Leitsatz (amtlich)

Der I. Senat des Bundesfinanzhofs legt dem Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes die Rechtsfrage zur Entscheidung vor, ob der gemäß § 3 Abs. 3 VwZG i. V. mit § 195 Abs. 2 ZPO vorgeschriebene Datumsvermerk auf der zuzustellenden Sendung für die Wirksamkeit der Zustellung wesentlich ist.

 

Normenkette

VwZG § 3 Abs. 3; ZPO § 191 Nr. 6, § 195 Abs. 2

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) begehrt zur Hauptsache den Erlaß von Einkommensteuer und Umsatzsteuer aus persönlichen und sachlichen Billigkeitsgründen in einer Gesamthöhe von 5 202 DM. Ihre gegen den ablehnenden Verwaltungsakt gerichtete Klage hatte keinen Erfolg. Laut Postzustellungsurkunde ist das Urteil des FG dem Bevollmächtigten der Klägerin durch Übergabe an dessen Ehefrau am 11. Oktober 1974 zugestellt worden. Die Klägerin legte durch ihren Bevollmächtigten am 12. Novmeber 1974 Revision ein. Das Schreiben enthielt den Zusatz: "Zur Begründung beziehen wir uns auf den bisherigen Vortrag. Weitere Begründung erfolgt innerhalb 4 Wochen."

Auf den Hinweis des Senatsvorsitzenden, daß die Revision verspätet eingelegt worden sei, daß aber unter den Voraussetzungen des § 56 FGO Wiedereinsetzung gewährt werden könne, beantragte der Bevollmächtigte mit Schreiben vom 9. Dezember 1974 für die Klägerin wegen der Versäumung der Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Er versichere nach bestem Wissen und Gewissen, daß er den Brief mit dem Urteil nicht am 11. Oktober 1974, sondern am 16. Oktober 1974 erhalten habe. Hinsichtlich des beurkundeten Zustellungsdatums halte er einen Irrtum oder Schreibfehler des Postbediensteten nicht für ausgeschlossen. Auf dem Briefumschlag, den er überreiche, finde sich weder ein Poststempel mit Datum noch sei die vorgedruckte Zeile "zugestellt am …" vom Briefträger mit Datum versehen worden. Er habe deshalb das Empfangsdatum "16. Oktober 1974" sofort handschriftlich vermerkt. Aufgrund dieser Tatsache sei er der Auffassung, daß er das Rechtsmittel rechtzeitig eingelegt habe. Aus dem Fehlen eines Zustellungsdatums auf dem Briefumschlag müsse im übrigen gefolgert werden, daß die Zustellung gemäß §§ 191 Nr. 6, 195 Abs. 2 Satz 2 ZPO unwirksam sei; denn eine beglaubigte Abschrift der Zustellungsurkunde sei ihm ebenfalls nicht übergeben worden. Zumindest falle ihm kein Verschulden zur Last, da er wegen des fehlenden Zustellungsdatums keine Kontrollmöglichkeit für die Einhaltung der Rechtsmittelfrist gehabt habe. - Ferner enthält das Schreiben vom 9. Dezember 1974 Ausführungen zur Begründung der Revision.

Nachdem der Senatsvorsitzende den Bevollmächtigten der Klägerin darauf hingewiesen hatte, daß die Revisionsbegründungsfrist versäumt worden sei, daß aber auch insoweit unter den Voraussetzungen des § 56 FGO Wiedereinsetzung gewährt werden könne, wurde auch wegen der Versäumung der Revisionsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Der Bevollmächtigte begründete den Antrag damit, daß er beruflich überlastet sei. Er sei als Finanzbuchhalter und Betriebsleiter in einer auswärtigen Kleinmöbelfabrik tätig. In der Hochsaison vor den Festtagen müsse er täglich, auch samstags, durchschnittlich 15 bis 16 Stunden arbeiten, so daß er erst spät abends oder nachts nach Hause komme.

Mit der Revision beantragt die Klägerin, das angefochtene Urteil aufzuheben und den beantragten Erlaß auszusprechen. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (FA) beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen.

 

Entscheidungsgründe

II.

Der Senat hält die Revision für zulässig.

