Leitsatz (amtlich)

1. Art. 7 und Art. 48 EWGV sowie Art. 7 Abs. 2 VO (EWG) 1612/68 gebieten nicht, daß ein verheirateter Arbeitnehmer aus einem EG-Mitgliedstaat mit Wohnsitz in Deutschland, dessen Ehegatte im Heimatland wohnt, nach dem Einkommensteuersplittingtarif besteuert wird.

2. Der BFH ist zu einer Vorlage an den EGH nur verpflichtet, wenn über den Inhalt bzw. die Auslegung einer anzuwendenden Norm des EG-Rechts Zweifel bestehen.

 

Normenkette

EStG 1967/1969 § 32a Abs. 2; EWGVtr Art. 7, 48; EWGV Art. 177 Abs. 3; EWGV 1612/68 Art. 7 Abs. 2

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist belgischer Staatsangehöriger. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. In der Zeit vom 1. Januar 1967 bis 31. März 1970 war er in der Bundesrepublik als Arbeitnehmer tätig. Während dieser Zeit bewohnte er ein Appartement im Gästehaus seines Arbeitgebers. Seine Familie lebte weiterhin in der Wohnung in Belgien. Nach Angaben des Klägers hat seine Ehefrau keine eigenen Einkünfte. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (FA) zog den Kläger mit seinen Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit zur Einkommensteuer heran. Die Einkommensteuerschuld wurde für alle Streitjahre unter Ansatz von zwei Kinderfreibeträgen und des besonderen Freibetrags nach § 32 Abs. 3 Nr. 1 EStG nach der Grundtabelle (§ 32 a Abs. 1 EStG) ermittelt.

Die Sprungklage, mit der der Kläger die Anwendung des Splittingtarifs begehrte, hatte keinen Erfolg. Das FG führte in seinem in EFG 1974, 471 veröffentlichten Urteil u. a. aus: Die Anwendung der Grundtabelle entspreche dem Gesetz, da die Ehefrau des Klägers infolge ihres Wohnsitzes außerhalb des Inlandes nicht unbeschränkt steuerpflichtig sei. Die Vorschriften des Einkommensteuergesetzes ständen nicht im Widerspruch zu Bestimmungen des Rechts der EWG. Nach den Art. 7 und 48 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV) sowie nach Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 - VO (EWG) 1612/68 - (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften - AblEG - 1968 Nr. L 257, S. 2 ff.) sei untersagt, in einem Mitgliedstaat Arbeitnehmer, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten seien, aufgrund der Staatsangehörigkeit anders zu behandeln als inländische Arbeitnehmer. Bei der Veranlagung des Klägers sei jedoch nicht wegen seiner Staatsangehörigkeit, sondern wegen des ausländischen Wohnsitzes seiner Ehefrau die Grundtabelle anzuwenden gewesen. Der Kläger werde nicht anders behandelt als ein deutscher Steuerpflichtiger mit Wohnsitz im Inland, dessen Ehefrau in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften (EG) wohne. Ein Ersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EGH) um Auslegung der genannten EG-Vorschriften sei nicht erforderlich, da die Rechtslage nicht zweifelhaft erscheine.

Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung des Art. 48 EWGV i. V. m. Art. 7 Abs. 2 VO (EWG) 1612/68 und beantragt, unter Aufhebung des FG-Urteils und Änderung der angefochtenen Einkommensteuerbescheide die Einkommensteuer für die Streitjahre nach § 32 a Abs. 2 EStG festzusetzen. Er führt aus:

Nach Art. 7 Abs. 2 VO (EWG) 1612/68 komme es nur darauf an, ob ein ausländischer Arbeitnehmer tatsächlich die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen genieße wie ein Inländer. Die tatsächliche Gleichstellung werde nur erreicht, wenn der ausländische Arbeitnehmer steuerlich nicht mehr belastet werde als sein inländischer Arbeitskollege, dessen Frau am Ort wohne. Der Vergleich mit der steuerlichen Behandlung eines Inländers, dessen Ehefrau im EG-Ausland wohne, sei nicht zu ziehen, da es sich dabei um einen atypischen Ausnahmefall handle. Das Wohnen der Ehefrau im EG-Ausland sei im EG-Recht kein Anlaß zu einer Diskriminierung. Soweit das Gericht darüber Zweifel habe, sei es zur Vorlage der Frage an den EGH gezwungen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet.

