Entscheidungsstichwort (Thema)

Versäumung der Berufungsfrist. Sachlich zuständiges Berufungsgericht. Zahlung von Hausgeld. Wohnungseigentumssache. Berufung bei unzuständigem Gericht. Abweichende Berufungszuständigkeit in Oberlandesgerichtsbezirk

 

Leitsatz (amtlich)

a) Die Berufung in einer Wohnungseigentumssache kann auch dann nur bei dem sachlich zuständigen LG fristwahrend eingelegt werden, wenn in dem betreffenden Oberlandesgerichtsbezirk aufgrund einer Rechtsverordnung nach § 72 Abs. 2 Sätze 2 und 3 GVG nicht das für den Sitz des OLG zuständige LG, sondern ein anderes LG für diese Berufungen zuständig ist.

b) Die Versäumung der Berufungsfrist ist nicht unverschuldet, wenn sie darauf beruht, dass das Vorhandensein einer abweichenden Zuständigkeitsregelung und ihr Inhalt nicht geprüft wurden.

 

Normenkette

GVG § 72 Abs. 2 Sätze 2-3

 

Verfahrensgang

LG Aurich (Beschluss vom 27.10.2009; Aktenzeichen 4 S 177/09)

AG Delmenhorst (Urteil vom 05.05.2009; Aktenzeichen 5a C 6079/08 (VIII))

 

Tenor

Die Rechtsbeschwerde der Beklagten gegen den Beschluss der 4. Zivilkammer des LG Aurich vom 27.10.2009 (4 S 177/09) wird auf ihre Kosten als unzulässig verworfen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 1.306,28 EUR.

 

Gründe

I.

Rz. 1

Das AG hat die Beklagte durch ein ihren Prozessbevollmächtigten erster Instanz am 25.5.2009 zugestelltes Urteil verurteilt, an die Klägerin 1.306,28 EUR rückständiges Hausgeld nebst Zinsen zu zahlen. Gegen dieses Urteil hat die Beklagte zunächst mit einem am 25.6.2009 eingegangenen Schriftsatz bei dem unzuständigen LG Oldenburg und sodann mit einem am 10.7.2009 eingegangenen Schriftsatz bei dem zuständigen LG Aurich Berufung eingelegt. Sie hat die zweite Berufung mit einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist verbunden und dazu vorgetragen, ihre Prozessbevollmächtigten hätten von der abweichenden Regelung der Berufungszuständigkeit in den Wohnungseigentumssachen für den Oberlandesgerichtsbezirk Oldenburg nichts gewusst und auch nichts wissen müssen. Das LG hat den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Dagegen wendet sich die Beklagte mit der Rechtsbeschwerde.

II.

Rz. 2

Die Rechtsbeschwerde ist unzulässig.

Rz. 3

1. Sie ist zwar nach §§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO von Gesetzes wegen statthaft. Zulässig ist sie aber nach § 574 Abs. 2 ZPO nur, wenn auch die dort bestimmten weiteren Voraussetzungen gegeben sind. Das ist nicht der Fall.

Rz. 4

2. Die Sache hat keine grundsätzliche Bedeutung (§ 574 Abs. 2 Nr. 1 ZPO). Eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegericht ist weder zur Fortbildung des Rechts noch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO), und zwar auch nicht deshalb (dazu: BGH BGHZ 151, 221 [227]Beschl. v. 23.10.2003 - V ZB 28/03NJW 2004, 367 [368]; Beschl. v. 13.5.2004 - V ZB 62/03NJW-RR 2004, 1217), weil die Anforderungen, die das Rechtsbeschwerdegericht stellt, überzogen wären und der Beklagten den Zugang zu der an sich gegebenen Berufung unzumutbar erschwerten (vgl. dazu: BVerfGE 40, 88 [91]; 67, 208, 212 f.; BVerfG NJW 1996, 2857; 2000, 1636; 2001, 1566FamRZ 2002, 533; BGH, Beschl. v. 23.10.2003 - V ZB 28/03NJW 2004, 367 [368]).

