Entscheidungsstichwort (Thema)

SB-Kassenzulage im Einzelhandel in Bayern. Tarifauslegung. Zulage

 

Orientierungssatz

  • Ob eine Funktionszulage für Kassierer/Kassiererinnen im bayerischen Einzelhandel, die “auf Anweisung der Geschäftsleitung überwiegend an SB-Kassen tätig sind”, zu zahlen ist, hängt davon ab, ob die Verkaufsstelle, in der sich die Kasse befindet, ein Selbstbedienungsmarkt oder -laden oder ein Selbstbedienungswarenhaus ist.
  • Ein Baumarkt, in dem die Kunden die Waren selbst aussuchen, aus dem Regal nehmen und zur Kasse bringen, ist ein Selbstbedienungsmarkt, auch wenn mehr fachkundige Berater als Kassierer zur Verfügung stehen.
 

Normenkette

Gehaltstarifverträge für die Angestellten im Einzelhandel in Bayern vom 23. Juli 1999 und 13. Juli 2000, jeweils § 3 Ziff. 3 Buchst. a

 

Verfahrensgang

LAG Nürnberg (Urteil vom 09.04.2003; Aktenzeichen 4 Sa 198/02)

ArbG Weiden (Urteil vom 04.02.2002; Aktenzeichen 3 Ca 1854/01 S)

 

Tenor

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über eine tarifliche Funktionszulage im Einzelhandel.

Die Klägerin ist seit dem 1. Januar 2000 mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 20 Stunden bei einer tariflichen Wochenarbeitszeit von 37,5 Stunden als Kassiererin im Baumarkt der Beklagten tätig. Auf das Arbeitsverhältnis sind kraft arbeitsvertraglicher Vereinbarung die Tarifverträge des bayerischen Einzelhandels anwendbar. Dazu gehörten auch die Gehaltstarifverträge für die Angestellten im Einzelhandel in Bayern vom 23. Juli 1999 und vom 13. Juli 2000. weils:

Deren § 3 (Gehaltsregelung) bestimmt unter Ziff. 3 (Zuschlagsregelung) jeweils:

“a) Kassierer/Kassiererinnen (Beschäftigungsgruppe II), die auf Anweisung der Geschäftsleitung überwiegend an SB-Kassen tätig sind, erhalten eine Funktionszulage von DM 60,00. Teilzeitbeschäftigte Kassierer/Kassiererinnen, die auf Anweisung der Geschäftsleitung überwiegend an SB-Kassen tätig sind, erhalten die Funktionszulage anteilig im Verhältnis ihrer vertraglich vereinbarten Arbeitszeit zur tariflichen Arbeitszeit. …”

Der Baumarkt der Beklagten hat eine Größe von über 4.000 qm. In ihm sind 12 Kassiererinnen, zwei Mitarbeiter an der Information und sechs Mitarbeiter in der Warenannahme beschäftigt. Weiterhin sind zwischen 15 und 20 fachkundige Berater auf der Verkaufsfläche tätig. Die Kasse der Klägerin befindet sich im Ausgangsbereich des Marktes.

Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, ihr stehe die Funktionszulage in der rechnerisch unstreitigen Höhe von 310,87 Euro für die Zeit vom 1. Januar 2000 bis 31. Juli 2001 zu, da sie die tariflichen Voraussetzungen erfülle.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an sie 310,87 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 16. November 2001 zu zahlen.

Die Beklagte trägt zu ihrem Klageabweisungsantrag vor, die Klägerin sei nicht an einer “SB-Kasse” im tariflichen Sinn tätig, da wegen der Zahl der Fachverkäufer und nach dem Selbstverständnis der Beklagten die Kunden jederzeit einen Ansprechpartner für eine Beratung hätten. Die Zulage bezwecke hingegen, in Selbstbedienungsläden die Erschwernisse der Kassiertätigkeit auszugleichen, die darin bestünden, dass das Personal häufiger von Kunden angesprochen werde und so gleichzeitig die Funktion eines Verkäufers übernehmen müsse. Ob dies im Einzelfall tatsächlich so sei, sei unerheblich.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben. Mit der Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des arbeitsgerichtlichen Urteils, während die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

  • Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, dass die Klägerin an einer Selbstbedienungskasse im tariflichen Sinne tätig sei. Der Begriff sei nicht über die Funktionsweise bzw. Art und Weise des Aufbaus der Kasse zu bestimmen, sondern danach, ob der Markt, in dem sie sich befinde, ein Selbstbedienungsmarkt sei oder nicht. Dabei sei nicht die Zahl der Berater im Verhältnis zu der des Kassenpersonals oder das Verhältnis der aufzuwendenden Arbeitsstunden zueinander entscheidend. Vielmehr bleibe der Grundcharakter des Marktes als Selbstbedienungsmarkt erhalten, auch wenn Kunden beraten würden, da sie nach der Beratung oder einem Verkaufsgespräch die Ware grundsätzlich selbst an sich bzw. aus dem Regal nähmen und sich mit ihr sodann zur Kasse begäben, um dort zu zahlen.
  • Dem folgt der Senat. Die Klägerin hat einen Anspruch auf die geltend gemachte Zulage aus § 3 Ziff. 3 des Gehaltstarifvertrages für die Angestellten im Bayerischen Einzelhandel in den jeweils einschlägigen Fassungen.

    1. Sie gehört als Kassiererin zur Beschäftigungsgruppe II und damit zum zuschlagsberechtigten Personenkreis.

    2. Die Klägerin ist vertragsgemäß, also “auf Anweisung der Geschäftsleitung” überwiegend an einer SB-Kasse im tariflichen Sinne tätig.

    a) Dies ergibt die Auslegung des im Tarifvertrag nicht ausdrücklich definierten Begriffs der “SB-Kasse”.

    aa) Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages folgt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften (§ 133 BGB). Der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm sind mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können weitere Kriterien wie Tarifgeschichte, praktische Tarifübung und Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge berücksichtigt werden. Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt (BAG 20. April 1994 – 10 AZR 276/93 – AP BAT §§ 22, 23 Zulagen Nr. 11 mwN).

    bb) Dem Landesarbeitsgericht ist darin zuzustimmen, dass es darauf ankommt, ob die Kasse sich in einer Verkaufsstelle befindet, die als Selbstbedienungsladen, Selbstbedienungsmarkt oder Selbstbedienungswarenhaus zu bezeichnen ist. Hingegen kommt es nicht darauf an, wo sich die Kasse befindet oder wie sie gestaltet ist. Dies folgt schon daraus, dass eine Kasse, die ein Kunde selbst bedient, bis auf Automatenläden (noch) nicht gebräuchlich ist. An Letzteren ist kein Personal eingesetzt, das Zuschläge nach der Tarifregelung beanspruchen könnte.

    b) Der Baumarkt der Beklagten ist ein Selbstbedienungsmarkt im tariflichen Sinne.

    aa) Der Tarifvertrag erfasst in seinem fachlichen Geltungsbereich alle Betriebe des Einzelhandels und des Versandhandels aller Branchen und Betriebsformen einschließlich ihrer Hilfs- und Nebenbetriebe. Mangels eines Anhaltspunktes für eine einschränkende Verwendung des Begriffs ist daher davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien ihn in seiner allgemeinen wirtschaftlichen Bedeutung verstehen wollten. Danach ist die Selbstbedienung eine Verkaufsmethode im Einzelhandel und steht im Gegensatz zur traditionellen Fremdbedienung, bei der das Verkaufspersonal die Waren präsentiert, den Kunden berät und weitere Tätigkeiten wie Rechnungsstellung, Verpackung der Ware und Inkasso übernimmt. Eine ihrer Formen ist die “totale” Selbstbedienung, wobei der Kunde sämtliche Verkäuferfunktionen übernimmt, zB in Automatenläden. In der Praxis verbreitet sind abgeschwächte Formen der Selbstbedienung. So können Teile des Sortiments (zB Frischwaren) in Fremdbedienung, andere in Selbstbedienung angeboten werden. Im typischen Selbstbedienungsladen (SB) herrscht die Bedienungsform der Selbstauswahl oder Vorwahl vor. Beim Vorwahlsystem kann sich der Kunde selbst bedienen, kann aber auch je nach Wunsch verschiedene Dienste des Verkaufspersonals in Anspruch nehmen (fakultative Bedienung). Es handelt sich hierbei um eine Bedienungs- bzw. Angebotsform zwischen Fremd- und Selbstbedienung. Der Kunde wählt aus dem offen präsentierten Angebot meist wenig erklärungsbedürftige Waren eigenständig aus und prüft diese. Das Verkaufspersonal steht gegebenenfalls zur Beratung, ansonsten nur für den Verkaufsabschluss zur Verfügung. Der Kunde bringt die gewählten und den Regalen oder Behältern entnommenen Waren selbst zur (zentralen) Kasse, wo die Warenausgangskontrolle und das Inkasso vorgenommen werden. Beispiele sind der sog. Cash-and-carry-Großhandel, Supermärkte, Selbstbedienungswarenhäuser. Die Kasse kann innerhalb einer Abteilung oder am Ladenausgang liegen (Gabler Wirtschaftslexikon 13. Aufl. Stichworte: Selbstbedienung, Selbstauswahl und Selbstbedienungsladen (SB) S. 2950 f.; Brockhaus Enzyklopädie 20. Aufl. 20. Band Stichwort: “Selbstbedienung”).

