eingeschränkt und schließlich außer acht gelassen, daß die Beklagte selbst das völlige Fehlen eines Krankenversicherungsschutzes in ihre Erwägungen einbezogen hatte. Das Bundessozialgericht hat in seinem Beschluß vom 12. Dezember 1984 die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers mangels grundsätzlicher Bedeutung der Sache und mangels Urteilsdivergenz zurückgewiesen, ohne sich inhaltlich zu dem Urteil der Vorinstanz zu äußern.

4. Die Kausalität des Fehlverhaltens der Beklagten für seinen Schaden – entgangener Krankenversicherungsschutz, entgangene Rente seit 1972 – hat der Kläger mit der Behauptung begründet, er hätte den Rentenantrag aufrechterhalten, wenn er entsprechend unterrichtet worden wäre. Das erscheint zumindest naheliegend. Daß jedenfalls der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit seit dem 4. Mai 1972 vorgelegen hat, ergibt sich aus dem Bescheid der Beklagten vom 14. September 1978. Damit mußte dem Kläger auch der Schutz in der Krankenversicherung der Rentner zukommen. Ob der Kläger aufgrund der Verletzung der Beratungs- und Betreuungspflicht auch weitergehend einen Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit hatte, muß der weiteren Prüfung des Berufungsgerichts vorbehalten bleiben, das insoweit noch keine Feststellungen getroffen hat. Dies gilt auch für die Frage, ab wann der Kläger bei pflichtgemäßem Verhalten der Beklagten Anspruch auf Krankenversicherungs- und Rentenleistungen gehabt hätte und inwieweit sein Schaden durch den von der Haftpflichtversicherung des Unfallgegners gezahlten Betrag abgedeckt worden ist.

5. Auf die Frage, ob der mögliche Schadensersatzanspruch verjährt ist (§ 852 Abs. 1 BGB), ist das Berufungsgericht – von seinem Standpunkt aus zu Recht – nicht eingegangen.

Der Kläger hat nach seinem Vorbringen 1978 von den entgangenen Versicherungsleistungen erfahren und sodann den verbindlichen Bescheid vom 14. September 1978 über eine ab 1. Februar 1978 zu gewährende Berufsunfähigkeitsrente für den am 4. Mai 1972 eingetretenen Versicherungsfall erwirkt. Er hat – für den Fall, daß die Verjährungsfrist bereits lief, mit verjährungsunterbrechender Wirkung (Senat BGHZ 103, 242, 246) – sozialgerichtlichen Rechtsschutz gesucht, nachdem sein Antrag auf Erstattung der Kosten für die Heilbehandlung und auf eine Versichertenrente bereits für die Zeit ab 1972 zurückgewiesen worden war. Das Landessozialgericht hat einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch verneint; dieses Urteil ist durch den Beschluß des Bundessozialgerichts vom 12. Dezember 1984 rechtskräftig geworden. Demgegenüber wäre die am 22. Dezember 1989 bei Gericht eingegangene Amtshaftungsklage verspätet.

Eine Inanspruchnahme der Beklagten, deren Mitarbeitern nach dem Vortrag des Klägers lediglich Fahrlässigkeit zur Last fällt, kommt nur dann in Betracht, wenn der Kläger nicht auf andere Weise Ersatz zu erlangen vermag (§ 839 Abs. 1 Satz 2 BGB). Dies bedeutet, daß die Verjährung erst mit der Kenntnis des Klägers beginnt, daß er auf andere Weise keinen Ersatz verlangen kann, oder in dem Zeitpunkt, in dem er sich im Prozeßwege oder auf andere Weise hinreichende Klarheit verschaffen konnte, ob und in welcher Höhe ihm ein anderer Ersatzanspruch zusteht (Senat BGHZ 121, 65, 71).

Nach seinem Vorbringen hat der Kläger den ihm entstandenen Schaden durch die Haftpflichtversicherung des Unfallbeteiligten nicht in voller Höhe ersetzt erhalten, weil die Höchstsumme der Versicherung überschritten war, und die Autostrada del Brennero wegen unzureichender Bauabsperrung an der Unfallstelle klageweise auf Schadensersatz in Anspruch genommen. Die gegen die Autostrada del Brennero erhobene Klage ist indessen nach dem Vortrag des Klägers nach 20jähriger Prozeßdauer erst durch Urteil des Kassationsgerichts in Rom, das ihm im Januar 1993 zugestellt worden sein soll, endgültig abgewiesen worden. Da nichts dafür vorgetragen ist, daß dem Kläger zu einem bestimmten früheren Zeitpunkt die Aussichtslosigkeit dieser Rechtsverfolgung hinreichend deutlich sein mußte, kann das angefochtene Urteil nicht mit der Begründung aufrechterhalten werden, Amtshaftungsansprüche des Klägers seien verjährt.

6. Ob die Beklagte auch gegen Normen des europäischen Gemeinschaftsrechts verstoßen hat, die den Kläger schützen sollen, bedarf keiner Entscheidung.

 

Unterschriften

Rinne, Werp, Wurm, Dörr, Ambrosius

 

Veröffentlichung

Veröffentlicht am 06.02.1997 durch Freitag Justizamtsinspektor als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle

 

Fundstellen

NWB 1997, 1204

BGHR

NVwZ 1997, 1243

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