Entscheidungsstichwort (Thema)

Abwicklung nach Einigungsvertrag

 

Normenkette

Einigungsvertrag Art. 13, 20 Abs. 1; Einigungsvertrag Anlage I Kap. XIX Sachgebiet A Abschn. III Nr. 1 Abs. 2; ZPO § 565 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LAG Berlin (Urteil vom 25.02.1992; Aktenzeichen 3 Sa 84/91)

ArbG Berlin (Urteil vom 29.10.1991; Aktenzeichen 68 Ca 11216/90)

 

Tenor

1. Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 25. Februar 1992 – 3 Sa 84/91 – aufgehoben.

2. Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob das Arbeitsverhältnis der Klägerin gemäß Art. 20 Abs. 1 Einigungsvertrag in Verbindung mit Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 2 Sätze 2 und 5 (im folgenden Nr. 1 Abs. 2 EV) ab 3. Oktober 1990 geruht und mit Ablauf des 2. April 1991 geendet hat.

Die am 21. Juli 1955 geborene Klägerin war seit 1972 beim Meteorologischen Dienst der DDR beschäftigt. Seit 1. März 1984 arbeitete sie als Fachwissenschaftlerin, zuletzt im Forschungsinstitut für Hydrometeorologie Berlin (FIH). Das FIH war eine der Forschungsdienststellen des Meteorologischen Dienstes der DDR. Es unterstand einem Direktor und war gegliedert in die Abteilungen hydrometeorologische Forschung, operative Hydrometeorologie, Verwaltung, Sekretariat, Information und Dokumentation.

Mit Schreiben vom 24. September 1990 teilte der Präsident des Deutschen Wetterdienstes der Klägerin mit, das Forschungsinstitut für Hydrometeorologie werde nicht gemäß Art. 13 Abs. 2 Einigungsvertrag übernommen, deshalb komme das Arbeitsverhältnis der Klägerin zum Ruhen.

Der Bundesminister für Verkehr ordnete in einem an den Deutschen Wetterdienst und den Meteorologischen Dienst der DDR gerichteten Erlaß vom 25. September 1990 an:

„I.

Mit Wirksamwerden des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) zur Bundesrepublik Deutschland tritt nach Artikel 8 des Einigungsvertrages das Gesetz über den Deutschen Wetterdienst (DWD) vom 11. November 1952 (BGBl. I S. 738) auch auf dem Gebiet der bisherigen DDR in Kraft. Damit sind die nach diesem Gesetz dem DWD obliegenden Aufgaben auch für dieses Gebiet vom DWD zu erfüllen.

Der Meteorologische Dienst der DDR untersteht nach Art. 13 Abs. 2 des Einigungsvertrages ab dem Wirksamwerden des Beitritts dem Bundesminister für Verkehr (BMV), der die Überführung in den DWD bzw. die Abwicklung zu regeln hat.

II.

Mit Wirkung ab dem 3. Oktober 1990 wird folgendes geregelt:

5.6 Forschungsinstitut für Hydrometeorologie Berlin

Das Forschungsinstitut für Hydrometeorologie wird aufgelöst. Ein Teil der Aufgaben wird durch die Außenstelle der Abteilung Klimatologie des Zentralamtes in P. weitergeführt.

…”

Seit dem 3. Oktober 1990 ist in den zuvor vom Forschungsinstitut für Hydrometeorologie Berlin genutzten Räumen die Außenstelle P. des Deutschen Wetterdienstes tätig. In ihr werden 28 der ehemals 52 Mitarbeiter des Forschungsinstitutes beschäftigt.

Die Klägerin hat geltend gemacht, der Deutsche Wetterdienst habe das FIH überführt. Deshalb habe ihr Arbeitsverhältnis nicht geruht und über den 2. April 1991 hinaus fortbestanden.

