Entscheidungsstichwort (Thema)

Außerordentliche Kündigung wegen MfS-Tätigkeit

 

Normenkette

Einigungsvertrag Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschn. III Nr. 1 Abs. 4 Ziff. 1; KSchG §§ 4, 7; PersVG-DDR § 79 Abs. 4

 

Verfahrensgang

LAG Mecklenburg-Vorpommern (Urteil vom 25.05.1994; Aktenzeichen 2 Sa 155/93)

ArbG Neustrelitz (Urteil vom 21.01.1993; Aktenzeichen 2 Ca 2115/92)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 25. Mai 1994 – 2 Sa 155/93 – aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer auf Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 5 Ziff. 2 Einigungsvertrag (fortan: Abs. 5 Ziff. 2 EV) gestützten außerordentlichen Kündigung sowie einer vorsorglich nach Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Abs. 4 Ziff. 1 der Anlage I des Einigungsvertrages (fortan: Abs. 4 Ziff. 1 EV) ausgesprochenen ordentlichen Kündigung.

Der im Jahre 1942 geborene Kläger war seit dem 1. August 1965 als Lehrer im Schuldienst der ehemaligen DDR tätig. Zunächst unterrichtete er Biologie und Polytechnik. Ab 1985 leitete er eine Kreisstelle für Unterrichtsmittel. Seit dem 1. August 1990 arbeitete er als Kreisschulrat.

Am 10. Mai 1991 erklärte der Kläger schriftlich, daß er zu keiner Zeit für das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für nationale Sicherheit (MfS/AfNS) offiziell oder inoffiziell gearbeitet und keine Aufträge übernommen habe.

Zwischen 1977 und 1985 wurde der Kläger von zwei Offizieren des MfS darauf angesprochen, ob er für diese Einrichtung als inoffizieller Mitarbeiter tätig werden wolle. Der Kläger wurde für die Zeit vom 12. Oktober 1977 bis zum 17. September 1986 unter dem Decknamen „Reiher” als inoffizieller Mitarbeiter des MfS bei der Kreisdienststelle R. geführt. Die dabei angelegten Akten haben im Teil I (Personalakte) eine Stärke von 54 Blatt und im Teil II (Arbeits- und Berichtsakte) eine solche von 42 Blatt. Die Arbeits- und Berichtsakte enthält insgesamt elf Treffberichte der MfS-Führungsoffiziere W. (bis 1979), S. (bis 1984) und Re. (bis 1986). Keine der beiden Akten enthält ein vom Kläger geschriebenes oder unterschriebenes Schriftstück. Insbesondere gibt es keine schriftliche Verpflichtungserklärung des Klägers zur Mitarbeit beim MfS.

Die MfS-Personalakte enthält einen Bericht des MfS-Majors W. vom 15. Oktober 1977 mit folgendem Inhalt:

„Der Kandidat wurde wie geplant durch Unterzeichner nach (nicht lesbar) zum 12.10.77, 14.00 Uhr bestellt, da er in der POS und im Betriebsteil der LPU zu tun hatte. Von dort aus wurde er mit dem Pkw zur KW „Tannenkrug” geführt. Sein Pkw stellte er in Z. ab und kam zu Fuß zu KW.

Das Gespräch wurde auf ornithologischem Gebiet geführt, um von dort aus, auf Fragen der übrigen Arbeit (Zusammenarbeit) zu sprechen zu kommen.

Er brachte u.a. zum Ausdruck, daß er selbst in den Anfangsjahren (1965–66) auch eine solche Verbindung hatte, jedoch davon abließ, da er einsah, daß er damit diesem westd. Bürger damit nur half und nicht umgekehrt und es zum anderen nicht gern gesehen wurde, (nicht lesbar) wenn solche „wilden” Verbindungen bestehen.

Ihm ist aber bekannt, daß [geschwärzt] nach wie vor solche Verbindungen unterhält und daran interessiert ist. So z.B. ein [geschwärzt], der bereits enge Verbindungen – bis Besuche – unterhält.

