Entscheidungsstichwort (Thema)

Kapitalanleger-Musterverfahren. Bindungswirkung. Sperrwirkung gegen identischen Vorlagebeschluss

 

Leitsatz (amtlich)

Die Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses für das OLG besteht nicht, wenn das Prozessgericht i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 1 KapMuG in demselben Musterverfahren bereits zuvor einen Vorlagebeschluss mit identischem Feststellungsziel erlassen hat. In diesem Fall steht die Sperrwirkung des § 5 KapMuG dem Erlass eines weiteren Vorlagebeschlusses entgegen.

 

Normenkette

KapMuG § 4 Abs. 1 S. 2 Hs. 2, § 5

 

Verfahrensgang

OLG München (Beschluss vom 07.03.2011; Aktenzeichen KAP 2/10)

LG München I (Beschluss vom 28.07.2010; Aktenzeichen 27 O 13854/06)

 

Tenor

Die Rechtsbeschwerden der Kläger gegen den Beschluss des Senats für Kapitalanleger-Musterverfahren des OLG München vom 7.3.2011 werden zurückgewiesen.

Der Streitwert für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird auf 52.631,58 EUR festgesetzt.

 

Gründe

Rz. 1

I. Die Rechtsbeschwerdeführer machen vor dem LG Schadensersatzansprüche wegen einer unzutreffenden Ad-hoc-Mitteilung der Beklagten zu 1) geltend. Auf den Musterfeststellungsantrag der Kläger hat das LG mehrere Vorlagebeschlüsse mit gleichlautendem Feststellungsziel erlassen, um vom OLG beanstandete Fehler des ersten Vorlagebeschlusses zu berichtigen.

Rz. 2

Das LG hat am 12.11.2009 zunächst nach § 4 Abs. 1 Satz 1 KapMuG beschlossen, eine Entscheidung des OLG "herbeizuführen zur beantragten Feststellung, dass die Ad-hoc-Mitteilung vom 22.3.2000 unrichtig war und hierdurch gegen die Beklagten zu 1) und 3) Schadensersatzansprüche aus § 826 BGB wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung begründet werden." Mit Beschluss vom 11.3.2010 hat das OLG (OLG München ZIP 2011, 51) diesen Vorlagebeschluss in entsprechender Anwendung der für willkürlich ergangene Verweisungsbeschlüsse zu § 281 ZPO entwickelten Grundsätze aufgehoben und das Verfahren zur anderweitigen Prüfung und Entscheidung an das LG zurückgegeben. Dagegen haben die Kläger am 9.4.2010 die vom OLG zugelassene Rechtsbeschwerde eingelegt. Das LG hat sodann am 27.4.2010 und am 28.7.2010 weitere Vorlagebeschlüsse mit identischem Feststellungsziel erlassen. Den Vorlagebeschluss vom 27.4.2010 hat es mit Beschluss vom 20.1.2011 selbst wieder aufgehoben.

Rz. 3

Den Vorlagebeschluss vom 28.7.2010 hat das OLG mit Beschluss vom 7.3.2011 aufgehoben und das Verfahren zur anderweitigen Prüfung und Entscheidung an das LG zurückgegeben. Hiergegen richten sich die vom OLG zugelassenen Rechtsbeschwerden der Kläger. Den Beschluss des OLG vom 11.3.2010 zum Vorlagebeschluss des LG vom 12.11.2009 hat der erkennende Senat inzwischen aufgehoben und die Sache an das OLG zurückverwiesen (BGH, Beschl. v. 26.7.2011 - II ZB 11/10, ZIP 2011, 1790; zur Veröffentlichung in BGHZ bestimmt).

Rz. 4

II. Das OLG hat ausgeführt: Der Vorlagebeschluss vom 28.7.2010 sei schon deshalb aufzuheben, weil seinem Erlass die Sperrwirkung gem. § 5 KapMuG des Beschlusses vom 12.11.2009 entgegenstehe. Dieser Beschluss sei in demselben Ausgangsverfahren zwischen denselben Parteien ergangen und formuliere dasselbe Feststellungsziel. Leide der Vorlagebeschluss - wie hier der Beschl. v. 28.7.2010 - an schweren verfahrensrechtlichen Mängeln, entfalle die in § 4 Abs. 1 Satz 1 KapMuG angeordnete Bindung an den Vorlagebeschluss. Insoweit sei die Rechtsprechung zur Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses nach § 281 ZPO entsprechend heranzuziehen.

Rz. 5

III. Die Rechtsbeschwerden der Kläger sind statthaft und zulässig. Sie haben aber in der Sache keinen Erfolg. Die in § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 KapMuG angeordnete Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses für das OLG besteht nicht, wenn das Prozessgericht i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 1 KapMuG in demselben Musterverfahren bereits zuvor einen Vorlagebeschluss mit identischem Feststellungsziel erlassen hat. In diesem Fall steht die Sperrwirkung des § 5 KapMuG dem Erlass eines weiteren Vorlagebeschlusses entgegen.