Der Kläger hat eine nach § 118 Abs. 1 Satz 1 FGO zulässige Revisionsrüge erhoben. Das Recht der EG ist revisibel, soweit es mit unmittelbarer Geltung in den Mitgliedstaaten erlassen wird, da sein Geltungsbereich insoweit innerhalb der Bundesrepublik Deutschland der gleiche wie der des Bundesrechts ist (vgl. Beschluß des BVerwG vom 12. Juni 1970 VII C 35/69, StRK, Finanzgerichtsordnung, § 118, Rechtsspruch 31, MDR 1970, 872; v. Wallis/List in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Anm. 5 zu § 118 FGO). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die VO (EWG) 1612/68, die zur Konkretisierung des Art. 48 EWGV erlassen wurde (vgl. Groeben/Boeckh/Thiesing, Kommentar zum EWG-Vertrag, 2. Aufl. 1974, Anm. I zu Art. 48 EWGV), stellt gemäß Art. 189 Abs. 2 EWGV die Verbindlichkeit und unmittelbare Geltung in jedem Mitgliedstaat in einem Schlußsatz ausdrücklich fest (ABlEG 1968 Nr. L 257 S. 12).

Das sachliche Begehren des Klägers kann keinen Erfolg haben. Zwischen den Beteiligten besteht kein Streit darüber, daß nach den Bestimmungen des Einkommensteuergesetzes eine Anwendung des Splittingtarifs (§ 32 a Abs. 2) nicht in Betracht kommt, da die Ehefrau des Klägers nicht der unbeschränkten Steuerpflicht im Inland unterliegt und somit die Voraussetzungen für eine Zusammenveranlagung (§§ 26 Abs. 1, 26 b) nicht gegeben sind.

Die Anwendung des Splittingtarifs kann auch nicht aus Bestimmungen des EG-Rechts hergeleitet werden. Soweit Vorschriften des EG-Rechts unmittelbare Geltung haben und nicht nur Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten begründen, überlagern und verdrängen sie zwar entgegenstehendes nationales Recht im Rang eines einfachen Gesetzes, da nur so die den Bürgern der Mitgliedstaaten der EG eingeräumten subjektiven Rechteverwirklicht werden (vgl. Beschlüsse des BVerfG vom 9. Juni 1971 - 2 BvR 225/69 -, BVerfGE 31, 145 [174]; vom 29. Mai 1974 - 2 BvL 52/71 -, BVerfGE 37, 271). Im Streitfall ist insbesondere eine Anwendung der VO (EWG) 1612/68 zu prüfen. Diese verwirklicht die in Art. 48 EWGV normierte Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft herzustellen (vgl. Groeben/Boeckh/Thiesing, a. a. O.). Art. 48 EWGV ist seinerseits eine Spezifizierung des allgemeinen Diskriminierungsverbots (Art. 7 EWGV) und geht diesem vor (vgl. Groeben/Boeckh/Thiesing, a. a. O., Anm. II, 4 zu Art. 7 EWGV). Die VO (EWG) 1612/68 hat nach Art. 189 Abs. 2 EWGV unmittelbare Geltung in jedem Mitgliedstaat. Sie trifft jedoch keine Regelung, die die Geltung der Tarifvorschriften des Einkommensteuergesetzes bezüglich der Besteuerung von Eheleuten in Frage stellen könnte. Art. 7 VO (EWG) 1612/68 hat u. a. folgenden Wortlaut:

"(1) Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, darf auf Grund seiner Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten ... nicht anders behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer.

(2) Er genießt dort die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer.

(3) ...

(4) ..."