Da der Kandidat selbst auf diese Probleme zu sprechen kam wurde das Gespräch weitergeführt unter dem Aspekt, daß es für uns von Interesse sei zu wissen um was für Personen es sich dabei handelt und um welche Probleme es dabei geht. Anhand allgemeiner Beispiele wurde erläutert, daß solche Personen ihr Hobby dazu nützen können, feindl. Handlungen durchzuführen und evtl. DDR-Bürger dabei gefährden, indem sie mißbraucht werden, ob bewußt oder unbewußt von Seiten der DDR-Bürger.

Der Kandidat kam bei diesem Gespräch auch auf einen weiteren Namen, [geschwärzt] der zu [geschwärzt] Verbindung aufgenommen hat.

Das wußte der Kandidat davon, da [geschwärzt] ihm gegenüber Interesse zeigte mit diesen [geschwärzt] in Kontakt zu bleiben. Das Gespräch wurde darauf gelenkt, daß es erforderlich sei, in Kenntnis zu leben, mit welchen Absichten diese Personen ihr ernstgemeintes o. sogenanntes Hobby bei uns durchführen. Der Kandidat war damit einverstanden, daß wir uns in gewissen Abständen darüber unterhalten können.

Im weiteren Gespräch war festzustellen, daß er unsere Unterredung aber ernst nahm und durch die vom Unterzeichner gemachten Andeutungen zu Methoden des Gegners zum Ausdruck brachte dagegen etwas zu tun.

Ihm wurde aufgezeigt, daß er uns dabei unterstützen kann. Er brachte zum Ausdruck, daß es selbstverständlich ist, daß er unserem Organ Unterstützung geben wird.

In der Diskussion kam aber immer wieder beim Kandidat hervor, daß er sich dabei jedoch nicht fest binden möchte.

Auf Grund des gesamten Gesprächsverlaufs wurde von einer schriftlichen Verpflichtung Abstand genommen, da ein Beharren durch Unterzeichner auf eine schriftl. Erklärung das gute Verhältnis zwischen Unterzeichner und dem Kandidaten erschüttert hätte, da der Kandidat ein „Mann von Wort” ist.

Die Verpflichtung uns zu unterstützen gab der Kandidat mit Handschlag. Anschließend wurden Fragen der Konspiration und Geheimhaltung sowie legendäre Informationsgewinnung besprochen. Dabei gab der IM zu verstehen, daß er zu Ornithologen des Kreises einen solchen Kontakt hat, daß er über das fachliche Problem zu den uns interessierenden Fragen herankommt.”

Der vom MfS-Offizier Re. unter dem Datum 5. September 1986 verfaßte Abschlußbericht lautet:

„Der IMS wurde am 12.10.77 durch den damaligen stellv. Leiter der KD, Gen. W., auf der Grundlage der Überzeugung und Freiwilligkeit geworben und mündlich verpflichtet. Die Registrierung erfolgte zum IMV mit der Einsatzrichtung zur op. Kontrolle der OPK „Kranich” hinsichtlich einer operativ interessanten Verbindung in die BRD. Durch den IMV wurden dazu mündliche Informationen erarbeitet. Nach Einstellung der OPK erfolgte die Umregistrierung des IMV zum IMS am 14.5.80.

Auf Grund von kadermäßigen Veränderungen an der KD war die Verbindung zum IM im Zeitpunkt vom 5.8.79–26.01.82 zeitweilig unterbrochen worden. Nach der Verbindungsaufnahme erfolgten weitere Treffs, wo eine Abschöpfung des IM zu einer op. interessanten Person im Rahmen der AG Biologie beim Kulturbund der DDR erfolgte, jedoch waren seine Möglichkeiten dazu eingeschränkt.

