Entscheidungsstichwort (Thema)

Vertragliche Unverfallbarkeit kraft Unklarheitenregel

 

Normenkette

BGB §§ 242, 133, 157; BetrAVG §§ 1, 6, 32, 29; RVO § 1248 Abs. 1; AVG § 25 Abs. 1; AGBG § 5

 

Verfahrensgang

LAG München (Urteil vom 16.09.1982; Aktenzeichen 7 Sa 277/81)

ArbG Kempten (Urteil vom 07.01.1981; Aktenzeichen 1 Ca 410/80 Me)

 

Tenor

  • Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts München vom 16. September 1982 – 7 Sa 277/81 – aufgehoben.
  • Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Der im Jahre 1919 geborene Kläger war von 1937 bis 1963 bei der Beklagten, zuletzt in der Rechtsposition eines Prokuristen beschäftigt. Im Jahre 1956 erhielt er eine Versorgungszusage, die später nur an – hier nicht interessierende – Änderungen des Steuerrechts angepaßt wurde. Die Versorgungszusage hat nachfolgenden Wortlaut:

“In Anerkennung Ihrer Verdienste um unsere Firma und in der Erwartung, daß Sie auch weiterhin Ihre ganze Arbeitskraft zum Wohle unseres Unternehmens einsetzen werden, gewähren wir Ihnen eine Altersversorgung nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen:

1.a) Scheiden Sie wegen Dienstunfähigkeit oder nach Vollendung Ihres 65. Lebensjahres aus unserem Unternehmen aus, so erhalten Sie ein lebenslängliches Ruhegeld. Eine Anrechnung von Renten aus der sozialen Rentenversicherung erfolgt nicht.

b) Die Zahlung des Ruhegeldes kann, solange Sie das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, jederzeit vom Nachweis Ihrer Dienstunfähigkeit durch amtsärztliches Zeugnis abhängig gemacht werden.

3. Die Versorgung wird nicht gewährt, wenn Sie aus einem in Ihrer Person liegenden Grunde fristlos entlassen werden oder wenn Sie vor Eintritt des Versorgungsfalles freiwillig aus den Diensten unseres Unternehmens ausscheiden.”

Im Jahre 1963 kam es zu Auseinandersetzungen zwischen den Parteien. In deren Verlauf sprach die Beklagte dem Kläger eine Änderungskündigung aus und bot ihm eine andere, nicht mit Prokura ausgestattete Stelle an. Der Kläger lehnte jedoch das Vertragsangebot ab und erklärte, daß er lieber ausscheiden wolle. Er trat in die Dienste eines anderen Arbeitgebers, bei dem er ebenfalls eine leitende Stellung erreichte.

Mit Schreiben vom 20. November 1972 vertrat der Kläger die Auffassung, daß er Rechte aus der Versorgungszusage habe. Die Beklagte lehnte etwaige Ansprüche des Klägers ab und verblieb hierbei auch, als der Kläger im Jahre 1975 Klage auf deren Feststellung erhob. Das Arbeitsgericht Kempten wies diese Klage mit Urteil vom 4. Oktober 1977 (1 Ca 203/77 Me) ab. Dagegen legte der Kläger Berufung zum Landesarbeitsgericht München (3 (4) Sa 1022/77) ein. Im Einverständnis der Beklagten nahm er jedoch unter Wahrung seines Rechtsstandpunktes die Klage zurück.

Ab 1. Januar 1980 bezog der Kläger vorgezogenes Altersruhegeld als Schwerbehinderter.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Beklagte müsse ihm Versorgungsbezüge zahlen. Allerdings sei dies in Nr. 1 der Versorgungszusage davon abhängig gemacht, daß er nach Eintritt eines Versorgungsfalles aus den Diensten der Beklagten scheide. In Wirklichkeit sei aber beabsichtigt gewesen, die Versorgungsanwartschaft bei vorzeitigem Ausscheiden aufrecht zu erhalten. Aus Nr. 3 ergebe sich nämlich, daß ein Verfall nur dann eintrete, wenn er berechtigt fristlos entlassen werde oder aus eigenem Antrieb ausscheide. Die monatlich in Höhe von 200,-- DM zugesagte Betriebsrente sei mit den Tarifsteigerungen von 414,06 % zu vervielfältigen, so daß sich ein Rentenanspruch in Höhe von 1.029,20 DM ergebe. Für die Zeit vom 1. Januar 1980 bis zum 30. April 1981 könne er 17.282,-- DM verlangen.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, 17.282,-- DM nebst 4 % Zinsen aus dem jeweils monatlich fällig werdenden Betrag zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat bestritten, daß die Versorgungsanwartschaft bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses habe aufrechterhalten werden sollen. Im übrigen sei das Ruhegeld auch nicht zutreffend berechnet. Nicht nur der tarifliche Steigerungssatz, sondern auch andere Faktoren seien unrichtig in Ansatz gebracht. Überdies habe der Kläger übersehen, daß seine Versorgungsanwartschaft zeitanteilig gekürzt werden müsse.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die Revision des Klägers.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat dem Kläger zu Unrecht Versorgungsansprüche aberkannt. Wegen deren Höhe muß es noch weitere Feststellungen treffen.

I. Die Beklagte ist dem Grunde nach verpflichtet, dem Kläger Ruhegeld zu zahlen. Seine aus der Versorgungszusage von 1956 sich ergebende Versorgungsanwartschaft ist bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht erloschen.

