Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Frage der Aufklärungspflicht bei der Entscheidung über Nachsichtanträge.

Die Grundsätze der Urteile III 130/54 S vom 10. September 1954 (BStBl 1954 III S. 350, Slg. Bd. 59 S. 363) und V 123/56 U vom 13. September 1956 (BStBl 1956 III S. 327, Slg. Bd. 63 S. 341) zur Frage der Nachsichtgewährung bei einem Versehen im Büro des bevollmächtigten Rechtsanwalts oder Steuerberaters sind auch dann anzuwenden, wenn infolge eines Versehens im Büro des bevollmächtigten Helfers in Steuersachen das Rechtsmittel verspätet eingelegt wird.

 

Normenkette

AO § 86; FGO § 56

 

Tatbestand

Streitig ist, ob der Bfin. Nachsicht wegen der Versäumung der Berufungsfrist zu gewähren ist.

Der gegen die Gewerbesteuerveranlagung 1954 eingelegte Einspruch, mit dem sich die Bfin. (Frau A.) vor allem gegen die Gewerbesteuerpflicht ihrer Einkünfte wandte, war erfolglos. Die Einspruchsentscheidung vom 11. Juli 1958 wurde der von der Bfin. zur Einlegung des Einspruchs bevollmächtigten Helferin in Steuersachen B. laut Postzustellungsurkunde am 14. Juli 1958 zugestellt. Mit Schreiben vom 15. August 1958, eingegangen beim Finanzamt am 16. August 1958, legte die Helferin in Steuersachen "in Abwesenheit von Frau A., um den Termin zu wahren, vorsorglich" Berufung ein. Die Berufungsbegründung wurde von dem jetzigen Bevollmächtigten der Bfin. mit Schriftsatz vom 13. November 1958 eingereicht. Auf eine Anfrage des Finanzgerichts teilte die Bfin. selbst mit, daß sie der Helferin in Steuersachen am 23. Juli 1958 Vollmacht erteilt habe. Diese Vollmacht beschränke sich auf die Einlegung der Berufung. Ihr jetziger Bevollmächtigter habe jetzt alleinige Prozeßvollmacht. Mit Schriftsatz vom 8. April 1959 führte der jetzige Bevollmächtigte der Bfin. aus, Frau B. habe mitgeteilt, daß sie die Berufungsschrift infolge eines Versehens ihres Büros erst am 15. August 1958 zur Post gegeben und dem Finanzamt fernmündlich hiervon Mitteilung gemacht habe. Das Finanzamt habe ihr zugesagt, daß Nachsicht gewährt werde.

Das Finanzgericht hat ein eigenes Verschulden der Helferin in Steuersachen B. an der Versäumung der Berufungsfrist angenommen und Nachsicht nicht gewährt. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Helferin in Steuersachen sei nach der eigenen Angabe der Bfin. bereits am 23. Juli 1958, also rechtzeitig, Vollmacht zur Einlegung der Berufung erteilt worden. Unter diesen Umständen habe es nur eines einfachen Schriftsatzes (ohne Begründung) bedurft, um das Rechtsmittel einzulegen. Wenn die Helferin in Steuersachen mit der Einlegung bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist gewartet habe, so habe sie bereits insoweit fahrlässig gehandelt. Auch insofern könne der Helferin in Steuersachen ein Verschulden nachgewiesen werden, als aus der Einlegung des Rechtsmittels mit Schreiben vom 15. August 1958 hervorgehe, daß Frau B. den bereits nach dem Zustellungsvermerk am 14. August 1958 eingetretenen Ablauf der Rechtsmittelfrist gar nicht geprüft haben könne. Andernfalls würde Frau B. in dem Rechtsmittelschriftsatz sofort um Nachsicht gebeten haben. Bei dieser Sachlage habe es keiner weiteren Aufklärung mehr bedurft, inwieweit die zu allgemein gehaltene Schutzbehauptung der Helferin in Steuersachen, ein Versehen ihres Büros habe die Verspätung verursacht, zutreffe. Die von dem jetzigen Bevollmächtigten mitgeteilten Darlegungen der Helferin in Steuersachen seien auch deshalb wenig glaubwürdig, weil dieser in der Berufungsbegründung vom 13. November 1958 kein Wort über die Tatsache der Versäumung des Rechtsmittels erwähnt habe, obwohl nach der Erfahrung anzunehmen sei, daß bei übernahme des Mandats darüber gesprochen wurde.