Im weiteren Verlauf der Trefftätigkeit erfolgten mehrere Aussprachen hinsichtlich seiner Einsatzmöglichkeiten und Haltung zur inoffiziellen Zusammenarbeit. Dazu kann eingeschätzt werden, daß der IM auf Grund seiner Persönlichkeitsmerkmale bestrebt war, zum MfS einen relativ losen Kontakt zu halten und nur Mitteilung über allgemeine Probleme seiner ehrenamtlichen Tätigkeit im Rahmen des Kulturbundes der DDR machte. Es wurde mehrfach der Versuch unternommen, den IM an Personen und sachbezogene Arbeit heranzuführen. Der IM äußerte jedoch, daß er einem Kontakt zum MfS nicht abgeneigt ist, jedoch an einer kontinuierlichen Arbeit kein Interesse zeigt. Die Einflußnahme bei Aussprachen erbrachte keine bessere Haltung zur Zusammenarbeit.

Auf Grund der Verschlechterung seines Gesundheitszustandes – starkes Hüftgelenkleiden mit rheumatischen Erscheinungen im Knie und Rücken sowie einer Blutkrankheit – und längerer Krankheit wurde der Kontakt 1984 vorläufig unterbrochen. Des weiteren erfolgte durch die Verschlechterung des Gesundheitszustandes die Arbeitseinschränkung und Zurückdrängung seiner Hobbys und Interessen. Der IM hat seit dieser Zeit kaum noch Kontakt zu Personen seines Arbeits- und Freizeitbereiches, wodurch die Einsatzmöglichkeiten weiterhin eingeschränkt sind. Diese Situation wurde mit dem IM eingehend beraten und entschieden, die Zusammenarbeit einzustellen, da keine effektive Zusammenarbeit zustande kommen würde und die Möglichkeiten der Informationserarbeitung so weit eingeschränkt sind, daß der Aufwand/Nutzen in keinem Verhältnis steht. Die Verbindung zu ihm wurde daher gänzlich eingestellt.

In der Zusammenarbeit lernte der IM die Mitarbeiter

Gen. W.

1977–1979

KD R

Gen. S.

1979–1984

KD R

Gen. Re.

1983–1984

KD R

kennen.

Für die Trefftätigkeit mit dem IM wurden die

IMK/KW „Tannenkrug” nicht mehr existent „Zentrum” Reg.Nr. …

genutzt.

Der IM erhielt keine finanziellen Zuwendungen bzw. Sachgeschenke, was auf Grund seiner Persönlichkeitseigenschaften nicht erforderlich war. Hinweise einer Dekonspiration des IM wurden nicht bekannt.

Auf Grund der stark eingeschränkten op. Möglichkeiten und Voraussetzungen durch den eingetretenen schlechten Gesundheitszustand ist … (nicht lesbar) …

Der IM-Vorgang wird ohne besondere Maßnahme eingestellt und in der Abt. XII nicht gesperrt abgelegt.”

Auf Grund eines Ersuchens vom 18. April 1991 erhielt der Beklagte am 15. Mai 1992 vom Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR Auskunft über die Existenz der über den Kläger beim MfS geführten Akten und deren wesentlichen Inhalt.

Die MfS-Offiziere W., S. und Re. waren dem Kläger persönlich bekannt. Der MfS-Offizier W. war ein Garagennachbar des Klägers. Seine Kinder wurden vom Kläger in der Schule unterrichtet. Des weiteren trafen sich der Kläger und W. beim Fußball. Der MfS-Offizier S. hospitierte 1984 als Mitglied des Elternkollektivs beim Kläger. Der MfS-Offizier Re. war der Judo-Übungsleiter des Sohnes des Klägers. Der Kläger wußte von der hauptamtlichen Tätigkeit dieser Offiziere beim MfS.

Der Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis des Klägers mit Schreiben vom 29. Mai 1992 außerordentlich sowie vorsorglich ordentlich zum 30. September 1992. Zuvor hatte das Kultusministerium den Hauspersonalrat beteiligt, dieser antwortete mit Schreiben vom 25. Mai 1992:

„Der dem Personalrat unter dem 22.5.92, Eingang hier 25.5.92, vorgelegten außerordentlichen fristlosen Kündigung des Kreisschulrats des Landkreises R., … Sch., hilfsweise der ordentlichen Kündigung stimme ich hiermit für den Personalrat des Hauses zu.”