Er ist der Ansicht, daß das finanzgerichtliche Urteil dem Bevollmächtigten nicht wirksam zugestellt worden ist; die Fristen zur Einlegung und zur Begründung der Revision sind nicht in Lauf gesetzt worden, weil der Datumsvermerk auf der zuzustellenden Sendung fehlt (§ 120 Abs. 1 Satz 1 FGO, § 53 Abs. 2 FGO, § 3 Abs. 3 VwZG, § 195 Abs. 2 Satz 2 ZPO).

1. Die Frage, ob der in § 195 Abs. 2 ZPO vorgeschriebene Datumsvermerk die Wirksamkeit der Zustellung berührt, ist umstritten. Das Reichsgericht hat in ständiger Rechtsprechung die Auffassung vertreten, es handle sich nicht um ein wesentliches Erfordernis der Zustellung. Die Entscheidungen sind zunächst zu § 173 Abs. 3 CPO bzw. § 190 Abs. 3, § 195 Abs. 2 ZPO a. F. ergangen, die lediglich die Übergabe einer Abschrift der Zustellungsurkunde vorschrieben und die Möglichkeit, diese durch den Vermerk des Datums zu ersetzen, noch nicht vorsahen. Den Entscheidungen lag die Auffassung zugrunde, Herstellung und Übergabe der beglaubigten Abschrift seien kein Teil der Zustellung, sondern setzten diese voraus (Urteile des RG vom 6. Juni 1891 Nr. 65/91 I, JW 1891, 386; vom 15. Juni 1892 Nr. 71/92 V, JW 1892, 331 = Gruchots Beiträge zur Erläuterung des Deutschen Rechts, 36. Jahrgangs S. 1222; vom 10. Juni 1902 VII 117/02, RGZ 52, 11; vom 23. März 1903, 394/02 IV, JW 1903, 176; RG-Beschlüsse vom 22. Oktober 1898 B Nr. 162/98 V, JW 1898, 640; vom 23. Juni 1900 B Nr. 83/1900 V, JW 1900, 564). Die Zustellung wurde als beurkundete Übergabe begriffen, die darüber hinaus vorgeschriebenen Maßnahmen als lediglich begleitend angesehen (RG-Urteil vom 5. Oktober 1887 I 205/87, RGZ 19, 423; RG-Beschluß vom 21. März 1929 VI B 7/29, RGZ 124, 22). Auf den Datumsvermerk wurde diese Rechtsprechung übertragen (vgl. RG-Urteil vom 9. März 1908 582/07 IV, JW 1908, 277; RG-Beschluß vom 23. April 1931 VIII B 15/31, JW 1931, 2365 -- beide Entscheidungen zu § 212 ZPO --). Das RG war der Ansicht, die mit "muß", "ist" oder "hat" gekennzeichneten Vorschriften enthielten nicht ohne weiteres Wirksamkeitsvoraussetzungen der Zustellung; es handle sich in erster Linie um zwingende Gebote für den handelnden Beamten (RG-Urteil vom 27. Oktober 1931 II 329/31, RGZ 133, 365).

Das Schrifttum zum Zivilprozeßrecht und zum Verwaltungszustellungsgesetz ist der Auffassung des RG bis in die Gegenwart -- zumeist ohne eigene Begründung -- gefolgt. In der Literatur zum Verfahrensrecht der Finanzverwaltungsbehörden und der Gerichte der Finanzgerichtsbarkeit werden unterschiedliche Auffassungen vertreten.

2. Der Senat folgt der herrschenden Meinung nicht und hält § 195 Abs. 2 ZPO auch hinsichtlich des Datumsvermerks für eine "Muß"-Vorschrift. Er entnimmt dies der Bezugnahme ("kann dadurch ersetzt werden") auf die wortlautgemäß zwingend vorgeschriebene Übergabe einer Abschrift der Zustellungsurkunde, ferner aus der entsprechenden Vorschrift des § 212 Abs. 1 ZPO, aus der sich ergibt, daß auch nach § 195 Abs. 2 ZPO der Tag der Zustellung auf der Sendung zu vermerken "ist". Es ist kein Grund ersichtlich, der Vorschrift entgegen ihrem Wortlaut bloßen Ordnungscharakter beizumessen.