Mit der Rb. macht die Bfin. geltend, das Finanzgericht hätte von Amts wegen prüfen müssen, ob die Voraussetzungen für eine Nachsichtgewährung vorlägen. Es habe lediglich mit Schreiben vom 5. November 1958 die Frage an die Bfin. gerichtet, welche Person zur Zeit der Bevollmächtigte sei, ohne die Nachsichtsfrage zu erörtern. Die Unterlassung dieser Nachprüfung stelle einen wesentlichen Verfahrensmangel dar. Die Helferin in Steuersachen führe ein ordnungsmäßiges Büro, in dem zur Zeit zwei kaufmännische Lehrlinge, eine Bürokraft und ferner eine seit 1949 angestellte Buchhalterin, Frau C., beschäftigt seien. Frau C. habe die Berufungsfrist in den ordnungsgemäß geführten Fristenkalender eingetragen. Sie habe die Akten erst am 15. August 1958 Frau B. vorgelegt. Diese habe daraufhin an demselben Tage die Berufung eingelegt, so daß das Schreiben erst am 16. August 1958 beim Finanzamt eingegangen sei. Zum Beweise bezieht sich die Bfin. auf das Zeugnis von Frau C. Im Hinblick auf die Zuverlässigkeit der Angestellten C. habe sich Frau B. darauf verlassen können, daß ihr die Fristsache rechtzeitig vorgelegt werde. Deshalb habe sie diese Vorlegung nicht persönlich überwacht. Frau B. treffe also kein Verschulden; dieses liege ausschließlich bei der mit der überwachung des Fristenkalenders beauftragten Angestellten.

 

Entscheidungsgründe

Die Prüfung der Rb. ergibt folgendes:

Die Bfin. rügt, daß das Verfahren deshalb an einem wesentlichen Mangel leide (vgl. § 288 Ziff. 2 AO), weil das Finanzgericht von Amts wegen hätte prüfen müssen, ob die Voraussetzungen der Nachsichtgewährung vorliegen. Wesentlich ist ein Mangel im Sinne der angegebenen Vorschrift nur, wenn die Möglichkeit besteht, daß ohne ihn die Entscheidung anders ausgefallen wäre. Weiterhin ist bei der Entscheidung über Nachsichtanträge im allgemeinen zu beachten, daß die über die Nachsicht entscheidende Stelle jeweils nach den Umständen des einzelnen Falles nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen zu entscheiden hat, ob Anlaß für die Annahme besteht, daß Nachsicht in Betracht kommt. Nach den Grundsätzen des rechtlichen Gehörs wird in dieser Richtung der Sachverhalt zu prüfen bzw. durch weitere Ermittlungen aufzuklären sein (vgl. Berger, Die Reichsabgabenordnung nach ihren Schwerpunkten für die Praxis, 3. Auflage, Anmerkung zu § 87 Abs. 4 AO; Urteil des Reichsfinanzhofs II A 1139/24 vom 27. Februar 1925, Mrozek-Kartei, Reichsabgabenordnung, § 69 Abs. 4 Rechtsspruch 3, Steuer und Wirtschaft 1925 Nr. 204).