Mit der am 18. Juni 1992 beim Arbeitsgericht eingereichten Klage hat der Kläger die Unwirksamkeit der Kündigungen geltend gemacht. Er hat bestritten, wissentlich für das MfS tätig gewesen zu sein. Er habe sich zu keiner Zeit zu einer entsprechenden Mitarbeit verpflichtet. Die über ihn geführten MfS-Akten seien in der Sache lückenhaft, widersprüchlich und fehlerhaft. Sie könnten allein auf einem „Abschöpfen” seitens der MfS-Offiziere beruhen. Der Kläger hat in erster Instanz die ordnungsgemäße Beteiligung des Personalrats bestritten.

Der Kläger hat beantragt

festzustellen, daß das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis weder durch die außerordentliche noch hilfsweise ordentliche Kündigung vom 29. Mai 1992 beendet ist, sondern unverändert fortbesteht.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte hat behauptet, der Kläger habe bewußt und gewollt mit den MfS-Offizieren zusammengearbeitet und ihnen die sich aus den elf Treffberichten ergebenden Informationen verschafft. Dabei habe er, wie sich aus den vom Bundesbeauftragten geschwärzten Stellen der Treffberichte ergebe, gezielt Auskünfte über bestimmte dritte Personen gegeben.

Das Arbeitsgericht hat nach Beweisaufnahme der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat nach erneuter Beweisaufnahme auf die Berufung des Beklagten die Klage abgewiesen und die Revision zugelassen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung (§ 565 ZPO).

A. Das Landesarbeitsgericht hat im wesentlichen ausgeführt:

Die außerordentliche Kündigung sei wirksam, denn der Kläger sei für das frühere MfS tätig gewesen und dem Beklagten sei deshalb ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar. Der Kläger habe nach Überzeugung des Berufungsgerichts über eine längere Zeit eine Berichtstätigkeit für das MfS wahrgenommen. Die Kammer sei auf Grund des Inhalts der in den Akten des MfS enthaltenen Berichte, der Einlassungen des Klägers und dem Ergebnis der Beweisaufnahme zu der Überzeugung gelangt, daß die in den Akten enthaltenen Berichte von dem Kläger stammten. Der Kläger selbst habe bestätigt, daß er gelegentlich mit den MfS-Offizieren gesprochen und auch von deren Zugehörigkeit zum MfS gewußt habe. Die Zeugen W., S. und Re. hätten zwar ausgesagt, daß sie den Kläger lediglich abgeschöpft und den Akteninhalt fingiert hätten, doch sei die Kammer zu der Überzeugung gelangt, daß sie die Unwahrheit gesagt hätten. Aus der Art und Weise, wie die Zeugen übereinstimmend jede unterstützende Tätigkeit des Klägers für das MfS verneint hätten, habe das Gericht vielmehr gefolgert, daß es sich dabei um einen abgesprochenen Entlastungsversuch zugunsten des Klägers gehandelt habe, mit dem Ziel, diesem seine berufliche Stellung zu erhalten. Aus dieser Würdigung der erhobenen Beweise hat das Berufungsgericht gefolgert, daß die in den MfS-Akten enthaltenen Treffberichte inhaltlich zutreffend seien, also der Kläger bewußt und gewollt mit dem MfS zusammengearbeitet habe. Die Vielzahl der in den Berichten angesprochenen Einzelheiten schließe es aus, daß der Kläger lediglich unwissentlich abgeschöpft worden sei. Angesichts der sich über einen längeren Zeitraum erstreckenden Tätigkeit des Klägers sei es für den Beklagten unzumutbar, den Kläger weiter als Schulrat zu beschäftigen.