a) Der Wortlaut der §§ 190 Abs. 3 Satz 2, 195 Abs. 2 Satz 2 und 212 Abs. 1 ZPO bringt zum Ausdruck, daß der als Ersatz für die grundsätzlich vorgeschriebene Übergabe einer beglaubigten Abschrift der Zustellungsurkunde (vgl. § 191 Nr. 6 ZPO) vorgeschriebene Vermerk auf der Sendung über den Tag der Zustellung zum Zustellungsvorgang als solchem ebenso gehört wie die durch § 195 Abs. 2 Satz 1 ZPO geforderten Beurkundungen gemäß § 191 Nr. 1, 3--5 und 7 ZPO. Die Erwägung, die Zustellung diene den Interessen des Zustellenden -- die für die Zustellung von Amts wegen schwerlich haltbar sein dürfte --, ist nicht geeignet, im Hinblick auf die Rechtsfolgen der Verletzung der in einer Mußvorschrift vorgeschriebenen Verhaltensweisen (vgl. §§ 190 Abs. 3, 191 Nr. 6, § 195 Abs. 2, 212 Abs. 1 ZPO) zu differenzieren. Das Gesetz schreibt den Vermerk über den Tag der Zustellung ausschließlich im Interesse des Zustellungsempfängers vor; der für die Berechnung der Rechtsbehelfsfrist maßgebliche Zeitpunkt der Zustellung wird auch für ihn urkundlich fixiert. Das in § 195 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO (vgl. auch § 191 Nr. 6 ZPO) vorgeschriebene Zeugnis über den Vermerk ist ohne rechten Sinn, wenn der Datumsvermerk kein wesentliches Erfordernis der Zustellung ist. Die Annahme einer bloßen Beweisfunktion geht einseitig zu Lasten des Zustellungsempfängers. Angesichts der Bedeutung, die der Zustellung im heutigen Rechtsleben zukommt, ist sie nicht zu rechtfertigen.

b) Der Senat verkennt nicht, daß die förmliche Zustellung seit jeher in erster Linie dem Interesse des die Zustellung Betreibenden diente. Er soll die Übergabe eines bestimmten Schriftstücks an einem bestimmten Tage nachweisen können, weil die Entstehung seiner Rechte von der Zustellung abhängt (RG-Urteil vom 8. März 1884 V 369/83, RGZ 11, 402). Dieser Gedanke lag besonders nahe, weil der Grundsatz des Parteibetriebes bei der Zustellung ursprünglich herrschend war (Hahn, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, II, Civilprozeßordnung, 1. Abt., Berlin 1880 S. 220; vgl. Hahn, a. a. O., VIII Novelle 1898 S. 314). In einer Zeit, in der Parteizustellung die Regel, die Zustellung von Amts wegen aber die Ausnahme bildete, lag es nahe, die Interessen des Zustellenden in den Vordergrund zu rücken und dem Zustellungsempfänger lediglich ein Beweisbedürfnis zuzubilligen (vgl. RG-Urteil II 329/31). Inzwischen haben sich die Verhältnisse aber gewandelt. Die Parteizustellung, die im Zivilprozeß früher die Regel war, ist jetzt die Ausnahme; sie ist durch die Amtszustellung verdrängt worden (Bülow, Süddeutsche Juristenzeitung 1950 S. 715, 718). Zustellungen im Bereich der Verwaltungs-, Sozial- und der Finanzgerichtsbarkeit werden stets von Amts wegen bewirkt. Bei der Zustellung von Amts wegen steht das unmittelbare Parteiinteresse am Wirksamwerden der Zustellung nicht im Vordergrund. Eine Vernachlässigung der Interessen des Zustellungsempfängers zugunsten der Belange der Zustellenden erscheint deshalb heute noch weniger gerechtfertigt als früher. Dementsprechend hat auch der BGH -- wenn auch in anderem Zusammenhang -- in seinem Urteil vom 15. April 1957 II ZR 23/56 (BGHZ 24, 116) die Belange des Zustellungsempfängers hervorgehoben. Dies muß besonders für Verfahren gelten, in denen eine Parteizustellung nicht in Betracht kommt. Die Belange des Zustellungsempfängers gebieten hier in erhöhtem Maße, den Datumsvermerk zum Kriterium für die Wirksamkeit der Zustellung zu machen.

III.

