§§ 15 Abs. 4, 48 Abs. 6 S. 1 RVG

Leitsatz

Die Aufhebung des Beschlusses über die Pflichtverteidigerbestellung hat grundsätzlich keine Auswirkungen auf bereits entstandenen Gebühren.

AG Osnabrück, Beschl. v. 11.10.2021 – 202 Ds (211 Js 11318/21) 235/21

I. Sachverhalt

Der Staatsanwaltschaft hat am 22.4.2021 Anklage gegen die Angeschuldigte wegen Bedrohung zum Jugendschöffengericht Osnabrück erhoben. Bei Übersendung der Anklageschrift an die Angeschuldigte wies das AG darauf hin, dass ihr ein Pflichtverteidiger zu bestellen sei und sie Gelegenheit zur Benennung eines Rechtsanwaltes/einer Rechtsanwältin binnen einer Woche habe. Weiterhin wurde angekündigt, dass für den Fall der Nichtbenennung ein Pflichtverteidiger durch das Gericht bestellt werde. Mit Schreiben vom 29.4.2021 meldete sich der Rechtsanwalt für die Angeschuldigte zur Akte und beantragte seine Bestellung als Pflichtverteidiger. Im weiteren Verlauf erfolgte auf Antrag der Staatsanwaltschaft dann eine Eröffnung des Verfahrens vor dem Strafrichter. Die Staatsanwaltschaft beantragte, von einer Beiordnung wegen nicht mehr bestehender Voraussetzungen abzusehen; das AG ordnete gleichwohl den Verteidiger mit Beschl. v. 17.6.2021 bei. Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft hat das LG die Pflichtverteidigerbestellung aufgehoben.

Den Antrag des Rechtsanwalts auf Festsetzung seiner Pflichtverteidigervergütung hat der Kostenbeamte abgelehnt. Hiergegen richtete sich die Erinnerung des Rechtsanwalts, zu der der Bezirksrevisor gehört worden ist. Er hat Zurückweisung des Rechtsmittels beantragt. Das Rechtsmittel hatte aber Erfolg.

II. Rechtsgedanke des § 15 Abs. 4 RVG

Nach Auffassung des Amtsrichters hat die nachträgliche Aufhebung des Bestellungsbeschlusses vom 17.6.2021 hier keine Auswirkung auf die dem Rechtsanwalt zustehenden Pflichtverteidigergebühren. Für die Entstehung eines Vergütungsanspruchs gegen die Staatskasse sei grds. der Bestellungsakt nach § 48 Abs. 1 S. 1 RVG entscheidend. Mit der Ausführung anwaltlicher Tätigkeiten auf Basis einer Beiordnung entstehen die Grund- und Verfahrensgebühren nach Nrn. 4100, 4106 VV (vgl. Gerold/Schmidt/Burhoff, RVG, 25. Aufl., VV 4100 Rn 12).

Eine zeitlich nachfolgende Aufhebungsentscheidung hinsichtlich der Pflichtverteidigerbestellung habe grds. keine Auswirkungen auf diese bereits entstandenen Gebühren. Dies folge aus der Vorschrift des § 15 Abs. 4 RVG, wonach nachträgliche Änderungen hinsichtlich der Angelegenheit ohne Bedeutung für den Vergütungsanspruch seien. Diese Norm gelte nach ihrem Sinn und Zweck auch für die Staatskasse (vgl. Burhoff/Volpert/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl., 2021, Teil A: Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse (§§ 44, 45, 50) Rn 2400). Eine Ausnahme vom normierten Grundsatz könne sich gem. § 15 Abs. 4 RVG nur aus dem RVG selbst ergeben, wofür hier keine Anhaltspunkte ersichtlich seien.

III. Hilfserwägungen des Bezirksrevisors

Ob für Fälle einer äußerst kurzfristigen Beiordnung, die ein bereits bestehendes Wahlmandat gleichsam "überlagere", eine Ausnahme im Hinblick auf die ohnehin bereits entstandene Wahlverteidigervergütung und die fehlende Schutzbedürftigkeit bzw. den fehlenden Vertrauensschutz zu begründen sei – so die Argumentation in der Stellungnahme des Bezirksrevisors –, bedurfte hier nach Auffassung des AG keiner Entscheidung: Es sei im vorliegenden Fall nicht ansatzweise ersichtlich, dass schon vor der Anhörung der Angeschuldigten zur Pflichtverteidigerbestellung ein Wahlmandat bestanden hätte. Im Gegenteil meldete sich der Verteidiger erst auf die Anhörung der Angeschuldigten zur Akte und beantragte seine Beiordnung. Eine Tätigkeit des Verteidigers im Vertrauen auf eine Wahlverteidigervergütung – und daher ggfs. mangelnde Schutzbedürftigkeit im Hinblick auf eine potentiell aufhebbare Bestellung als Pflichtverteidiger – seien fernliegend. Der Rechtsanwalt habe sich von einer Mandantin bevollmächtigen lassen, welche ausdrücklich durch das AG auf eine notwendige Verteidigung hingewiesen worden sei. Dies lasse hinsichtlich der Bevollmächtigung nur den Schluss zu, dass diese vor dem Hintergrund der für sicher gehaltenen Bestellung als Pflichtverteidiger erfolgte. Bei Beginn der anwaltlichen Tätigkeit (und somit zum Zeitpunkt der Entstehung der Gebühren) sei sein Vertrauen auf die gerichtlich angekündigte – und letztlich ausgesprochene – Beiordnung schutzwürdig, auch wenn sich die maßgeblichen Umstände später geändert haben. Eine Abweichung vom Grundsatz der Vergütung auch bei nachträglicher Aufhebung des Beiordnungsbeschlusses sei daher nicht gerechtfertigt.

IV. Gesetzlicher Kontext

Der gesetzliche Kontext spreche ebenfalls dafür, dass der Gebührenanspruch schon vor Bestandskraft der Beiordnung entstehe und bei nachträglicher Aufhebung erhalten bleibe. So sei es Ratio der Rückwirkungsvorschrift des § 48 Abs. 6 S. 1 RVG, das Tätigwerden schon vor Bestellung als Pflichtverteidiger ohne Verlust der entsprechenden Ansprüche gegen die Staatskasse ausdrücklich zuzulassen. Erst Recht müsse dies bei einer später tatsächlich erfolgten und noch später wieder aufgehobenen Beiordnung gelten.

V. Bedeutung für die Praxis

Die Entscheidung i...

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