Wenn im Streitfalle das Finanzgericht weitere Ermittlungen nicht für erforderlich gehalten hat, weil es ein Verschulden der Helferin in Steuersachen an der Versäumung der Berufungsfrist schon darin sieht, daß sie mit der Einlegung der Berufung trotz Vollmachterteilung am 23. Juli 1958 bis zum Ablauf der Berufungsfrist gewartet hat, so vermag der Senat dem nicht zu folgen. Die Ausnutzung der Frist bis zum letzten Tage ist erlaubt und hindert die Nachsichtgewährung nicht, wenn auch das Warten bis zum letzten Tage eine besondere Sorgfalt in der Wahrung der Frist erfordert (vgl. das Urteil des Senats IV 58/57 U vom 27. Juni 1957, BStBl 1957 III S. 280, Slg. Bd. 65 S. 124). Auch soweit das Finanzgericht eine weitere Aufklärung der Angabe der Helferin in Steuersachen, ein Versehen ihres Büros habe die verspätete Berufungseinlegung verursacht, nicht für notwendig erachtet hat, kann der angefochtenen Entscheidung nicht zugestimmt werden. Das Finanzgericht hat von einer weiteren Aufklärung deshalb abgesehen, weil die Helferin in Steuersachen nicht nur mit der Berufungseinlegung bis zum Ablauf der Berufungsfrist gewartet, sondern schuldhafterweise auch den Ablauf der Rechtsmittelfrist nicht geprüft habe, da sie andernfalls, wie das Finanzgericht hervorhebt, bereits in der Berufungsschrift um Nachsicht gebeten hätte. Allerdings spricht für die Annahme des Finanzgerichts der Wortlaut des Berufungsschreibens vom 15. August 1958, in dem es heißt, daß "vorsorglich", "um den Termin zu wahren", Berufung eingelegt werde. Andererseits ist zu beachten, daß die Bfin. dem Finanzgericht mit Schreiben vom 8. April 1959 dargelegt hat, Frau B. habe die Berufungsschrift infolge eines Versehens ihres Büros erst am 15. August 1958 zur Post gegeben und dem Finanzamt hiervon fernmündlich Mitteilung gemacht. Bei dieser Sachlage ergaben sich nach dem Akteninhalt zwei Möglichkeiten. Die erste Möglichkeit besteht darin, daß Frau B. am 15. August 1958, das heißt an dem Tage, als sie die Berufungsschrift unterzeichnete, von dem Ablauf der Berufungsfrist keine Kenntnis hatte, so daß demgemäß die Bfin. erst durch den Schriftsatz des Finanzamts im Berufungsverfahren vom 1. April 1959 von der Versäumung der Berufungsfrist erfahren hat. Als zweite Möglichkeit kommt in Betracht, daß Frau B. bei der Berufungseinlegung zwar wußte, daß die Berufungsfrist abgelaufen war, daß sie sich aber gleichwohl mit einem Anruf bei dem Finanzamt begnügt oder daß sie nichts unternommen hat. Welche der beiden Möglichkeiten gegeben war, mußte nach der Aktenlage geprüft werden, weil von dem Ergebnis dieser Prüfung die Frage, ob Nachsicht zu gewähren ist, abhängt.

Wenn man unterstellt, daß Frau B. von der Versäumung der Berufungsfrist keine Kenntnis hatte, kommt es darauf an, worauf diese Nichtkenntnis beruhte. Sollte in diesem Falle die mit der büromäßigen Bearbeitung der Sache betraute Angestellte C. den Einspruchsbescheid mit einem unrichtigen Eingangsdatum versehen und die Berufungsfrist nicht notiert haben und sollte sie hierdurch Frau B. in den Glauben versetzt haben, der Einspruchsbescheid sei erst später als am 14. Juli 1958 eingegangen, so würde weiterhin zu untersuchen sein, ob die nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs für Versehen im Büro eines Rechtsanwalts aufgestellten Grundsätze, die nach der Rechtsprechung auch auf Steuerberater anwendbar sind (vgl. insoweit Urteile des Bundesfinanzhofs III 130/54 S vom 10. September 1954, BStBl 1954 III S. 350, Slg. Bd. 59 S. 363; V 123/56 U vom 13. September 1956, BStBl 1956 III S. 327, Slg. Bd. 63 S. 341), auch im vorliegenden Falle Anwendung finden können. Der Senat hat keine Bedenken, die Gültigkeit dieser Grundsätze auch auf einen Helfer in Steuersachen auszudehnen, sofern auch die weiteren Voraussetzungen, von denen die Rechtsprechung ausgeht, gegeben sind, wenn es sich nämlich um einen ordnungsmäßigen Bürobetrieb handelt, der durch Fälle von Unzuverlässigkeit nicht zu persönlicher Aufsicht nötigt. Dabei wäre allerdings zu berücksichtigen, daß Nachsicht nicht bei jedem Versehen im Büro eines Rechtsanwalts oder eines Angehörigen der steuerberatenden Berufe gewährt werden kann. Die Nachsichtgewährung wäre z. B. abzulehnen, wenn das Büro es unterlassen haben sollte, den Einspruchsbescheid mit dem Eingangsvermerk und der Fristnotierung zu versehen. Das Fehlen eines solchen Vermerks würde jedenfalls den Rechtsanwalt oder den Angehörigen der steuerberatenden Berufe zu größerer Aufmerksamkeit, insbesondere dazu veranlassen müssen, Feststellungen über das tatsächliche Eingangsdatum zu treffen (vgl. Urteil des Reichsfinanzhofs VI A 193/22 vom 10. Januar 1923, Steuer und Wirtschaft 1923 Nr. 259).

