Verfahrensgang

LG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 15.07.2021; Aktenzeichen 5/14 KLs 14/20)

 

Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 15. Juli 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts Wiesbaden zurückverwiesen.

 

Gründe

Rz. 1

Das Landgericht hat den Angeklagten im ersten Rechtsgang wegen versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Jugendlichen in sechs Fällen, versuchten sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen, Sich-Bereiterklärens zum schweren sexuellen Missbrauch von Kindern in sieben Fällen, versuchten sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen in siebenundzwanzig Fällen sowie wegen Sich-Verschaffens von kinderpornographischen Schriften und Besitzes von kinderpornographischen Schriften zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt; außerdem hat es die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Der Senat hat dieses Urteil durch Beschluss vom 16. September 2020 ‒ 2 StR 529/19 (NStZ-RR 2021, 45 f.), berichtigt durch Beschluss vom 7. Juli 2021, im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte wegen versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Jugendlichen in sechs Fällen, des versuchten sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen, des Sich-bereit-Erklärens zum schweren sexuellen Missbrauch von Kindern in sieben Fällen, des versuchten sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen in 19 Fällen, des Sichverschaffens kinderpornographischer Schriften und des Besitzes kinderpornographischer Schriften schuldig ist. Aufgehoben hat der Senat das Urteil mit den Feststellungen im Ausspruch über die Einzelstrafen, mit Ausnahme der Einzelstrafe im Fall 46 der Urteilsgründe, ferner im Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe und die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung sowie der Anordnung der Einziehung von „E-Mail-Postfächern“. Nunmehr hat das Landgericht neue Einzelstrafen und eine Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und neun Monaten gebildet sowie erneut die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Dagegen richtet sich die ursprünglich auf Verfahrensrügen und die Sachbeschwerde gestützte Revision des Angeklagten; die Verfahrensrügen hat er wirksam zurückgenommen. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg.

I.

Rz. 2

Die Strafzumessung des Landgerichts ist rechtsfehlerhaft. Es hat rechtsfehlerhaft nicht geprüft, ob die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur jeweiligen Tatzeit im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war.

Rz. 3

1. Das Landgericht hat bei der Prüfung der Voraussetzungen für die Anordnung der Maßregel Ausführungen zur psychischen Disposition des Angeklagten gemacht. Dabei hat es festgestellt, dass bei ihm eine Pädophilie als Nebenströmung vorliege, ferner eine Persönlichkeitsstörung in Form einer „Psychopathie“ mit ausgeprägtem Narzissmus und ausgeprägt manipulativem Verhalten. Diese Störung begründe einen Hang des Angeklagten zur Begehung sexueller Missbrauchstaten zum Nachteil von Kindern oder Jugendlichen.

Rz. 4

2. Diese Feststellung hätte von der Strafkammer zum Anlass dafür genommen werden müssen, den festgestellten psychopathologischen Befund im Hinblick auf das Vorliegen einer schweren anderen seelischen Störung im Sinne von § 20, § 21 StGB zur jeweiligen Tatzeit zu überprüfen.

Rz. 5

a) Früher wurde davon ausgegangen, dass die schweren anderen seelischen Störungen im Sinne des vierten Eingangsmerkmals nach § 20 StGB namentlich Psychopathien, Neurosen oder Triebstörungen umfassen (vgl. BGH, Urteil vom 26. August 1997 ‒ 1 StR 383/97, NStZ 1998, 30). Heute wird anstelle der Kategorie der „Psychopathie“ (vgl. D. Schmid, Krank oder böse? Die Schuldfähigkeit und die Sanktionenindikation dissozial persönlichkeitsgestörter Straftäter und delinquenter „Psychopaths“ sowie die Zusammenarbeit von Jurisprudenz und Psychiatrie bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit, 2009, S. 107 ff.) vorzugsweise die Frage nach dem Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung gestellt, die sich im Hinblick auf die Symptomkataloge teilweise von der Psychopathie unterscheidet. Eine Nachprüfung anhand der heute gebräuchlichen internationalen Klassifikation der Krankheiten („International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“ ‒ lCD-10) oder des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-5) hat das Landgericht nicht vorgenommen.

Rz. 6

b) Zwar bildet weder die Feststellung des Vorliegens einer Psychopathie (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Juli 1997 ‒ 4 StR 303/97, NStZ-RR 1998, 106), noch diejenige des Vorliegens einer Persönlichkeitsstörung im Sinne der internationalen Klassifikationen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. November 2004 ‒ 2 StR 367/04, BGHSt 49, 347, 352) für sich genommen ein Eingangsmerkmal im Sinne von § 20, § 21 StGB. Jedoch ist das Vorliegen eines solchen Befundes vom Tatgericht regelmäßig darauf zu überprüfen, ob der Schweregrad einer erkannten Störung dazu ausreicht, von einer schweren anderen seelischen Störung auszugehen. Auch das Zusammentreffen der festgestellten Psychopathie mit einer Pädophilie, wenngleich diese nach den Urteilsfeststellungen nur im Sinne einer Nebenströmung vorliegt, hätte dem Tatgericht in besonderer Weise dazu Anlass geben müssen, der Frage nach der Möglichkeit einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur jeweiligen Tatzeit nachzugehen. Daran fehlt es im angefochtenen Urteil.

II.

Rz. 7

1. Der Rechtsfehler zwingt zur Aufhebung der verbliebenen Einzelstrafen und der Gesamtstrafe.

Rz. 8

2. Zugleich kann die Maßregelanordnung, die das Landgericht nach § 66 Abs. 1 und Abs. 2 StGB getroffen hat, wegen Wegfalls der Begleitfreiheitsstrafen nicht aufrechterhalten werden. Auch die Maßregel bedarf daher neuer Prüfung und Entscheidung.

Rz. 9

3. Der Tatrichter wird bei seiner Rechtsfolgenentscheidung schließlich die lange Dauer des Revisionsverfahrens zu berücksichtigen haben.

III.

Rz. 10

Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, die Sache gemäß § 354 Abs. 2 Satz 1 Var. 2 StPO an ein anderes Landgericht zurückzuverweisen.

Rz. 11

Es empfiehlt sich für das neue Tatgericht, anstelle der zuletzt gehörten psychologischen Psychotherapeutin einen forensisch-psychiatrischen Sachverständigen hinzuzuziehen.

Krehl     

Eschelbach     

Zeng   

Schmidt     

Lutz     

 

Fundstellen

Haufe-Index 16183981

StV 2024, 295

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