Leitsatz (amtlich)

1. Maßgeblich für den Abschluss eines Verfahrens im Sinne von Art. 23 Satz 1 ÜGG ist der Eintritt der Rechtskraft.

2. Ist ein Verfahren noch nicht abgeschlossen, so ist zur Wahrung eines Entschädigungsanspruchs für den vorausgehenden Zeitraum auch noch nach der Urteilsverkündung eine unverzügliche Verzögerungsrüge nach Art. 23 Satz 2 und 3 ÜGG erforderlich.

3. Das Berufungsverfahren vor und nach einer Zurückverweisung durch das BSG bildet eine Einheit. Der zeitlich vor der Zurückverweisung liegende Teil des Verfahrens stellt keine abgeschlossene Instanz im Sinne von Art. 23 Satz 4 ÜGG dar.

4. Die (rechtzeitige) Erhebung einer Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 GVG und die Einhaltung der Wartefrist des § 198 Abs. 5 Satz 1 GVG sind keine Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Entschädigungsklage.

5. Die nachträgliche Einbeziehung des erstinstanzlichen Klageverfahrens in eine Entschädigungsklage stellt eine Klageänderung im Sinne von § 99 Abs. 1 SGG dar.

6. Zur unangemessenen Dauer eines Berufungsverfahrens

 

Tenor

I. Es wird festgestellt, dass die Dauer des Berufungsverfahrens L 17 U 60/02, fortgesetzt unter dem Az. L 17 U 274/04 ZVW, vor dem Bayerischen Landessozialgericht unangemessen war.

II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

III. Von den Kosten des Verfahrens haben der Beklagte 1/5 und die Klägerin 4/5 zu tragen.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob der Klägerin eine Entschädigung wegen unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens zusteht.

Am 20.08.1998 erhob der Ehemann der Klägerin Klage zum Sozialgericht B-Stadt (S ...). Streitgegenstand war das Vorliegen einer Berufskrankheit. Am 29.01.1999 verstarb der Ehemann; die Klägerin führte das Verfahren fort. Nachdem zwei Gutachten eingeholt worden waren, wies das SG B-Stadt die Klage mit Urteil vom 21. November 2001 ab. Das Urteil wurde dem Bevollmächtigten der Klägerin am 06.02.2002 zugestellt.

Die Klägerin erhob Berufung zum Bayer. Landessozialgericht (L .. U ../02). Nach Einholung eines Gutachtens wies das LSG die Berufung mit Urteil vom 12. November 2003 zurück. Das Urteil wurde dem Bevollmächtigten der Klägerin am 04.02.2004 zugestellt.

Nachdem das BSG auf eine Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin das Urteil vom 12.11.2003 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen hatte (Beschluss vom 22.06.2004, B .. U ../04 B), wurde es beim LSG unter dem Az. L .. U ../04 ZVW fortgeführt. Das LSG vernahm mehrere Zeugen, holte ein weiteres Gutachten ein und wies die Berufung mit Urteil vom 9. November 2011 zurück. Das Urteil wurde dem Bevollmächtigten der Klägerin am 16.02.2012 zugestellt.

Am 01.06.2012 hat die Klägerin beim Bayer. Landessozialgericht (LSG) eine Entschädigungsklage gegen den Beklagten auf Zahlung von 19.800,00 Euro wegen Verfahrensverzögerung erhoben. Zur Begründung hat sie ausgeführt, der zeitliche Aufwand, der für die mehrfache Einschaltung des Sachverständigen Dr. Sch. aufgewendet worden sei, stelle angesichts der Qualität der Gutachten, denen am Ende auch das Gericht nicht mehr gefolgt sei, eine nicht vertretbare Verzögerung dar. Im Übrigen stelle die Auswahl des Sachverständigen Dr. Sch. als solche eine Verfahrensverzögerung dar. Denn dieser Sachverständige bestätige regelmäßig Verwaltungspositionen; von ihm sei keine sachliche Aufklärung zu erwarten gewesen.

Eine Verzögerung liege auch darin, dass einem Beweisantrag nicht Folge geleistet worden sei, was eine erfolgreiche Nichtzulassungsbeschwerde zum BSG erforderlich gemacht habe.

Ein konkreter Schaden sei der Klägerin dadurch entstanden, dass der verstorbene Zeuge K. zu Lebzeiten nicht angehört worden sei. Es müsse davon ausgegangen werden, dass bei Anhörung dieses Zeugen mit höherer Wahrscheinlichkeit positiv entschieden worden wäre. Ein weiterer Schaden sei dadurch entstanden, dass auch der Zeuge S. verstorben und der Zeuge W. zum Erörterungstermin am 18.01.2007 nicht mehr erschienen sei.

Mit Schriftsatz vom 20.03.2013 hat die Klägerin ergänzend ausgeführt, auch in der ersten Instanz bestehe eine Verzögerung von mindestens einem Jahr. Diese werde hilfsweise für den Fall geltend gemacht, dass das Gericht dem bisherigen Antrag nicht in vollem Umfang folgen sollte.

§ 198 GVG sei am 03.12.2011 in Kraft getreten. Zu diesem Zeitpunkt sei das Berufungsverfahren abgeschlossen gewesen. Daran ändere die nachträgliche Absetzung des Urteils nichts; es handele sich hierbei nur um einen Vollzugsakt.

Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung folgenden Antrag gestellt:

1. Es wird eine Verfahrensverzögerung festgestellt.

2. Der Beklagte wird verurteilt, wegen überlanger Verfahrensdauer Schadensersatz in Höhe von 1.200 Euro für jedes volle Jahr der festgestellten Verzögerung, mindestens jedoch 7.200 Euro, sowie materiellen Schadensersatz in Höhe von 12.000 Euro zu zahlen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Tatsachenbehauptungen die Klägerin bezüglich der Zeugen seien teilweise unzutreffe...

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