Für die Entscheidung über die beim Senat anhängige Revision kommt es darauf an, ob § 195 Abs. 2 ZPO im Sinne der herrschenden Meinung (vgl. oben II, 1) oder im Sinne der dem Vorlagebeschluß zugrundeliegenden Ansicht (vgl. oben, II, 2) auszulegen ist. Die Revision ist zu verwerfen (§ 124 FGO), wenn der Datumsvermerk auf dem Briefumschlag, der das zuzustellende Schriftstück enthält, für die Wirksamkeit der Zustellung nicht wesentlich ist. In diesem Falle käme Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 56 FGO) wegen Versäumung der Revisionsfrist nicht in Betracht, weil die Frist durch schuldhaftes Verhalten des Bevollmächtigten der Klägerin versäumt worden ist. Der Annahme, daß die Zustellung wirksam am 11. Oktober 1974 erfolgt sei, stände auch die Erklärung des Bevollmächtigten, er habe den Brief am 16. Oktober 1974 erhalten, nicht entgegen; denn die Beweiskraft der Zustellungsurkunde ist dadurch nicht widerlegt worden. Trifft hingegen die dem Vorlagebeschluß zugundeliegende Rechtsansicht zu, so ist die Revisionfrist nicht in Lauf gesetzt worden (§ 9 Abs. 2 VwZG). Dies war jedoch kein Hindernis für die Klägerin, Revision einzulegen. Das Urteil des FG ist dem beklagten FA am 10. Oktober 1974 gemäß § 5 Abs. 2 VwZG zugestellt worden und war somit für das FG unabänderbar. Die Klägerin konnte auch im Falle der Unwirksamkeit der Zustellung Revision einlegen, weil im Verhältnis zu ihr der äußere Anschein für die Existenz eines Urteils sprach (vgl. die Nachweise im Beschluß des Oberlandesgerichts Frankfurt/Main vom 12. März 1974 20 W 486/73, NJW 1974, 1389).

IV.

Mit einer den Erkenntnissen unter II, 2 entsprechenden Entscheidung würde der Senat abweichen:

1. Von dem Beschluß des Bundessozialgerichts vom 1. Februar 1962 4 RJ 393/61 (NJW 1962, 838),

2. von dem Urteil des BGH vom 22. April 1964 IV ZR 127/63 (Versicherungsrecht 1964 S. 746),

3. von dem Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts vom 22. Februar 1972 IV B 114/71 (Buchholz, Sammelund Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts S. 340, § 3 VwZG Nr. 2; Die Öffentliche Verwaltung 1972 S. 371).

V.

Ein Fall, in dem der vorlegende Senat gemäß § 2 Abs. 2 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Juni 1968 (Bundesgesetzblatt I. S. 661) zunächst den Großen Senat des BFH anrufen müßte, liegt nicht vor; denn der Senat würde nicht von der Entscheidung eines anderen Senats oder des Großen Senats des BFH abweichen (§ 11 Abs. 3 FGO). Zwar hat der VIII. Senat des BFH in seinem -- insoweit nicht veröffentlichten -- Urteil vom 24. September 1974 VIII R 125/70 die Rechtsmeinung vertreten, der Datumsvermerk sei keine Wirksamkeitsvoraussetzung der Zustellung. Die Auffassung des VIII. Senats über die Bedeutung des Datumsvermerks war für die damalige Entscheidung jedoch nicht erheblich. In jenem Fall war streitig, ob der Datumsvermerk auf dem das FG-Urteil enthaltenden Briefumschlag vom Postbediensteten oder vom Prozeßbevollmächtigten stammte und ob die -- innerhalb eines Monats nach der Zustellung eingelegte -- Revision den Erfordernissen des § 120 Abs. 2 FGO entsprach, oder ob eine -- sicherheitshalber vorgenommene -- erneute "Revisionseinlegung" erforderlich war. Da der VIII. Senat sich auf den Standpunkt stellte, die innerhalb der Monatsfrist eingelegte Revision habe den Erfordernissen des § 120 Abs. 2 FGO entsprochen, kam es auf die Frage, ob der fehlende Datumsvermerk die Wirksamkeit der Zustellung beeinträchtigte, nicht an.

 

Fundstellen

BStBl II 1975, 798

BFHE 1976, 257

NJW 1977, 648

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