Leitsatz (amtlich)

Die Bestellung eines Verfahrenspflegers für den Betroffenen ist nach § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG regelmäßig schon dann geboten, wenn der Verfahrensgegenstand die Anordnung einer Betreuung in allen Angelegenheiten als möglich erscheinen lässt (im Anschluss an BGH v. 16.3.2016 - XII ZB 203/14 2016, 1828; v. 30.10.2019 - XII ZB 144/19 - juris).

 

Normenkette

FamFG §§ 276, 293

 

Verfahrensgang

LG Bamberg (Beschluss vom 12.03.2019; Aktenzeichen 43 T 31/19)

AG Forchheim (Entscheidung vom 22.01.2019; Aktenzeichen 2 XVII 110/06)

 

Tenor

Dem Betroffenen wird als Beschwerdeführer für das Verfahren der Rechtsbeschwerde ratenfreie Verfahrenskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt beigeordnet (§§ 76 Abs. 1, 78 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 114 ZPO).

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 4. Zivilkammer des LG Bamberg vom 12.3.2019 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das LG zurückverwiesen.

Wert: 5.000 EUR

 

Gründe

I.

Rz. 1

Der Betroffene wendet sich gegen die Erweiterung seiner Betreuung.

Rz. 2

Für den Betroffenen ist seit Juni 2006 eine Betreuung eingerichtet. Die Betreuerin hat die Erweiterung der Betreuung um die Aufgabenbereiche Gesundheitssorge einschließlich hiermit verbundener Aufenthaltsbestimmung und Wohnungsangelegenheiten beantragt. Nachdem das AG den Betroffenen, der zunächst mit der Erweiterung seiner Betreuung einverstanden war, angehört hatte, hat es die Betreuung antragsgemäß erweitert, die nunmehr insgesamt folgenden Aufgabenkreis umfasst: Vertretung in Nachlassangelegenheiten, Entgegennahme und Öffnen sowie Anhalten der Post in dem übertragenen Aufgabenkreis, Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgern sowie Gerichten, Vermögenssorge, Wohnungsangelegenheiten und Gesundheitssorge einschließlich hiermit verbundener Aufenthaltsbestimmung. Das LG hat die Beschwerde des Betroffenen zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich dieser mit seiner Rechtsbeschwerde. Weder das AG noch das LG haben dem Betroffenen einen Verfahrenspfleger bestellt.

II.

Rz. 3

Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das LG.

Rz. 4

1. Das LG hat seine Entscheidung wie folgt begründet: Die Voraussetzungen für beide, die bisherige Betreuung erweiternde Aufgabenbereiche lägen vor. Insbesondere sei der Betroffene aufgrund seiner Intelligenzminderung (IQ von 56) und den sich daraus ergebenden Verhaltensweisen beim Umgang im sozialen Umfeld nicht in der Lage, selbst diese Angelegenheiten zu regeln.

Rz. 5

Die notwendige Anhörung des Betroffenen sei vom AG durchgeführt worden. Angesichts dieser nur kurze Zeit zurückliegenden Anhörung, des Fehlens weiterer entscheidungserheblicher neuer Tatsachen seit der durchgeführten Anhörung und des aufgrund ausführlicher Dokumentation gut nachvollziehbaren Inhalts des Gesprächs habe von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abgesehen werden können.

Rz. 6

2. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass die Bestellung eines Verfahrenspflegers verfahrensfehlerhaft unterblieben ist.

Rz. 7

a) Ebenso wie für die Verlängerung einer Betreuung (§ 295 Abs. 1 Satz 1 FamFG) gelten auch für die Erweiterung des Aufgabenkreises des Betreuers (§ 293 Abs. 1 Satz 1 FamFG) die Vorschriften über die Anordnung dieser Maßnahmen entsprechend. Gemäß dem danach entsprechend anwendbaren § 276 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat das Gericht dem Betroffenen einen Verfahrenspfleger zu bestellen, wenn dies zur Wahrnehmung seiner Interessen erforderlich ist. Nach § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG ist die Bestellung in der Regel erforderlich, wenn Gegenstand des Verfahrens die Bestellung eines Betreuers zur Besorgung aller Angelegenheiten des Betroffenen oder die Erweiterung des Aufgabenkreises hierauf ist. Nach diesen Maßgaben ist die Bestellung eines Verfahrenspflegers für den Betroffenen regelmäßig schon dann geboten, wenn der Verfahrensgegenstand die Anordnung einer Betreuung in allen Angelegenheiten als möglich erscheinen lässt. Für einen in diesem Sinne umfassenden Verfahrensgegenstand spricht, dass die Betreuung auf einen Aufgabenkreis erstreckt wird, der in seiner Gesamtheit alle wesentlichen Bereiche der Lebensgestaltung des Betroffenen umfasst. Selbst wenn dem Betroffenen nach der Entscheidung letztlich einzelne restliche Bereiche zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung verblieben sind, entbindet dies jedenfalls dann nicht von der Bestellung eines Verfahrenspflegers, wenn die verbliebenen Befugnisse dem Betroffenen in seiner konkreten Lebensgestaltung keinen nennenswerten eigenen Handlungsspielraum belassen (BGH v. 16.3.2016 - XII ZB 203/14 2016, 1828 Rz. 8 f. m.w.N.; v. 30.10.2019 - XII ZB 144/19 - juris Rz. 7).