Rz. 5

a) Die Beklagte hat die Berufungsfrist versäumt, weil ihre Prozessbevollmächtigten die Berufungsschrift am Abend des letzten Tags der Frist und damit zu einem Zeitpunkt bei dem unzuständigen LG Oldenburg eingereicht haben, zu dem mit einer fristgerechten Weiterleitung an das zuständige LG Aurich im normalen Geschäftsgang (zu diesem Erfordernis: BGH, Beschl. v. 27.7.2000 - III ZB 28/00, NJW-RR 2000, 1730 [1731]) nicht mehr zu rechnen war. Die Zulässigkeit der Berufung hing deshalb entscheidend davon ab, ob die Berufungsfrist durch fristgerechte Einreichung bei dem unzuständigen LG Oldenburg gewahrt werden konnte und verneinendenfalls, ob der Beklagten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist zu gewähren war. Beides hat das Berufungsgericht verneint.

Rz. 6

b) Das entspricht in der Sache der Rechtsprechung des BGH, die weder fortzubilden noch zu ergänzen ist und auch die Anforderungen an die Einlegung von Rechtsmitteln nicht überspannt.

Rz. 7

aa) Die Entscheidung des Berufungsgerichts enthält zwar keine Darstellung des Sachverhalts, die sie allerdings, was der Rechtsbeschwerde zuzugeben ist, enthalten muss. Ohne eine solche Darstellung ist das Rechtsbeschwerdegericht, das grundsätzlich von dem durch das Berufungsgericht festgestellten Sachverhalt auszugehen hat (§§ 577 Abs. 2 Satz 1 u. 4, 559 ZPO), nämlich zu einer rechtlichen Überprüfung des angefochtenen Beschlusses regelmäßig nicht in der Lage (BGH, Beschl. v. 7.5.2009 - V ZB 180/08, JurBüro 2009, 442, insoweit nur bei juris; Beschl. v. 10.12.2009 - V ZB 67/09ZfIR 2010, 187, 188). Hier hindert das Fehlen einer Sachdarstellung aber eine Entscheidung über die Rechtsbeschwerde (nur deshalb) nicht, weil den Gründen der angefochtenen Entscheidung mit gerade noch ausreichender Deutlichkeit zu entnehmen ist, dass es sich um eine wohnungseigentumsrechtliche Streitigkeit handelt und die Beklagte die Berufung innerhalb der Frist nicht bei dem nach § 2a nds. ZustVO-Justiz 1998 (jetzt: § 10 nds. ZustVO-Justiz 2009) zuständigen LG Aurich eingereicht hat.

Rz. 8

bb) In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats nimmt das Berufungsgericht an, dass die Berufung der Beklagten fristwahrend nur durch rechtzeitige Einreichung der Berufungsschrift bei dem sachlich zuständigen LG Aurich eingelegt werden konnte.