Die Klägerin hat beantragt

festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgrund der Vorschriften des Einigungsvertrages geruht hat und unbefristet über den 2. April 1991 hinaus fortbesteht.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat geltend gemacht, es sei die Auflösung des FIH beschlossen und umgesetzt worden. Auch die Forschungsaufgaben, mit denen die Klägerin hauptsächlich befaßt gewesen sei, würden nicht weitergeführt.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen. Dagegen richtet sich die vom Landesarbeitsgericht zugelassene Revision der Klägerin.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils. Die Sache ist jedoch nicht zur Entscheidung reif. Sie ist deshalb zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen (§ 565 Abs. 1 ZPO).

I. Das Arbeitsverhältnis der Parteien bestand nur dann gemäß Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 2 Satz 1 EV als aktives fort, wenn die (Teil-)Einrichtung, in der die Klägerin vor dem 3. Oktober 1990 beschäftigt war, gemäß Art. 13 Abs. 2 EV auf die Beklagte überführt wurde.

1. Die Überführung einer Einrichtung gemäß Art. 13 EV bedurfte einer auf den verwaltungsinternen Bereich zielenden Organisationsentscheidung der zuständigen Stelle. Diese Überführungsentscheidung konnte eine Einrichtung als ganze oder als eine Teileinrichtung betreffen, die ihre Aufgabe selbständig erfüllen konnte (BAG Urteil vom 3. September 1992 – 8 AZR 45/92 – DB 1993, 44, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen). Die Überführungsentscheidung war mangels außenwirksamer Regelung kein Verwaltungsakt (BAG, a.a.O.; BVerwG Urteil vom 12. Juni 1992 – 7 C 5/92 – ZIP 1992, 1275). Sie konnte formfrei ergehen, also auch konkludent verlautbart werden.

2. Eine überführungsfähige Teileinrichtung war nur dann gegeben, wenn sie ihre Aufgabe selbständig erfüllen konnte. Dies setzte eine organisatorisch abgrenzbare Funktionseinheit mit eigener Aufgabenstellung und der Fähigkeit zu einer aufgabenbezogenen Eigensteuerung voraus. Die Organisationsentscheidung nach Art. 13 EV war weder personen- noch arbeitsplatzbezogen. Sie betraf funktionsfähige Organisationseinheiten, die vor dem 3. Oktober 1990 die Fähigkeit zu aufgabenbezogener Eigensteuerung und selbständiger Aufgabenerfüllung besaßen.

3. Bei der Feststellung einer organisatorischen Abgrenzbarkeit der Teileinrichtung ist nicht abzustellen auf die für Behörden typischen internen Untergliederungen wie Abteilung, Referat oder Dezernat, die lediglich zu Zwecken der Geschäftsverteilung gebildet werden. Entscheidend ist vielmehr, daß der betroffene Teil als organisatorisch abgrenzbare Funktionseinheit auch nach außen mit einem gewissen Grad an Selbständigkeit handeln konnte, ohne daß ihm damit zugleich eigene Rechtspersönlichkeit oder Behördencharakter zukommen müßte. Auf eine entsprechende organisatiorische Eigenständigkeit lassen eine eigene interne Geschäftsverteilung sowie eine zumindest teilweise selbständige Wahrnehmung von Dienst- und Organisationsangelegenheiten innerhalb des der betroffenen Einheit zugewiesenen Aufgabenbereiches schließen. Insofern ist die Verwaltungsorganisation der DDR zu beurteilen.

4. Eine Einrichtung oder Teileinrichtung wurde im Sinne von Art. 13 EV überführt, wenn der Träger öffentlicher Verwaltung die (Teil-)Einrichtung unverändert fortführte oder er sie unter Erhaltung der Aufgaben, der bisherigen Strukturen sowie des Bestandes an sächlichen Mitteln (wie Grundstücken, Büro- und Diensträumen sowie Arbeitsmitteln) in die neue Verwaltung eingliederte.