Auch nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils, das im Ergebnis davon ausgeht, daß Frau B. von der Versäumung der Berufungsfrist keine Kenntnis hatte, ist es nicht ausgeschlossen, daß ein Versehen der Bürokraft zu der Versäumung der Berufungsfrist geführt hat. In diesem Falle kommt es darauf an, wann Frau B. Kenntnis von der Versäumung der Rechtsmittelfrist erhalten hat und ob die im § 87 Abs. 2 AO gesetzte Frist von zwei Wochen eingehalten worden ist. Auch insoweit hat das Finanzgericht seiner Aufklärungspflicht nicht genügt.

Sollten die Ermittlungen ergeben, daß die oben erwähnte zweite Möglichkeit gegeben ist, daß nämlich Frau B. bei der Berufungseinlegung von dem Ablauf der Berufungsfrist gewußt und demgemäß bei dem Finanzamt, an das sie der Rechtsmittelbelehrung im Einspruchsbescheid gemäß die Berufung gerichtet hat, angerufen hat, so kommt es darauf an, ob Frau B. durch diesen Anruf innerhalb der durch § 87 Abs. 2 AO gesetzten Frist um Nachsicht gebeten sowie Nachsichtgründe angeführt und glaubhaft gemacht hat. Dabei wäre noch zu ermitteln, wann dieser Anruf geschehen ist, mit welchem Beamten des Finanzamts Frau B. gesprochen und welche Nachsichtgründe sie diesem Beamten vorgetragen hat. Sollte über den Anruf nichts zu ermitteln sein, wäre davon auszugehen, daß er nicht stattgefunden hat. Es ist zu berücksichtigen, daß es allgemein verkehrsüblich ist, derartige wichtige, zunächst nur fernmündlich durchgegebene Mitteilungen schriftlich zu bestätigen. Die Nichtwahrung der in § 87 Abs. 2 AO gesetzten Frist von zwei Wochen durch Frau B. würde die Bfin. alsdann gemäß § 86 Satz 2 AO zu vertreten haben.

Zusammenfassend ist festzustellen, daß die Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist, daß die Berufungsfrist im vorliegenden Falle infolge eines Versehens im Büro der Helferin in Steuersachen B. versäumt und ein Antrag auf Gewährung von Nachsicht rechtzeitig gestellt wurde.

Da die Vorinstanz insoweit den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt hat, war die angefochtene Entscheidung aufzuheben. Die Sache ist nicht spruchreif. Das Finanzgericht wird unter Berücksichtigung der obigen Darlegungen den Sachverhalt zu ermitteln und erneut zu entscheiden haben. Dabei wird es auch erforderlich sein, in die Handakten der Helferin in Steuersachen Einsicht zu nehmen und die Helferin in Steuersachen sowie die Angestellte C. als Zeugen neu zu hören.

 

Fundstellen

BStBl III 1960, 427

BFHE 1961, 475

BFHE 71, 475

StRK, AO:86 R 39

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