1. Nach Nr. 1a der Versorgungszusage erhält der Kläger Ruhegeld, wenn er wegen Vollendung des 65. Lebensjahres oder wegen Dienstunfähigkeit aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet. Allerdings hatte der Kläger am 1. Januar 1980 erst das 61. Lebensjahr erreicht. Indes steht dieser Umstand dem Versorgungsanspruch nicht entgegen. Nach § 6 BetrAVG sind einem Arbeitnehmer, der das Altersruhegeld aus der gesetzlichen Rentenversicherung vor Vollendung des 65. Lebensjahres in Anspruch nimmt, auf sein Verlangen die Leistungen der betrieblichen Altersversorgung zu gewähren, wenn die Wartezeit und die sonstigen Leistungsvoraussetzungen erfüllt sind.

Der Kläger hat nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts ab 1. Januar 1980 das vorgezogene Altersruhegeld für Schwerbehinderte beansprucht und die Leistungen der Beklagten verlangt. Das vorgezogene Altersruhegeld für Schwerbehinderte erhält ein Versicherter, wenn er das 60. Lebensjahr vollendet hat und Schwerbehinderter im Sinne des Gesetzes ist (§ 1248 Abs. 1 RVO; § 25 Abs. 1 AVG). Diesen Voraussetzungen genügte der Kläger.

2. Auf die dem Kläger erteilte Versorgungszusage ist auch die Vorschrift über den vorzeitigen Bezug des Altersruhegeldes anzuwenden (§ 6 BetrAVG), da die Versorgungszusage aus dem Jahre 1956 bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Jahre 1963 aufrecht zu erhalten war.

a) Nach seinem zeitlichen Geltungsbereich erfaßt das am 22. Dezember 1974 in Kraft getretene Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung vom 19. Dezember 1974 (BGBl I, 3610) alle bestehenden Versorgungsanwartschaften (§§ 32, 29 BetrAVG).

b) Die Beklagte mußte die Versorgungsanwartschaft des Klägers aufrechterhalten. Die von dem Landesarbeitsgericht vorgenommene Auslegung der Versorgungszusage hält einer Nachprüfung nicht stand. Sie kann durch die Auslegung des Senats ersetzt werden, da sich die Versorgungszusage aus Urkunden ergibt, die dem Revisionsgericht vollständig vorliegen (BAG Urteil vom 12. Juli 1957 – 1 AZR 418/55 – AP Nr. 6 zu § 550 ZPO, Bl. 3; Urteil vom 21. November 1958 – 1 AZR 107/58 – AP Nr. 11 zu § 611 BGB Gratifikation; Urteil vom 4. März 1961 – 5 AZR 169/60 – AP Nr. 21 zu § 611 BGB Gratifikation, zu III 1 der Gründe).

Der Wortlaut der Versorgungszusage ist nicht eindeutig. In ihrer Nr. 1a heißt es, daß nur dann Ruhegelder gezahlt werden, wenn das Arbeitsverhältnis wegen Dienstunfähigkeit oder nach Vollendung des 65. Lebensjahres endet. Dagegen wird in Nr. 3 der Verfall der Versorgungsanwartschaft bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses vor Eintritt eines Versorgungsfalles eigenständig geregelt. Hiernach soll die Versorgungsanwartschaft dann verfallen, wenn der Kläger fristlos entlassen wird oder von sich aus das Arbeitsverhältnis beendet. Es ist damit denkbar, daß in allen anderen Fällen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses die Versorgungsanwartschaft aufrechterhalten werden soll.

Ob die Auslegung richtig ist, nach der Nr. 3 nur Beispiele des Verfalls der Versorgungsanwartschaft bei vorzeitiger Beendigung des Arbeitsverhältnisses wiedergibt, wie die Beklagte meint, oder ob ein Gegenschluß gerechtfertigt ist, so daß nur bei den abschließend in Nr. 3 geregelten Fällen der Verfall eintritt, wie der Kläger meint, muß sich aus dem Gesamtzusammenhang des Vertrages oder dessen Begleitumständen ergeben. Solche sind jedoch vom Landesarbeitsgericht nicht festgestellt und auch von der Beklagten nicht vorgetragen, so daß zwei gleichermaßen denkbare Auslegungsmöglichkeiten bestehen bleiben. Bei dieser Sachlage gilt als Auslegungsgrundsatz die sogenannte Unklarheitenregel, wie sie ähnlich inzwischen auch vom Gesetzgeber in § 5 AGBG übernommen worden ist. Sie besagt, daß der Verfasser einer Versorgungszusage Zweifel der Auslegung gegen sich gelten lassen muß, wenn zwei verschiedene Auslegungen denkbar sind, von denen die eine seinem Vertragsgegner günstiger ist. So ist es hier. Nach dem objektiven Vertragswortlaut konnte für den Kläger der Eindruck entstehen, daß die Versorgungsanwartschaft erhalten bleiben sollte, wenn er bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses Wohlverhalten zeigte oder das Arbeitsverhältnis nicht von sich aus beendete. Daran muß sich die Beklagte festhalten lassen.

II. Ist davon auszugehen, daß der Kläger seine Versorgungsanwartschaft im Jahre 1963 behalten hat, so bedarf es der Berechnung ihres Teilwertes im Jahre 1963. Insoweit muß das Landesarbeitsgericht noch Feststellungen treffen, weil es bisher – von seinem Standpunkt aus zutreffend – nicht auf das umstrittene Rechenwerk eingegangen ist. Es wird zu bedenken haben, daß die Versorgungsanwartschaft des Klägers wegen der vorzeitigen Vertragsbeendigung entsprechend der zurückgelegten Dienstzeit zu kürzen ist (§ 2 BetrAVG). Ferner sind noch Feststellungen notwendig, in welchem Umfang die Versorgungsanwartschaft dynamisiert ist.

 

Unterschriften

Dr. Dieterich, Schaub, Griebeling, Dr. Kiefer, Lichtenstein

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1747973

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