Wurde die (Teil-)Einrichtung nur vorläufig mit dem Ziele der Auflösung fortgeführt, lag hierin keine Überführung im Sinne von Art. 13 EV.

5. Die gesetzliche Folge der Abwicklung trat ein, wenn es an einer positiven, gegebenenfalls auch konkludenten Organisationsentscheidung fehlte. Jedenfalls im Bundesbereich sollte nach den Vorstellungen der Vertragsparteien des Einigungsvertrages in der Regel bis zum 3. Oktober 1990 über die Überführung von Einrichtungen gemäß Art. 13 EV entschieden sein. Dies ergibt sich aus der Fußnote zu Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 2 der Anlage I. Danach sollte der Ruhensbeginn der Arbeitsverhältnisse um bis zu drei Monate hinausgeschoben werden können, wenn „eine Entscheidung nach Artikel 13 Abs. 2 bis zum Tage des Wirksamwerdens des Beitritts nicht möglich” wäre. Demgegenüber enthält die für Organisationsentscheidungen maßgebliche Norm des Art. 13 EV keine zeitliche Befristung. Die Überführungsentscheidung konnte vor und nach dem 3. Oktober 1990 erfolgen. Aus der Fußnote zu Nr. 1 Abs. 2 EV könnte allenfalls zu folgern sein, daß die Überführungsentscheidung spätestens am 2. Januar 1991 ergehen mußte. Hingegen gibt diese Fußnote keine Veranlassung anzunehmen, daß bei unterlassenem Hinausschieben des Ruhensbeginns eine Überführungsentscheidung ab dem 3. Oktober 1990 ausgeschlossen gewesen wäre. Unterblieben bis zum 3. Oktober 1990 sowohl die Überführung als auch das Hinausschieben des Ruhensbeginns, trat kraft Gesetzes die Abwicklung der Einrichtung ein (BAG Urteil vom 3. September 1992 – 8 AZR 45/92 –, a.a.O.). Die Abwicklung der Einrichtung löste das Ruhen der Arbeitsverhältnisse der an dieser Einrichtung beschäftigten Arbeitnehmer aus. Wurde erst nach dem Wirksamwerden des Beitritts entschieden, die Einrichtung zu überführen, beseitigte dies die eingetretenen Rechtsfolgen der zuvor unterlassenen Überführungsentscheidung. Hatte die zuständige Stelle gemäß der Fußnote zu Nr. 1 Abs. 2 EV den Beginn des Ruhens der Arbeitsverhältnisse hinausgeschoben, wurde dadurch zugleich der für den Eintritt der Abwicklung maßgebliche Zeitpunkt hinausgeschoben.

6. Macht ein Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes der ehemaligen DDR geltend, sein Arbeitsverhältnis sei gemäß Nr. 1 Abs. 2 Satz 1 EV auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen und bestehe als aktives fort, hat er die Überführung seiner Beschäftigungs(teil-)einrichtung darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen (BAG Urteil vom 15. Oktober 1992 – 8 AZR 145/92 – zur Veröffentlichung vorgesehen).

II. Nach den bisherigen tatsächlichen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts liegen diese Voraussetzungen einer Überführung nicht vor. Jedoch hat das Berufungsgericht bislang nur unzureichend berücksichtigt, daß sich die Entscheidung zur Überführung aus der tatsächlichen Fortführung der (Teil-)Einrichtung ergeben kann. Das Berufungsgericht wird deshalb den Parteien Gelegenheit geben müssen, ihren Sachvortrag zu ergänzen.

1. Insbesondere ist von der Klägerin darzulegen, und gegebenenfalls zu beweisen, ob das FIH eine Einrichtung oder Teileinrichtung im Sinne von Art. 13 EV war und damit die Voraussetzungen eines überführungsfähigen Teiles der öffentlichen Verwaltung der DDR erfüllte.