Rz. 6

1. Die Rechtsbeschwerden sind statthaft, weil das OLG im ersten Rechtszug sie in dem angefochtenen Beschluss zugelassen hat (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO). Der Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerden steht nicht entgegen, dass der Vorlagebeschluss nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 KapMuG unanfechtbar ist. Dieser Ausschluss der Anfechtbarkeit gilt nur für den Vorlagebeschluss selbst, nicht aber für eine Entscheidung des OLG, mit der der Vorlagebeschluss aufgehoben wird (BGH, Beschl. v. 26.7.2011 - II ZB 11/10, ZIP 2011, 1790 Rz. 6; zur Veröffentlichung in BGHZ bestimmt).

Rz. 7

2. Die Rechtsbeschwerden sind unbegründet. Das OLG war entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerden nicht nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 KapMuG an der Aufhebung des Vorlagebeschlusses vom 28.7.2010 gehindert. Der Vorlagebeschluss des Prozessgerichts ist zwar nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 KapMuG für das OLG grundsätzlich bindend. Die Bindung gilt aber nicht uneingeschränkt.

Rz. 8

a) Der erkennende Senat hat sich im vorliegenden Musterverfahren bereits in seinem Beschluss vom 26.7.2011 (II ZB 11/10, ZIP 2011, 1790; zur Veröffentlichung in BGHZ bestimmt) damit befasst, ob der geltend gemachte Anspruch Gegenstand eines Musterverfahrens sein kann, ob das Feststellungsziel auf die Feststellung des Anspruchs selbst gerichtet ist und ob im Hinblick darauf die Bindungswirkung nicht besteht. Aus den im Beschluss vom 26.7.2011 angeführten Gründen, auf die wegen der insoweit identischen Vorlagebeschlüsse verwiesen werden kann, ist dies nicht der Fall.

Rz. 9

b) Dem Vorlagebeschluss vom 28.7.2010 kommt jedoch deshalb keine Bindungswirkung nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 KapMuG zu, weil das LG damit unter Verstoß gegen § 5 KapMuG in demselben Ausgangsverfahren mit denselben Parteien nach dem Vorlagebeschluss vom 12.11.2009 einen weiteren Vorlagebeschluss mit identischem Feststellungsziel erlassen hat.

Rz. 10

Nach § 5 KapMuG ist die Einleitung eines weiteren Musterverfahrens für die gem. § 7 KapMuG auszusetzenden Verfahren unzulässig. Durch die Vorschrift soll ausgeschlossen werden, dass ein Prozessgericht durch einen Vorlagebeschluss ein Musterverfahren zu derselben oder zu einer weiteren Anspruchsvoraussetzung einleitet, wenn bereits ein Musterverfahren für die gem. § 7 KapMuG auszusetzenden Verfahren eingeleitet worden ist. Damit sollen parallel laufende Musterverfahren aus prozessökonomischen Gründen vermieden werden (vgl. Begründung des Regierungsentwurfs des Gesetzes zur Einführung von Kapitalanleger-Musterverfahren, BT-Drucks. 15/5091, 24). Demzufolge kann einem Vorlagebeschluss keine Bindungswirkung nach § 4 Abs. 2 Halbs. 2 KapMuG zukommen, wenn er unter Verstoß gegen die Sperrwirkung des § 5 KapMuG erlassen wird. Anderenfalls wäre das OLG gezwungen, ein Musterverfahren durchzuführen (§ 6 KapMuG), das entgegen der Intention des § 5 KapMuG gar nicht hätte eingeleitet werden dürfen (ebenso Fullenkamp in Vorwerk/Wolf, KapMuG, 2007, § 5 Rz. 4; a.A. KK-KapMuG/Kruis, § 5 Rz. 16).

Rz. 11

Die Sperrwirkung des § 5 KapMuG, die bereits mit Erlass des ersten Vorlagebeschlusses einsetzt und durch eine nicht rechtskräftige Aufhebung dieses Vorlagebeschlusses durch das OLG nicht entfällt, bindet in jedem Fall das Prozessgericht i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 1 KapMuG. Auf den Streit über die Reichweite des § 5 KapMuG (vgl. hierzu KK-KapMuG/Kruis, § 5 Rz. 4 f.; Maier-Reimer/Wilsing, ZGR 2006, 79, 98) kommt es danach nicht an.

 

Fundstellen

BB 2012, 329

BB 2012, 799

DB 2012, 284

EBE/BGH 2012

NJW-RR 2012, 281

EWiR 2012, 217

NZG 2012, 190

WM 2012, 210

ZIP 2012, 269

ZIP 2012, 6

AG 2012, 176

ZBB 2012, 142

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