Es kann dahingestellt bleiben, ob die Tarifvorschrift des § 32 a Abs. 2 EStG überhaupt als eine steuerliche Vergünstigung für Arbeitnehmer i. S. des Art. 7 Abs. 2 VO (EWG) 1612/68 anzusehen ist. Jedenfalls ist eine Benachteiligung ausländischer Arbeitnehmer nicht gegeben, da diese unter denselben Voraussetzungen wie inländische Arbeitnehmer in den Genuß des Splittingtarifs gelangen. Eine nach Art. 7 VO (EWG) 1612/68 unzulässige Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit liegt schon deshalb nicht vor, weil die Anwendung der Tarifvorschrift nicht von der Staatsangehörigkeit eines Steuerpflichtigen oder seines Ehegatten abhängig ist. Die Anwendung der Tarifvorschrift setzt eine Zusammenveranlagung der Eheleute voraus. Die Durchführung einer Zusammenveranlagung ist u. a. davon abhängig, daß beide Ehegatten im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben und deshalb unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sind (§§ 1 Abs. 1, 26 Abs. 1 EStG). Diese Voraussetzung gilt für deutsche wie für ausländische Staatsangehörige gleichermaßen.

Die EG-Vorschriften über die Gleichbehandlung der Arbeitnehmer verbieten, wie der EGH entschieden hat, nicht nur offensichtliche Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle versteckten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale zu dem gleichen Ergebnis führen (Urteil des EGH vom 12. Februar 1974, Rs. 152/73, EGHE 1974, 153, 3. Leitsatz und S. 164). Eine solche versteckte Diskriminierung liegt jedoch nicht vor. Das Erfordernis der unbeschränkten Steuerpflicht beider Ehegatten, d. h. eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts beider Ehegatten im Inland (§ 1 Abs. 1 EStG), als Voraussetzung für die Gewährung des Splittingtarifs richtet sich nicht gegen Ausländer. Bei der Zusammenveranlagung werden die Einkünfte der Ehegatten zusammengerechnet. Ist aber einer der Ehegatten nicht unbeschränkt steuerpflichtig, weil er keinen Wohnsitz im Inland hat, so unterliegen seine Einkünfte nicht unbeschränkt der inländischen Steuerpflicht. Eine Zusammenrechnung der Einkünfte beider Ehegatten ist dann nicht möglich. Die Anwendung des Splittingtarifs in diesem Falle wäre nicht gerechtfertigt, weil dadurch der Ehegatte, der allein unbeschränkt steuerpflichtig ist, einen sachlich nicht zu rechtfertigenden steuerlichen Vorteil gegenüber Eheleuten, die beide unbeschränkt steuerpflichtig sind, bei denen also die beiderseitigen Einkünfte vor Durchführung der Zusammenveranlagung zusammengerechnet werden, erlangen würde. Dies würde gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 GG verstoßen. Wenn nur einer der Ehegatten unbeschränkt steuerpflichtig ist, so kann deshalb für diesen Ehegatten nur eine Einzelveranlagung nach der Grundtabelle in Betracht kommen. Es ist hiernach nicht willkürlich, sondern aus der Sache gerechtfertigt, daß die Tarifvergünstigung nicht gewährt wird, wenn nur die Einkünfte eines Ehegatten unbeschränkt besteuert werden können. Somit kann auch keine Diskriminierung i. S. der EG-Vorschriften vorliegen.