Rz. 8

Gemäß § 276 Abs. 2 Satz 1 FamFG kann von der Bestellung in den Fällen des Abs. 1 Satz 2 abgesehen werden, wenn ein Interesse des Betroffenen an der Bestellung des Verfahrenspflegers offensichtlich nicht besteht. Eine Verfahrenspflegschaft ist nicht anzuordnen, wenn sie nach den gegebenen Umständen einen rein formalen Charakter hätte. Ob es sich um einen solchen Ausnahmefall handelt, ist anhand der gem. § 276 Abs. 2 Satz 2 FamFG vorgeschriebenen Begründung zu beurteilen. Es unterfällt der Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht, ob die den Tatsacheninstanzen obliegende Entscheidung ermessensfehlerfrei getroffen worden ist (BGH v. 16.3.2016 - XII ZB 203/14 2016, 1828 Rz. 8 m.w.N.; v. 30.10.2019 - XII ZB 144/19 - juris Rz. 8).

Rz. 9

b) Gemessen hieran ist es verfahrensfehlerhaft, dass die Instanzgerichte von der Bestellung eines Verfahrenspflegers abgesehen haben.

Rz. 10

Maßgeblich für die hier zu beantwortende Frage der Bestellung eines Verfahrenspflegers ist, ob die Erweiterung des Aufgabenkreises aus Sicht des Betreuungsgerichts eine umfassende Betreuung als möglich erscheinen lässt (vgl. BGH, Beschl. v. 4.8.2010 - XII ZB 167/10 FamRZ 2010, 1648 Rz. 11). Der danach von der Betreuung erfasste umfangreiche Aufgabenkreis verdeutlicht, dass der Betreuer in allen wesentlichen Lebensbereichen maßgeblichen Einfluss auf die Lebensgestaltung des Betroffenen hat. Da die Interessen des Betroffenen im Betreuungsverfahren nicht von einem Rechtsanwalt oder einem anderen geeigneten Verfahrensbevollmächtigten gem. § 276 Abs. 4 FamFG vertreten worden sind, hätte nach § 276 Abs. 2 Satz 1 FamFG nur unter den bereits genannten Voraussetzungen von der Bestellung eines Verfahrenspflegers abgesehen werden können (vgl. BGH v. 16.3.2016 - XII ZB 203/14 2016, 1828 Rz. 11 m.w.N.; v. 30.10.2019 - XII ZB 144/19 - juris Rz. 10). Eine Abweichung vom Regelfall des § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG liegt hier schon deshalb fern, weil der Betroffene nach den getroffenen Feststellungen unter einer Intelligenzminderung (IQ von 56) leidet, die es ihm zusätzlich erschwert, sich in dem Betreuungsverfahren in hinreichender Weise Gehör zu verschaffen.

Rz. 11

Indessen enthält weder der angefochtene Beschluss des LG noch die Entscheidung des AG eine Begründung für die unterbliebene Bestellung eines Verfahrenspflegers. Deshalb lässt sich nicht feststellen, aus welchen Erwägungen von der Anordnung einer Verfahrenspflegschaft abgesehen worden ist, und somit auch nicht, ob diese Entscheidung ermessensfehlerfrei zustande gekommen ist. Der angefochtene Beschluss ist demzufolge verfahrensfehlerhaft ergangen.

Rz. 12

3. Die Zurückverweisung gibt dem LG Gelegenheit, Feststellungen zum Fehlen des freien Willens gem. § 1896 Abs. 1a BGB zu treffen und dem Sachverständigen aufzugeben, sein Gutachten auch auf den Bereich der Wohnungsangelegenheiten zu erstrecken. Weil der Beweisbeschluss des AG vom 12.12.2018 diesen Aufgabenbereich nicht erfasst, hat der Sachverständige hierzu folgerichtig auch keine Ausführungen gemacht. Deswegen wird das LG den Betroffenen auch erneut anzuhören haben. Außerdem wird das LG dafür Sorge zu tragen haben, dass dem - gem. § 275 FamFG verfahrensfähigen - Betroffenen das Sachverständigengutachten bekanntgegeben wird.

Rz. 13

Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen, § 74 Abs. 7 FamFG.

 

Fundstellen

NJW 2020, 8

FamRZ 2020, 538

FuR 2020, 236

BtPrax 2020, 73

MDR 2020, 435

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