Rz. 9

(1) Der Senat hat entschieden, dass die Berufung in einer Streitigkeit nach § 43 Nr. 2 WEG fristwahrend nur bei dem nach § 72 Abs. 2 GVG zuständigen Berufungsgericht eingelegt werden kann (Beschl. v. 10.12.2009 - V ZB 67/09ZfIR 2010, 187, 188; vgl. auch BGH, Beschl. v. 19.2.2009 - V ZB 188/08NJW 2009, 1282 f.). Entschieden hat er ferner, dass eine bei einem danach unzuständigen Berufungsgericht eingelegte Berufung nicht nach näherer Maßgabe von § 281 ZPO an das zuständige Berufungsgericht verwiesen werden kann, sondern als unzulässig zu verwerfen ist, wenn sie dort verspätet eingeht (BGH, Beschl. v. 10.7.1996 - XII ZB 90/95NJW-RR 1997, 55 f.; Beschl. v. 19.6.2007 - VI ZB 3/07NJW-RR 2007, 1436 [1437]; BGH, Beschl. v. 10.12.2009 - V ZB 67/09ZfIR 2010, 187, 188). Etwas anderes gilt nach der Rechtsprechung des Senats nur, wenn die Frage, ob eine Streitigkeit im Sinne der genannten Regelungen vorliegt, für bestimmte Fallgruppen noch nicht höchstrichterlich geklärt ist und man über deren Beantwortung mit guten Gründen unterschiedlicher Auffassung sein kann (Beschl. v. 10.12.2009 - V ZB 67/09ZfIR 2010, 187, 188). Der Senat hat seine Auslegung der Vorschrift schließlich auch unter dem von der Rechtsbeschwerde im vorliegenden Verfahren noch einmal problematisierten Gesichtspunkt einer mit Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbaren Zugangshürde überprüft und sie für unbedenklich gehalten. Ausschlaggebend ist dabei die Überlegung, dass sich die Parteien in der Berufungsinstanz durch Rechtsanwälte vertreten lassen müssen, die mit den Erfordernissen des Berufungsverfahrens vertraut sind und die anhand der Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes und der dieses ergänzenden landesrechtlichen Bestimmungen in der Regel unschwer das richtige Rechtsmittelgericht feststellen können (Beschl. v. 10.12.2009 - V ZB 67/09a.a.O.). Gesichtspunkte, die eine andere Beurteilung erfordern oder nahe legen, zeigt die Rechtsbeschwerde nicht auf.

Rz. 10

(2) An die Vorgaben der Rechtsprechung des Senats hat sich das Berufungsgericht gehalten. Die Streitigkeit zwischen der Klägerin als Gemeinschaft der Wohnungseigentümer und der Beklagten als Eigentümer einer Eigentumswohnung in der Wohnanlage über das Hausgeld ist eine wohnungseigentumsrechtliche Streitigkeit nach § 43 Nr. 2 WEG. Darüber kann ernsthaft nicht gestritten werden. Die Beklagte hat dies in dem bisherigen Verfahren nicht in Zweifel gezogen und ist auch in der Begründung ihres Wiedereinsetzungsantrags von einer wohnungseigentumsrechtlichen Streitigkeit ausgegangen. Zuständiges Berufungsgericht ist damit, was auch die Beklagte angenommen hat, das für den Sitz des OLG zuständige LG, es sei denn, dass aufgrund der Ermächtigung in § 72 Abs. 2 Sätze 2 und 3 GVG (bis zum 31.8.2009: § 72 Abs. 2 Sätze 3 und 4 GVG) eine abweichende Zuständigkeitsregelung getroffen worden ist. Das ist in Niedersachsen für den Bezirk des OLG Oldenburg der Fall. Nach dem hier noch maßgeblichen § 2a ZustVO-Justiz ist im Bezirk des OLG Oldenburg seit dem 1.8.2007 (vgl. Art. 2 der Verordnung vom 20.7.2007, nds. GVBl. S. 343) nicht das LG Oldenburg, sondern das LG Aurich für Berufungen gegen Urteile der AG in Wohnungseigentumssachen zuständig. Die Ausnutzung der Ermächtigung in § 72 Abs. 2 Sätze 2 und 3 GVG durch das Land Niedersachsen und der Inhalt der getroffenen Regelung waren unschwer festzustellen. In der im Jahr 2008 erschienenen 10. Aufl. des bekanntesten Kommentar zum Wohnungseigentumsgesetz von Bärmann wird auf diese Änderungsmöglichkeit und auf die in der Neuen Juristischen Wochenschrift im Jahr 2008 veröffentlichte Liste der Berufungs- und Beschwerdegerichte in WEG-Sachen (NJW 2008, 1790) hingewiesen (WenzelWEG, 10. Aufl., § 43 Rz. 17), in welcher die abweichende Regelung für den Oberlandesgerichtsbezirk Oldenburg angeführt wird. Die Regelung selbst ist über die Datenbank Juris oder die kostenfrei nutzbare Vorschriftendatenbank des Landes Niedersachsen (www.nds-voris.de), die in die Internetseiten des Landes Niedersachsen und des niedersächsischen Justizministeriums eingebunden ist, mit wenigen Handgriffen aufzufinden.