2. Kann das Landesarbeitsgericht dies aufgrund des neuen Sach- und Streitstandes feststellen, wird zu prüfen sein, ob das FIH im Sinne von Art. 13 Abs. 2 EV überführt wurde. Ausgehend von dem Erlaß des Bundesministers für Verkehr vom 25. September 1990 ist festzustellen, ob es zu einer Überführung einer (Teil-)Einrichtung im Sinne von Art. 13 EV gekommen ist. Der Wortlaut des Organisationserlasses gibt einen ersten Anhaltspunkt, ist aber auslegungsfähig. Danach sollte das FIH zwar aufgelöst werden, ein Teil der Aufgaben aber durch die (neuzubildende) Außenstelle der Abteilung Klimatologie des Zentralamtes in P. weitergeführt werden. Eine Konkretisierung unterläßt der Organisationserlaß. Es ist deshalb zu klären, ob nicht mit der „Auflösung” im Sinne des Organisationserlasses lediglich die Aufhebung der organisatorisch selbständigen Einrichtung „FIH” gemeint war. Diese Aufhebung würde nicht in jedem Falle einer „Überführung” im Sinne von Art. 13 EV entgegenstehen. Die angeordnete Weiterführung eines Teiles der Aufgaben des FIH durch die Außenstelle P. in den bisherigen Räumen des FIH läßt offen, ob die neue Organisation in ihrer Eigenständigkeit der (noch nicht festgestellten) alten Regelung entspricht. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kann diese Frage nicht allein anhand der Organigramme beantwortet werden. Vielmehr bedürfte es neben der Ermittlung der eine (Teil-)Einrichtung im Sinne von Art. 13 EV ausmachenden Umstände auch der Feststellung, ob und gegebenenfalls in welcher Weise diese Umstände ab dem 3. Oktober 1990 neu geregelt wurden.

Neben diesen Voraussetzungen wird auch die Frage bedeutsam sein, ob ein gegebenenfalls vorübergehender Betrieb auf die Abwicklung der Einrichtung oder die Fortsetzung früherer Tätigkeit gerichtet war. Der entsprechende Sachvortrag der Beklagten ist erheblich. Das Berufungsgericht wird zu beachten haben, daß die Überführung im Sinne von Art. 13 EV, entgegen der Auffassung der Revision, nicht nach den Regeln des Anscheinsbeweises beurteilt werden kann. Sie ist eine Rechtstatsache und leitet sich aus festzustellenden Tatsachen ab. Die Rechtfertigung für den Anscheinsbeweis liegt in dem typischen Geschehensablauf einer bestimmten Fallgestaltung (vgl. Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 20. Aufl., § 286 Rz 94). Der Anscheinsbeweis beruht auf der Lebenserfahrung, wonach bestimmte Geschehensabläufe eine gleichbleibende Ursache haben. Typische Geschehensabläufe sind solche Tatbestände, bei denen die allgemeine Lebenserfahrung ohne weiteres eine naheliegende Erklärung bietet und bei denen die konkreten Umstände angesichts des typischen Charakters ohne Belang sind (Stein/Jonas/Leipold, a.a.O., Rz 88). Ein gesicherter Erfahrungssatz ist dafür unverzichtbar. Dieser muß in jederzeit überprüfbarer Weise zu formulieren sein, anderenfalls würde es sich lediglich um ein Vorurteil handeln (vgl. Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 14. Aufl., § 114 II 1).

III. Die mit der Revisionsbegründung geltend gemachte Erwägung, die Klägerin sei durch einen gesetzwidrig unterlassenen Hinweis des Berufungsgerichts an der Stellung eines Hilfsantrags gehindert worden, ist unrichtig. Ohne jeden Anhaltspunkt im Sach- und Streitstand bestand für das Landesarbeitsgericht keine Veranlassung, zu möglichen Hilfsanträgen und dem dazu notwendigen Sachvortrag anzuregen.

 

Unterschriften

Michels-Holl, Dr. Ascheid, Dr. Müller-Glöge, Schömburg, Schmitzberger

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1080766

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