Entscheidungsstichwort (Thema)

Zeugenvernehmung im Berufungsverfahren

 

Leitsatz (amtlich)

  • Es steht im Ermessen des Berufungsgerichts, ob es die im erstinstanzlichen Rechtszug gehörten Zeugen nochmals nach § 398 ZPO vernimmt oder sich mit der Verwertung der protokollierten und gemäß § 526 ZPO vorgetragenen Aussagen begnügt.
  • Das Berufungsgericht kann aber die Glaubwürdigkeit eines erstinstanzlich gehörten Zeugen nicht anders als die Richter erster Instanz beurteilen, ohne den Zeugen nochmals zu vernehmen. Die Glaubwürdigkeit eines Zeugen kann nur der Richter beurteilen, der den Zeugen vor sich sieht und ihm Fragen über solche Umstände vorlegen kann, die seine Glaubwürdigkeit in der zu entscheidenden Sache betreffen (§ 395 Abs 2 Satz 2 ZPO).
 

Normenkette

ZPO § 395 Abs. 2 S. 2, § 286 Abs. 1 S. 1, §§ 398, 526

 

Verfahrensgang

LAG Nürnberg (Urteil vom 12.01.1989; Aktenzeichen 1 Sa 378/88)

ArbG Nürnberg (Urteil vom 05.04.1988; Aktenzeichen 3 Ca 2253/87)

 

Tenor

  • Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Nürnberg vom 12. Januar 1989 – 1 Sa 378/88 – aufgehoben.
  • Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an die Zweite Kammer des Landesarbeitsgerichts zurückverwiesen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob der beklagte Arbeitgeber dem klagenden Arbeitnehmer eine Karenzentschädigung aus einer “Wettbewerbsvereinbarung” schuldet oder ob die Parteien dieses Wettbewerbsverbot einvernehmlich aufgehoben haben.

Der Kläger hat zuletzt – nach Klageerweiterung in der Berufungsinstanz und teilweiser Abweisung der Klage durch das Arbeitsgericht – beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, an ihn 40.892,64 DM Karenzentschädigung für die Zeit vom 1. Juni 1986 bis 31. Mai 1988 nebst 8 % Zinsen aus jeweils 1.703,68 DM monatlich ab 1. Juli 1986 zu zahlen.

Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er hat behauptet, die Parteien hätten das Wettbewerbsverbot einvernehmlich aufgehoben.

Das Arbeitsgericht hat Beweis erhoben. Es hat die Ehefrau des Beklagten als Zeugin vernommen. Dann hat es der Klage im wesentlichen stattgegeben. Auf die Berufung des Beklagten hat das Landesarbeitsgericht Nürnberg dieses Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert; es hat die Klage einschließlich der Klageerweiterung abgewiesen. Dagegen richtet sich die vom Senat zugelassene Revision des Klägers.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet. Er hat gegen eine Feststellung des Landesarbeitsgerichts, auf der die Entscheidung beruht, eine begründete Verfahrensrüge erhoben.

Das Berufungsgericht hat festgestellt, die Parteien hätten das am 8. Dezember 1984 rechtswirksam vereinbarte Wettbewerbsverbot einvernehmlich wieder aufgehoben. Es hat diese Feststellung nach § 286 Abs. 1 ZPO unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses der vor dem Arbeitsgericht durchgeführten Beweisaufnahme gewonnen.

Das Arbeitsgericht hatte über die bestrittene Behauptung des Beklagten Beweis erhoben, u.a. durch Vernehmung der vom Beklagten benannten Zeugin S… L…, seiner Ehefrau. Das Arbeitsgericht hat diese Zeugin nicht für glaubwürdig gehalten. Demgegenüber ist das Landesarbeitsgericht davon überzeugt, daß die Zeugin L… die Wahrheit gesagt habe. Das Landesarbeitsgericht hat gemeint, es brauche die Zeugin, auch wenn es die Glaubwürdigkeit anders als das Arbeitsgericht beurteile, nicht erneut zu vernehmen.

Dieser Auffassung kann der Senat nicht folgen. Es steht zwar grundsätzlich im Ermessen des Berufungsgerichts, ob es die im ersten Rechtszug gehörten Zeugen nochmals nach § 398 ZPO vernimmt oder sich mit der Verwertung der protokollierten erstinstanzlichen und gemäß § 526 ZPO vorgetragenen Aussagen begnügt. Das ist aber dann nicht möglich, wenn das Berufungsgericht die Glaubwürdigkeit der erstinstanzlich gehörten Zeugen anders als die Richter erster Instanz beurteilt und dies die Tatsachenfeststellung beeinflußt (BAG Urteil vom 16. März 1967 – 2 AZR 64/66 – AP Nr. 31 zu § 63 HGB, zu I 2 der Gründe; BAG Urteil vom 7. Juni 1972 – 5 AZR 512/71 – AP Nr. 18 zu § 611 BGB Faktisches Arbeitsverhältnis, zu 1a der Gründe; BGH WM 1988, 876, 878, m.w.N.; Albers in Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 47. Aufl., § 526 Anm. 1 B, ebenfalls m.w.N.). Die Glaubwürdigkeit eines Zeugen kann nur der Richter beurteilen, der den Zeugen vor sich sieht. Nur von einem persönlich anwesenden Zeugen kann sich der Richter einen Eindruck verschaffen und dem Zeugen Fragen über solche Umstände vorlegen, die seine Glaubwürdigkeit in der vorliegenden Sache betreffen (§ 395 Abs. 2 Satz 2 ZPO).

Mit dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung kann das Berufungsgericht sein Vorgehen nicht rechtfertigen. Das Berufungsgericht darf die erhobenen Beweise frei würdigen. Es hat unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob es eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr hält (§ 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Richtig ist weiter, daß der Tatrichter seine Überzeugung auch auf die Aussage eines am Ausgang des Rechtsstreits interessierten Zeugen gründen kann. Nur muß er sich zuvor über die Glaubwürdigkeit dieses Zeugen Gewißheit verschaffen. Diese Beurteilung muß einwandfrei zustande gekommen sein.

Die angefochtene Entscheidung des Landesarbeitsgerichts beruht auf der hier angegriffenen Feststellung. Es ist nicht auszuschließen, daß die Beweiswürdigung des Landesarbeitsgerichts anders ausgefallen wäre, wenn es zu einer Glaubwürdigkeitsprüfung aufgrund einer eigenen Vernehmung der Zeugin L… gekommen wäre. Wie diese Prüfung ausfallen wird, läßt sich nicht im voraus sagen. Es ist möglich, daß das Landesarbeitsgericht die Zeugin nach einer erneuten Vernehmung für glaubwürdig hält. Es ist aber auch denkbar, daß es sich den Bedenken des Arbeitsgerichts anschließt. In jedem Falle ist eine erneute Vernehmung der Zeugin unvermeidlich. Die Zurückverweisung an eine andere Kammer des Landesarbeitsgerichts beruht auf der Erwägung, daß aus der Sicht der Parteien jeder Zweifel an der Unvoreingenommenheit des Gerichts vermieden werden soll.

 

Unterschriften

Dr. Heither, Schaub, Griebeling, Heimann, Halberstadt

 

Fundstellen

Haufe-Index 872063

RdA 1990, 63

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