B. Die Ausführungen des Landesarbeitsgerichts halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht in allen Punkten stand.

I. Der Feststellungsantrag des Klägers umfaßt allein den punktuellen Streitgegenstand der §§ 4, 7 KSchG. Die Antragsbegründung behandelt ausschließlich die Frage, ob die Kündigung vom 29. Mai 1992 wirksam ist. Die Auslegung des Klagantrags ergibt daher, daß der Kläger nur eine Kündigungsschutzklage, jedoch keine weitergehende Feststellungsklage gemäß § 256 ZPO erhoben hat (vgl. Senatsurteil vom 16. März 1994 – 8 AZR 97/93 – AP Nr. 29 zu § 4 KSchG 1969).

II. Die Wirksamkeit der außerordentlichen und auch der vorsorglich erklärten ordentlichen Kündigung kann noch nicht abschließend beurteilt werden.

1. Insbesondere kann nicht beurteilt werden, ob der Wirksamkeit der Kündigung personalvertretungsrechtliche Gründe entgegenstehen. Das Landesarbeitsgericht hat nicht geprüft, ob die Kündigung gegebenenfalls gemäß § 79 Abs. 4 PersVG-DDR unwirksam ist oder nicht. Der Kläger hat erstinstanzlich die ordnungsgemäße Beteiligung des Personalrats bestritten. Daraufhin hat der Beklagte auf Grund einer besonderen Auflage des Gerichts vorgetragen, es sei der Hauspersonalrat vor Ausspruch der Kündigung beteiligt worden, weil man davon ausgegangen sei, der Kläger als Schulrat gehöre zum Personal des Kultusministeriums. Der Personalrat habe mit Schreiben vom 25. Mai 1992, das in Ablichtung dem Gericht vorgelegt worden ist, der beabsichtigten Kündigung zugestimmt. Dieser Sachvortrag des Beklagten ist unstreitig geworden. Jedoch hat das Berufungsgericht nicht geprüft, ob dieser unstreitige Sachverhalt eine ordnungsgemäße Beteiligung des zuständigen Personalrats belegt. Insbesondere hätte das Berufungsgericht klären müssen, ob der Hauspersonalrat (gemeint ist der örtliche Personalrat) des Kultusministeriums überhaupt für die Beteiligung in einer Personalangelegenheit eines Kreisschulrates zuständig war.

2. Des weiteren kann noch nicht abschließend beurteilt werden, ob der Kündigungsgrund gemäß Abs. 5 Ziff. 2 EV gegeben ist.

a) Nach Abs. 5 Ziff. 2 EV liegt ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung dann vor, wenn der Arbeitnehmer für das frühere MfS bzw. Amt für Nationale Sicherheit tätig war und deshalb ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheint. Abs. 5 Ziff. 2 EV unterscheidet nicht zwischen hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit. Damit gilt auch für inoffizielle Mitarbeiter, daß eine außerordentliche Kündigung nur gerechtfertigt ist, wenn eine bewußte, finale Mitarbeit für das MfS/AfNS vorliegt (vgl. BAG Urteil vom 26. August 1993 – 8 AZR 561/92 – BAGE 74, 120 = AP Nr. 8 zu Art. 20 Einigungsvertrag; BAG Urteil vom 23. September 1993 – 8 AZR 484/92 – BAGE 74, 257 = AP Nr. 19 zu Einigungsvertrag Anlage I Kapitel XIX).

