Entscheidungsstichwort (Thema)

Aussetzung wegen Unvereinbarkeit des § 622 Abs. 2 BGB mit Art. 3 GG

 

Leitsatz (redaktionell)

Bestätigung von BAGE 49, 21 = AP Nr. 21 zu § 622 BGB

 

Normenkette

BGB § 622 Abs. 2 S. 2 Hs. 2; GG Art. 3

 

Verfahrensgang

LAG Baden-Württemberg (Urteil vom 22.02.1989; Aktenzeichen 2 Sa 119/88)

ArbG Reutlingen (Urteil vom 12.07.1988; Aktenzeichen 1 Ca 218/88)

 

Tenor

Im übrigen wird der Rechtsstreit bis zum Abschluß des durch den Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 25. Oktober 1989 (BT-Drucks. 11/5465) eingeleiteten Gesetzgebungsverfahrens zur Neuregelung des § 622 Abs. 2 Satz 2 2. Halbsatz BGB ausgesetzt.

 

Gründe

1. Der Ansicht des Landesarbeitsgerichts, die bei der sozial gerechtfertigten ordentlichen Kündigung zu beachtende Frist ergebe sich aus § 622 Abs. 2 BGB und der „an § 2 AngKSchG orientierten Auslegung von § 622 Abs. 2 2. Halbsatz BGB”; d.h. auch bei Arbeitern seien für die Verlängerung der Kündigungsfristen alle ab Vollendung des 25. Lebensjahres im Betrieb zurückgelegten Zeiten zu berücksichtigen, kann nicht zugestimmt werden.

2. Das Bundesverfassungsgericht hat durch Beschluß vom 16. November 1982 (BVerfGE 62, 256 = AP Nr. 16 zu § 622 BGB) § 622 Abs. 2 Satz 2 2. Halbsatz BGB für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GG erklärt, soweit bei der Berechnung der für die verlängerten Kündigungsfristen maßgeblichen Beschäftigungsdauer eines Arbeiters Zeiten nicht berücksichtigt werden, die vor der Vollendung des 35. Lebensjahres liegen, während bei einem Angestellten bereits Zeiten nach Vollendung des 25. Lebensjahres mitgerechnet werden. Welche praktischen Konsequenzen sich aus der Verfassungswidrigkeit dieser Regelung ergeben, hat das Bundesverfassungsgericht offengelassen.

3. Der Senat hat sich mit dieser Rechtsfrage bereits mehrfach beschäftigt und die Ansicht vertreten, § 622 Abs. 2 Satz 2 2. Halbsatz BGB sei als für verfassungswidrig erklärte Norm nicht mehr unverändert anwendbar. Andererseits seien die Gerichte nicht befugt, die durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts entstandene Regelungslücke zu schließen. Dem hierzu berufenen Gesetzgeber stünden mehrere Wege offen, die von der Verfassung geforderte Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten zu verwirklichen (BAGE 49, 21 = AP Nr. 21 zu § 622 BGB). Wenn die vom Arbeitnehmer angegriffene (ordentliche) Kündigung dem Grunde nach gerechtfertigt ist, kann deswegen im Beendigungsrechtsstreit nur durch Teilurteil festgestellt werden, daß das Arbeitsverhältnis jedenfalls nicht vor Ablauf der Frist beendet worden ist, die sich aus der Beschäftigungszeit nach Vollendung des 35. Lebensjahres ergibt. Im übrigen muß der Rechtsstreit bis zur gesetzlichen Neuregelung des § 622 Abs. 2 2. Halbsatz BGB ausgesetzt werden. Wegen der Gründe, aus denen der Senat eine richterliche Rechtsfortbildung für unzulässig gehalten hat, wird auf die genannten Entscheidungen verwiesen (vgl. insbesondere BAGE 49, 21, 26 f. = AP, a.a.O.).

4. Demgegenüber hat das angefochtene Urteil für die Gerichte für Arbeitssachen die Kompetenz beansprucht, die durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts entstandene Regelungslücke zu schließen. Das Landesarbeitsgericht hat die Frage der Rechtsfortbildung zwar nicht ausdrücklich erörtert. Die von ihm so bezeichnete „Auslegung” des § 622 Abs. 2 BGB – orientiert an § 2 Abs. 1 Satz 3 AngKSchG – geht aber über die Auslegung im Sinne klassischer Rechtsdogmatik (vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl., S. 195 ff.) hinaus. § 622 Abs. 2 2. Halbsatz BGB ist als eine für verfassungswidrig erklärte Norm nicht mehr anwendbar (BVerfGE 22, 349, 363 = AP Nr. 101 zu Art. 3 GG) und daher keiner Auslegung mehr zugänglich.

5. An der bisherigen Praxis des Senats ist festzuhalten.

a) Das auch in der neueren Literatur (vgl. Bertram/Schulte, NZA 1989, 249, 250) vertretene Argument, dem Gesetzgeber stehe für die in der Vergangenheit abgeschlossenen Sachverhalte wegen des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbots bei einer Neuregelung kein Entscheidungsspielraum zu, überzeugt nicht. Denn wegen der besonderen Art der Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht und der daran anknüpfenden Senatsrechtsprechung war das Entstehen eines Vertrauenstatbestandes ausgeschlossen.

b) Zudem ist zwischenzeitlich ein Gesetzgebungsverfahren zur Regelung der Anrechnungsproblematik eingeleitet worden. Am 25. Oktober 1989 hat die Bundesregierung einen Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht (BT-Drucks. 11/5465), wonach die Betriebszugehörigkeit für Arbeiter ebenfalls bereits von der Vollendung des 25. Lebensjahres an fristverlängernd angerechnet werden soll. Diese Regelung soll auch die bei Inkrafttreten des Gesetzes bereits ausgesprochenen Kündigungen erfassen. Der Entwurf der Bundesregierung stimmt insoweit mit einem von der SPD bereits am 14. Oktober 1987 eingebrachten Gesetzentwurf überein. Die Gerichte sind nicht befugt, in laufende Gesetzgebungsverfahren einzugreifen bzw. deren Ergebnis vorwegzunehmen. Das ergibt sich eindeutig aus dem in Art. 20 Abs. 2 GG verankerten Grundsatz der Gewaltenteilung. Das angefochtene Urteil hat insoweit auch nicht den Versuch unternommen, seinen gegenteiligen Standpunkt zu begründen.

 

Unterschriften

Hillebrecht, Dr. Ascheid, Bitter, Thieß, Binzek

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1081193

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