Rz. 11

cc) Zutreffend hat das Berufungsgericht der Beklagten schließlich auch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist versagt. An der Einhaltung dieser Frist war die Beklagte nämlich nicht, wie es § 233 ZPO verlangt, ohne ihr Verschulden gehindert. Sie beruht vielmehr auf einem Versäumnis ihrer Prozessbevollmächtigten, das sich die Beklagte nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen muss.

Rz. 12

(1) In der Rechtsprechung des BGH ist anerkannt, dass der Rechtsanwalt die Berufungsschrift auf ihre Richtigkeit überprüfen muss (BGH, Beschl. v. 13.7.1988 - VIII ZR 65/88, NJW-RR 1988, 1528 [1529]; Beschl. v. 4.11.1992 - XII ZB 120/92, NJW-RR 1993, 254 [255]; BGH, Beschl. v. 5.3.2009 - V ZB 153/08NJW 2009, 1750 [1751]; Musielak/Grandel, ZPO, 6. Aufl., § 233 Rz. 45). Dazu gehört neben der Bezeichnung der Parteien (BGH, Beschl. v. 24.11.1981 - VI ZB 11/81, VersR 1982, 191) auch die Bezeichnung des zuständigen Gerichts (BGH, Beschl. v. 7.10.1987, IVb ZB 99/87, VersR 1988, 251; Beschl. v. 8.12.1992 - VI ZB 33/92, VersR 1993, 1381 f.; BGH, Beschl. v. 5.3.2009 - V ZB 153/08NJW 2009, 1750 [1751]). Die dafür erforderliche rechtliche Prüfung der Zuständigkeit ist ein - zudem nicht delegierbarer - Kernbestandteil der Berufungsschrift, die der Rechtsanwalt in jedem Fall vor Einreichung der Berufungsschrift und auch selbst vornehmen muss (BGH, Beschl. v. 5.3.2009 - V ZB 153/08a.a.O.). Dazu gehört bei einer bundesrechtlichen Zuständigkeitsregelung, die abweichende Regelungen durch das Landesrecht zulässt, auch die Prüfung, ob das betreffende Land hiervon Gebrauch gemacht hat (LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 13.1.2009 - 5 S 200/08, juris).

Rz. 13

(2) Diese Prüfung haben die Prozessbevollmächtigten der Beklagten nicht, jedenfalls nicht mit der gebotenen Sorgfalt vorgenommen. Sie haben ihre Prüfung bei § 72 Abs. 2 Satz 1 GVG abgebrochen und es versäumt zu prüfen, ob die Landesregierung oder die Landesjustizverwaltung des Landes Niedersachsen von ihrer Kompetenz nach § 72 Abs. 2 Sätze 2 und 3 GVG Gebrauch gemacht hat, die Zuständigkeit für die Berufung in Wohnungseigentumssachen auf ein anderes LG im Bezirk des OLG zu übertragen. Diese Prüfung drängte sich schon nach dem Text der Vorschrift auf (zu diesem Gesichtspunkt: BGH, Beschl. v. 20.4.1979 - IV ZB 84/78, NJW 1979, 1414). Sie war, wie aufgezeigt, auch ohne Weiteres möglich. Eine fristgerechte Weiterleitung der Berufungsschrift durch das zunächst angerufene unzuständige LG schied aus, weil die Berufungsschrift dort erst am Abend des letzten Tages der Frist in den Nachtbriefkasten eingeworfen worden war.

III.

Rz. 14

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2336461

DStR 2010, 14

NJW 2010, 8

EBE/BGH 2010

NJW-RR 2010, 1096

NZM 2010, 445

ZMR 2010, 624

ZfIR 2010, 379

JZ 2010, 381

MDR 2010, 887

WuM 2010, 319

GuT 2010, 378

MietRB 2010, 170

NJW-Spezial 2010, 387

PA 2010, 177

BRAK-Mitt. 2010, 168

IWR 2010, 64

Rafa-Z 2011, 9

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