Aus der Eigenständigkeit der Kündigungsregelung in Abs. 5 Ziff. 2 EV folgt, daß es keiner doppelten Unzumutbarkeitsprüfung bedarf. Die Voraussetzungen der außerordentlichen Kündigung bestimmen sich allein nach Abs. 5 EV, der eine zusätzliche Interessenabwägung nach den Maßstäben des § 626 Abs. 1 BGB nicht vorsieht. Zum anderen findet § 626 Abs. 2 BGB keine Anwendung. Diese Regelung bezieht sich nach ihrem Wortlaut und ihrer systematischen Stellung nicht auf eine außerordentliche Kündigung gemäß Abs. 5 EV. Anders als § 626 BGB stellt Abs. 5 EV nicht darauf ab, ob ein Festhalten am Arbeitsverhältnis „bis zu einem ordentlichen Kündigungstermin” zumutbar erscheint. Er bringt vielmehr zum Ausdruck, bei Beschäftigten, die die Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllen, sei nicht hinzunehmen, daß sie überhaupt länger im öffentlichen Dienst verbleiben. Hiervon zu trennen ist die Frage, ob der Arbeitgeber durch eine ungebührliche Verzögerung seinem eigenen Verhalten zuwiderhandelt oder einen Verwirkungstatbestand setzt.

Die außerordentliche Kündigung nach Abs. 5 Ziff. 2 EV setzt weiter voraus, daß wegen der Tätigkeit für das MfS ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheint. Ob dies der Fall ist, muß in einer Einzelfallprüfung festgestellt werden. Abs. 5 Ziff. 2 EV ist keine „Mußbestimmung”. Nicht jedem, der für das MfS tätig war, ist zu kündigen. Das individuelle Maß der Verstrickung bestimmt über die außerordentliche Auflösbarkeit des Arbeitsverhältnisses. Je größer das Maß der Verstrickung, desto unwahrscheinlicher ist die Annahme, dieser Beschäftigte sei als Angehöriger des öffentlichen Dienstes der Bevölkerung noch zumutbar (vgl. BAGE 70, 309, 320 = AP, a.a.O., zu B II 1 c der Gründe). Beim inoffiziellen Mitarbeiter wird sich der Grad der persönlichen Verstrickung vor allem aus Art, Dauer und Intensität der Tätigkeit des IM sowie aus dem Grund der Aufnahme und der Beendigung der Tätigkeit für das MfS ergeben.

Die Tätigkeit eines inoffiziellen Mitarbeiters ist häufig nach außen nicht erkennbar geworden. Ein inoffizieller Mitarbeiter arbeitete typischerweise verdeckt. Dennoch kann es nicht darauf ankommen, ob ein inoffizieller Mitarbeiter nicht entdeckt wurde und deshalb seine Tätigkeit für das MfS nicht bekannt ist. Im Fall eines inoffiziellen Mitarbeiters ist darauf abzustellen, ob das Vertrauen der Bürger in die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung bei Bekanntwerden der Tätigkeit für das MfS in einer Weise beeinträchtigt wird, die das Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar macht. Eine glaubwürdige rechtsstaatliche Verwaltung kann nicht aufgebaut werden auf der Annahme, die Belastung eines Mitarbeiters werde schon nicht bekannt werden.

Ebenfalls bei der Prüfung der Zumutbarkeit zu beachten ist die Art der Tätigkeit, die der Arbeitnehmer in dem in Frage stehenden Arbeitsverhältnis ausübt. Ob das Vertrauen in die Verwaltung durch die Weiterbeschäftigung eines Arbeitnehmers erschüttert wird, hängt nicht nur von der Verstrickung des Arbeitnehmers mit dem MfS ab, sondern auch davon, welche Wirkungsmöglichkeiten und Befugnisse der Arbeitnehmer in seinem jetzigen Arbeitsverhältnis hat. Die Beschäftigung eines belasteten Arbeitnehmers mit rein vollziehender Sachbearbeitertätigkeit oder handwerklicher Tätigkeit wird das Vertrauen in die Verwaltung weniger beeinträchtigen als die Ausübung von Entscheidungs- und Schlüsselfunktionen durch einen ebenso belasteten Arbeitnehmer (BAG Urteil vom 28. Januar 1993 – 8 AZR 415/92 – NJ 1993, 379).