    bb) Danach ist der Baumarkt der Beklagten ein Selbstbedienungsladen. Der Umstand, dass auf Wunsch der Kunden eine intensivere fachliche Beratung als in anderen Verbrauchermärkten üblich sein mag, ändert daran nichts. Entscheidend bleibt, dass die Kunden sich – ggf. nach Beratung – die Ware selbst aussuchen, aus dem Regal nehmen, zur Kasse transportieren und sie dort bezahlen.

    Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem wirtschaftlichen Zweck der Selbstbedienung, durch Einsparung von Verkaufspersonal die Absatzkosten zu verringern (Bertelsmann Lexikon Wirtschaft S. 565). Daher mag eine Beratung durch Verkäufer in Selbstbedienungsläden häufig nur in Ausnahmefällen erfolgen und die Tätigkeit der Mitarbeiter auf die Erteilung von Auskünften über Warenplatzierung, Preisauszeichnung und Regalpflege beschränkt sein (Gabler Wirtschaftslexikon Stichwort: “Selbstbedienungsladen (SB)”). Dennoch kann die Beratungsintensität sich je nach Konzept des Ladens unterschiedlich gestalten, ohne dass dadurch der Charakter als Selbstbedienungsladen, Selbstbedienungsmarkt oder Verbrauchermarkt verloren geht. Auch die partielle Selbstbedienung als Bedienungsund Angebotsform zwischen Fremdbedienung und Selbstbedienung wird immer noch vom Begriff der Selbstbedienung erfasst. Die Tarifvertragsparteien wollten in der Zuschlagsregelung den Begriff der SB-Kassen ersichtlich nicht einschränkend verwenden, sondern alle Formen der Selbstbedienung erfassen. Nach der Intensität der Beratung oder deren wirtschaftlichen Kosten haben sie nicht differenziert, auch nicht nach der Wahrscheinlichkeit, dass das Kassenpersonal von Kunden angesprochen wird.

    3. Aus dem Tarifvertrag ergibt sich schließlich nicht, dass – wie die Beklagte meint – die Zulage allein solche Erschwernisse ausgleichen will, die das Kassenpersonal dadurch haben kann, dass es von Kunden in Ermangelung anderer Ansprechpartner angesprochen wird und insoweit teilweise Verkäuferfunktionen wahrnimmt. Die Erschwernisse des SB-Kassenpersonals im Verhältnis zu den übrigen unter die Beschäftigungsgruppe II fallenden Angestellten liegen vielmehr darin, dass die Mitarbeiter – jedenfalls bei normalem bis starkem Kundenandrang – ständig unter relativ hoher Konzentration Waren bewegen, Preise erfassen und eingeben, ggf. Diebstähle aufdecken und Geld kassieren müssen und dabei stets im Blickpunkt der Kundenöffentlichkeit stehen. Sie üben eine monotone Tätigkeit mit dennoch hoher finanzieller Verantwortung aus und sind dem Druck in vielen Fällen eiliger oder drängelnder Kunden ausgesetzt, denen sie geduldig und freundlich gegenübertreten müssen. Diesen Erschwernissen unterliegen die übrigen Mitarbeiter der Beschäftigungsgruppe II wie beispielsweise Angestellte mit einfacher kaufmännischer Tätigkeit in Warenannahme, Lager, Versand, Warenausgabe mit Kontrolltätigkeit und Verkäufer im Allgemeinen, typischerweise nicht dauerhaft.

    4. Der Zinsanspruch folgt aus § 288 Abs. 1 BGB.

  • Die Beklagte hat die Kosten der erfolglosen Revision zu tragen (§ 97 Abs. 1 ZPO).
 

Unterschriften

Dr. Freitag, Fischermeier, Marquardt, Schlegel, Kiel

 

Fundstellen

NZA 2004, 752

AP, 0

NJOZ 2004, 2450

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