Leitsatz

Es verstößt gegen das Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit Art. 103 Abs. 1 GG, wenn eine Verfahrensordnung keine fachgerichtliche Abhilfemöglichkeit für den Fall vorsieht, dass ein Gericht in entscheidungserheblicher Weise den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt.

 

Sachverhalt

Die Entscheidung befasst sichmit der Frage, ob und in welchem Umfang Verstöße eines Richters gegen das grundrechtsgleiche Recht auf rechtliches Gehör durch die Gerichte der einzelnen Justizzweige selbst behoben werden müssen. Ausgangspunkt des Verfahrens war eine beim Ersten Senat des BVerfG anhängige Verfassungsbeschwerde. Diese betraf ein Berufungsurteil, durch das nach Auffassung des Ersten Senats eindeutig der Anspruch des Beschwerdeführers auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt wird. Der BGH hat die gegen das OLG-Urteil eingelegte Revision als unzulässig verworfen. Die Entscheidung des BGH beruht auf den Bestimmungen der ZPO zur Zulässigkeit der Revision in der bis zum 31.12.2001 gültigen Fassung. Im Fehlen einer gesetzlichen Rechtsschutzmöglichkeit gegen die Verletzung rechtlichen Gehörs durch die Fachgerichte sieht der Erste Senat einen Verstoß gegen den Justizgewährungsanspruch. Nach der bisherigen Rechtsprechung beider Senate gewährleistet das Grundgesetz keinen Rechtsschutz gegen den Richter. Davon wollte der Erste Senat insoweit abrücken, als es sich um entscheidungserhebliche Verstöße des Richters gegen das Verfahrensgrundrecht des Art. 103 Abs. 1 GG handelt. Dem ist das Plenum des Gerichts, also das Gremiumsämtlicher Verfassungsrichter, gefolgt.

 

Entscheidung

Die grundgesetzliche Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 GG umfasst den Zugang zu den Gerichten, die Prüfung des Streitbegehrens in einem förmlichen Verfahren sowie die verbindliche gerichtliche Entscheidung. Der Rechtsschutz ist darüber hinaus im Rahmen des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs garantiert. Ein Instanzenzug ist von Verfassungs wegen allerdings nicht geboten. Im Interesse der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens nimmt das verfassungsrechtlich gewährleistete Rechtsschutzsystem bei der Überprüfung eines Verhaltens also ein Restrisiko falscher Rechtsanwendung in Kauf. Zum allgemeinen Justizgewährungsanspruch gehört auch der Rechtsschutz bei der erstmaligen Verletzung von Verfahrensgrundrechten durch ein Gericht. Gerade das rechtliche Gehör nach Art. 103 GG steht in einem funktionalen Zusammenhang mit der Rechtsschutzgarantie. Diese sichert allgemein den Zugang zum Verfahren, während die Gewährung rechtlichen Gehörs auf einen angemessenen Ablauf des Verfahrens zielt. Vor Gericht sollen die Anliegen von jedermann "wirklich" wahrgenommen werden. Das Verfahrensgrundrecht enthält damit einen Maßstab für die Rechtmäßigkeit des richterlichen Verhaltens bei der Verfahrensdurchführung. Verstöße gegen den Grundsatz rechtlichen Gehörs sollten möglichst sach- und zeitnah durch die Fachgerichte selbst korrigiert werden. Sieht die Verfahrensordnung noch ein Rechtsmittel gegen die gerichtliche Entscheidung vor, das auch zur Überprüfung der behaupteten Verletzung von Verfahrensgrundrechten führen kann, genügt dies dem Anliegen der Justizgewährung. Kommt es zu der entscheidungserheblichen Verletzung des Verfahrensgrundrechts in der letzten Gerichtsinstanz, muss die Verfahrensordnung aber eine eigenständige gerichtliche Abhilfemöglichkeit vorsehen. Eine behauptete Rechtsverletzung bei einem gerichtlichen Verfahrenshandeln braucht dabei nur einer einmaligen gerichtlichen Kontrolle unterzogen werden. Ein "endloser Rechtsweg" – so das BVerfG ausdrücklich – scheidet aus.

 

Praxishinweis

Bei der Ausgestaltung des Rechtsbehelfssystems hat der Gesetzgeber einen weiten Spielraum. Verletzungen des Rechts auf rechtliches Gehör können im Allgemeinen Rechtsmittelsystem berichtigt werden, aber auch im Rahmen eines Sonderrechtsbehelfs[1]. Möglich ist dabei auch ein Rechtsbehelf an das Gericht, dessen Verfahrenshandlung als fehlerhaft gerügt wird. Bei der näheren Ausgestaltung muss der Gesetzgeber die Interessen anderer Verfahrensbeteiligter, die Belange der Rechtssicherheit und die Anforderungen an die Funktionsfähigkeit der Gerichte berücksichtigen. Andernfalls besteht ein Rechtsschutzdefizit. Es kann durch die bisher von der Rechtsprechung teilweise außerhalb des geschriebenen Rechts geschaffenen außerordentlichen Rechtsbehelfe, wie etwa eine Gegenvorstellung, nicht behoben werden, da sie gegen den Grundsatz der Rechtsmittelklarheit verstoßen. Deshalb soll der Gesetzgeber nach dem Wunsch des Gerichts eine Neuregelung bis Ende 2004 schaffen.

 

Link zur Entscheidung

BVerfG, Beschluss vom 30.04.2003, 1 PBvU 1/02

[1] Vgl. jüngst § 321a ZPO

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