Diese Rechtslage bedeutet für ausländische Staatsangehörige nicht nur eine rechtliche, sondern eine tatsächliche Gleichstellung mit den Inländern. Es kann dabei nicht darauf ankommen, ob Ausländer in größerer Zahl als Inländer nicht nach dem Splittingtarif besteuert werden, weil bei ihnen das Wohnen des Ehegatten im Ausland häufiger vorkommt als bei Inländern. Die Anwendung des Splittingtarifs, wie sie der Kläger begehrt, würde keine Gleichbehandlung, sondern eine ungerechtfertigte Besserstellung der verheirateten EG-Ausländer gegenüber den verheirateten Inländern bedeuten. Dies könnte nur dann vermieden werden, wenn zugleich mit der unbeschränkten inländischen Steuerpflicht eines im Inland tätigen und wohnhaften EG-Ausländers auch die unbeschränkte Steuerpflicht seines Ehegatten im Inland vorgeschrieben würde, und zwar auch für den Fall, daß der Ehegatte im EG-Ausland wohnt. Eine solche Wohnsitzfiktion, wie sie etwa in Art. 14 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der EG (BGBl II 1965, 1482) für die Bediensteten der EG enthalten ist, ist in die VO (EWG) 1612/68 aber nicht aufgenommen worden. Die Verordnung geht vielmehr davon aus, daß die Freizügigkeit durch eine unbehinderte tatsächliche Verlegung des Familienwohnsitzes in das Aufnahmeland gewährleistet werden soll. Dies ergibt sich aus Art. 10 VO (EWG) 1612/68 und wird außerdem in den der Verordnung vorausgestellten Gründen (5. Abs.) zum Ausdruck gebracht. Es heißt dort u. a. : "ferner müssen alle Hindernisse beseitigt werden, die sich der Mobilität der Arbeitnehmer entgegenstellen, insbesondere in bezug auf das Recht des Arbeitnehmers, seine Familie nachkommen zu lassen, und die Bedingungen für die Integration seiner Familie im Aufnahmeland."

Eine Vorlage an den EGH zur Vorabentscheidung über die Frage, ob Art. 7 Abs. 2 VO (EWG) 1612/68 die Anwendung des Splittingverfahrens über den Wortlaut des § 32 a Abs. 2 EStG hinaus gebietet, ist nicht erforderlich. Nach Art. 177 Abs. 3 i. V. m. Abs. 1 EWGV ist ein letztinstanzliches einzelstaatliches Gericht zur Anrufung des EGH verpflichtet, wenn in einem schwebenden Verfahren eine Frage über die Auslegung des EWGV, über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe der Gemeinschaft oder über die Auslegung der Satzungen der durch den Rat geschaffenen Einrichtungen gestellt wird. Die überwiegende Meinung in Rechtsprechung und Literatur geht dahin, daß eine Vorlagepflicht in allen Fällen, in denen Fragen des EG-Rechts von Bedeutung sein könnten, nicht besteht, sondern daß eine Vorlage erst bei Zweifeln an der Rechtslage geboten ist (vgl. Urteil des BSG vom 12. November 1969 4 R J 109/69, MDR 1970, 454, StRK, EWGV, Art. 177, Rechtsspruch 1 - L -; BVerfG-Beschluß vom 13. Oktober 1970 2 BvR 618/68, BVerfGE 29, 198 [207 ff.]; Groeben/Boeckh/Thiesing, a. a. O., Anm. III. 2 C zu Art. 177 EWGV; Tomuschat, Die gerichtliche Vorabentscheidung nach den Verträgen über die Europäischen Gemeinschaften, Köln/Berlin 1964, S. 117 f.; Zuleeg, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften im innerstaatlichen Bereich, Köln 1969, S. 362 f.; Ehle, Klage- und Prozeßrecht des EWG-Vertrages, Köln 1966, Anm. 56 zu Art. 177 EWGV). Dieser Auffassung schließt sich der Senat an (vgl. bereits Urteil vom 1. März 1974 VI R 331/69, BFHE 111, 449, BStBl II 1974, 374). Es kann nicht Sinn der Vorlagepflicht sein, daß dem EGH sämtliche Rechtsstreitigkeiten unterbreitet werden, in denen EG-Recht anzuwenden ist. Vielmehr ist die Vorlage nur in solchen Fällen geboten, in denen Zweifel über den Inhalt einer anzuwendenden EG-Norm bestehen und eine gleichmäßige Handhabung des EG-Rechts in den Mitgliedstaaten sichergestellt werden muß. Im Streitfall hat der Senat keine Zweifel, daß Art. 7 Abs. 2 VO (EWG) 1612/68 die Anwendung des § 32 a Abs. 2 EStG für Arbeitnehmer aus EG-Ländern lediglich in demselben Umfang fordert wie bei Inländern.

 

Fundstellen

Haufe-Index 71992

BStBl II 1976, 755

BFHE 1977, 439

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