Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopferentschädigung. sexueller Missbrauch in der Kindheit. minderjähriges Kind als möglicher Täter. Beweiserleichterung. Untersuchungsgrundsatz. Pflicht zur Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens nur im Ausnahmefall. eigene aussagepsychologische Sachkunde des Gerichts

 

Leitsatz (amtlich)

1. Für die unmittelbare Einwirkung auf den Körper eines Kindes im Sinne des § 1 OEG ist bei sexuellen Handlungen entscheidend, ob die Begehensweise eine Straftat ist, unabhängig davon, ob bei der Tatbegehung das gewaltsam handgreifliche oder das spielerische Moment im Vordergrund steht (Rspr des BSG vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R = BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18). Dabei spielt keine Rolle, ob der angebliche Täter der Missbrauchshandlungen selbst minderjähriges Kind ist oder strafmündiger Erwachsener.

2. Die Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG kommt erst dann zum Zug, wenn andere Beweismittel objektiv nicht vorhanden sind und der Betroffene diesen Beweisnotstand nicht verschuldet hat. Ein solcher Fall ist nicht gegeben, wenn wie bei leugnenden angeblichen Tätern zwar Beweismittel vorliegen, diese jedoch das Begehren des Betroffenen nicht stützen (Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung des Senats).

3. Sowohl ein Nachweis als auch eine Glaubhaftmachung eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 OEG allein aufgrund des Vorliegens einer bestimmten Erkrankung ist grundsätzlich nicht möglich.

4. Die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens ist nur geboten, wenn Sachverhalt oder Aussageperson solche Besonderheiten aufweisen, die eine Sachkunde erfordern, die ein Richter normalerweise nicht hat.

 

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 16. Juni 2009 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten wegen Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).

Für den Kläger, der 1960 geboren ist, wurde zuletzt ein GdB von 80 (ab Juli 2012) festgestellt; im Bescheid des Beklagten vom 08.10.2012 wurden neben einer Funktionsbehinderung der Wirbelsäule und Bandscheibenschäden (Einzel-GdB 20) eine seelische Krankheit und Migräne (Einzel-GdB 80) als Gesundheitsstörungen zugrunde gelegt.

Der Kläger stellte am 13.07.2005 erstmals Antrag auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG wegen Persönlichkeitsstörungen und Psychosen aufgrund sexuellen Missbrauchs durch zwei Nachbarjungen, die der Kläger (zunächst) nicht namentlich nannte, ca. ab 1968 über einen längeren Zeitraum. Der Kläger gab an, die Namen der beiden Täter zu kennen; er könne sie aber nicht nennen, da er ansonsten aus seinem Wohnort wegziehen müsse.

Der Beklagte wertete zahlreiche medizinische Unterlagen aus, wie den Entlassungsbericht des Bezirkskrankenhauses (BKH) A-Stadt (Prof. Dr. P.) bezüglich der erstmaligen Behandlung im BKH A-Stadt im Jahr 2005. In dem Bericht wurden die Diagnosen einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit paranoiden, schizoiden, emotional instabilen, histrionischen und narzisstischen Anteilen sowie einer posttraumatischen Belastungsstörung gestellt. Der Kläger habe u.a. von sexuellen Traumatisierungen während der frühen Adoleszenz berichtet, die er als Hauptursache seiner gegenwärtigen schwierigen Lebenslage ausgemacht habe. Im Internet habe sich der Kläger über Diagnosen und Behandlungen informiert; er habe ein großes Bedürfnis, die Therapie zu kontrollieren, gezeigt. Dabei habe er auch von der Möglichkeit des "Täter-Opfer-Ausgleichs" erfahren und diesbezüglich einen Antrag beim Versorgungsamt gestellt. Die als hoffnungslos erlebte Lebenssituation stehe subjektiv beim Kläger im Vordergrund des Erlebens, hier fühle sich der Kläger als Opfer ausgeliefert. Im Befundbericht vom 16.09.2005 von Dr. N.-W. (neurologisch/psychiatrisch) wurde von paranoiden Beziehungsideen berichtet, die zur Behandlung (von Mai1997 bis zuletzt Juli 2005) geführt hätten. Als Diagnose wurde Schizophrenie genannt. Erst seit 2005 habe der Kläger über eine "Vergewaltigung" durch Gleichaltrige im Kindesalter berichtet, womit er seine Psychose begründe. Der Facharzt für Psychotherapeutische Medizin Dr. B. berichtete von einer Behandlung seit Februar 2002 aufgrund der Diagnose paranoide Schizophrenie und Ängste. Im Entlassungsbericht der Klinik O. vom 19.11.2004 wird auf psychiatrischem Fachgebiet die Diagnose ebenfalls einer paranoiden Schizophrenie (Residualsyndrom) gestellt. Im Rahmen der Anamnese habe der Kläger dort angegeben, dass bereits seit 1989 seine psychische Erkrankung in Form von Zukunftsängsten bestehe. In den letzten 15 Jahren sei es immer wieder zu einer rezidivierenden psychotischen Symptomatik mit paranoiden Beziehungs- und Beeinträchtigungsideen, verbunden mit Angst, Depression und verstärkter Negativsymptomatik, gekommen. Weiter wertete der Beklagte ein Gutachten von Dr. G. (Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie) vom 12.05.2005 für die D...

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