b) Die Würdigung des Berufungsgerichts, der Kläger habe bewußt für das MfS gearbeitet, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Das Berufungsgericht ist zutreffend von der Beweislast des Beklagten ausgegangen und hat § 286 ZPO in keiner revisionsrechtlich erheblichen Weise verletzt. Wenn das Berufungsgericht annimmt, die drei ehemaligen MfS-Offiziere hätten als Zeugen bewußt zugunsten des Klägers die Unwahrheit gesagt, verstößt es nicht gegen die Denkgesetze, wenn das Landesarbeitsgericht hieraus folgert, die in den von diesen MfS-Offizieren angelegten und geführten, den Kläger betreffenden Akten des MfS enthaltenen inhaltlichen Angaben über die bewußte Berichtstätigkeit des Klägers seien zutreffend. Entgegen der Auffassung des Klägers liegt hierin keine Schlußfolgerung auf das Gegenteil des Inhalts der Zeugenaussagen, sondern die Bewertung der vom Beklagten vorgetragenen Hilfstatsachen (Inhalt der MfS-Akten) als bewiesen und der Bewertung ihrer Gesamtheit als geeignet, die Haupttatsache „Tätigkeit für das MfS” zur Gewißheit des Gerichts festzustellen.

c) Allerdings ist die weitere Rüge des Klägers begründet, das Landesarbeitsgericht habe eine Einzelfallprüfung des Klägers unterlassen. Das Landesarbeitsgericht hat allein aus dem Vorliegen einer bewußten Tätigkeit für das MfS und der heutigen Stellung des Klägers als Schulrat auf das Vorliegen der Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses geschlossen. Dabei hat das Berufungsgericht wesentliche Umstände unberücksichtigt gelassen. Insbesondere hätte nach dem umfänglich vorliegenden Inhalt der Treffberichte geprüft werden müssen, welcher Art die Berichtstätigkeit des Klägers war. Allein der Bericht von Belanglosigkeiten könnte die Unzumutbarkeit im Sinne von Abs. 5 Ziff. 2 EV nicht begründen. Insofern hat der Beklagte mit Recht darauf hingewiesen, daß der Kläger nicht nur über leicht feststellbare Begebenheiten, sondern über einzelne, namentlich bezeichnete Mitbürger Auskünfte erteilt habe. Diese Einzelfallprüfung wird das Landesarbeitsgericht nachzuholen haben.

3. Ebensowenig kann die vorsorglich ausgesprochene ordentliche Kündigung zum 30. September 1992 gemäß Abs. 4 Ziff. 1 EV abschließend auf ihre Wirksamkeit hin beurteilt werden. Soweit diese ordentliche Kündigung auf die Tätigkeit des Klägers für das MfS gestützt worden ist, müssen auch die Voraussetzungen des Abs. 5 Ziff. 2 EV nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (vgl. zuletzt Urteil vom 13. September 1995 – 2 AZR 862/94 – zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen) gegeben sein. Insofern ist auf die vorstehenden Ausführungen zur außerordentlichen Kündigung zu verweisen. Ob die ordentliche Kündigung zusätzlich auf die wahrheitswidrige Erklärung vom 10. Mai 1991 gestützt werden kann, wie der Beklagte im Prozeß geltend gemacht hat, ist von den weiteren Feststellungen des Berufungsgerichts zum Inhalt der Personalratsbeteiligung abhängig, denn in dem Kündigungsschreiben selbst, das dem Personalrat offenbar im Entwurf vorgelegen hat (vgl. dessen Stellungnahme vom 25. Mai 1992), ist dieser Kündigungsgrund nicht erwähnt worden. Sollte vor Ausspruch der ordentlichen Kündigung kein Personalrat zu beteiligen gewesen sein, weil der örtliche Personalrat unzuständig und der Hauptpersonalrat noch nicht gebildet war, wäre der Beklagte nicht gehindert, diesen bereits vor Ausspruch der Kündigung entstandenen Sachverhalt im Kündigungsrechtsstreit geltend zu machen.

 

Unterschriften

Ascheid, Dr. Wittek, Müller-Glöge, Schömburg, Hennecke

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1093065

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