Kreativ, aber m.E. falsch, und zwar in doppelter Hinsicht.

1. Anwendung der Toleranzgrenze

Die vom AG vertretene Ansicht, die Entscheidung des VIII. Zivilsenats des BGH vom 11.7.2012 (VIII ZR 323/11, AGS 2012, 373 = RVGreport 2012, 375) gebe die Möglichkeit, auch im sog. "20-%-Toleranzbereich" in die gem. § 14 Abs. 1 RVG vorgenommene Gebührenbemessung des Rechtsanwalts einzugreifen, ist falsch und wird – soweit ersichtlich – in Rspr. und Lit. auch nicht vertreten. Das AG übersieht den Zusammenhang, in dem die Entscheidung des BGH ergangen ist. Es ging um die Frage, ob eine Geschäftsgebühr von mehr als 1,3 gefordert werden konnte. Abgesehen davon, dass die Entscheidung zu Nr. 2300 VV und damit zu einer Satzrahmengebühr ergangen ist, übersieht das AG, dass es in dem Urt. des BGH v. 11.7.2012 um das Eingreifen des sog. Schwellenwertes von 1,3 ging, der nur überschritten werden darf, wenn die Tätigkeit des Rechtsanwalts "umfangreich oder schwierig". Für die Bestimmung der Gebühr sind bei der Nr. 2300 VV drei Schritte zu gehen: Ausgangspunkt Mittelgebühr von 1,5, Prüfung der Kriterien des § 14 Abs. 1 RVG, bei nur durchschnittlicher Angelegenheit dann nur Schwellenwert von 1,3 (AnwKomm-RVG/Thiel/Reckin, 9. Aufl., 2021, VV 2300 Rn 10). Die BGH-Entscheidung bezieht sich auf den dritten Schritt und verneint eine Bindung/Geltung der 20-%-Rspr. bzw. Regel für diesen Schritt.

Der entscheidende Unterschied zur Gebührenbestimmung der Rahmengebühren im Bußgeldverfahren und auch Strafverfahren nach Teil 4 und 5 VV ist nun aber, dass dort der dritte Schritt fehlt. Im Straf- und Bußgeldverfahren ist von der Mittelgebühr auszugehen und dann anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls die (angemessene) Gebühr zu bestimmen. Hat der Rechtsanwalt die Gebühr bestimmt und weicht diese nicht mehr als 20 % von der angemessenen Gebühr ab, ist die bestimmte Gebühr nach h.M. in Rspr. und Lit. verbindlich (Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl., 2021, Teil Arn 1807 ff. m.w.N.). Irgendwelche Schwellenwerte, die die Gebühr(en) ggfs. weiter beschränken oder reduzieren könnten, weil die Tätigkeiten des Rechtsanwalts nicht "umfangreich oder schwierig" waren, gibt es nicht und sind nicht zu beachten. Die mit "Umfang" und "Schwierigkeit" zusammenhängenden Fragen haben zudem ja auch schon bei der Bemessung der im Sinn des § 14 Abs. 1 S. 1 RVG angemessenen Gebühr eine Rolle gespielt. Würde man jetzt hier – wie das AG Bad Salzungen – den BGH (Urt. v. 11.7.2012 – VIII ZR 323/11, AGS 2012, 373 = RVGreport 2012, 375) eingreifen lassen, hätte das zur Folge, dass die 20-%-Regel in Straf- und Bußgeldverfahren immer umgangen werden könnte. Das ist sicherlich der Wunsch mancher Rechtsschutzversicherung und auch des ein oder anderen Kostenbeamten, aber mit der Systematik des RVG und der h.M. in Rspr. und Lit. nicht vereinbar. wie gesagt – kreativ.

2. Ausgangspunkt Mittelgebühr

Auch die Ausführungen des AG zum Ansatz der Mittelgebühr sind unzutreffend. Eine "herabgesetzten Mittelgebühr" für durchschnittlich Verkehrsordnungswidrigkeiten gibt es im RVG nicht. Vielmehr ist auch in straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren von der Mittelgebühr auszugehen und dann anhand der Umstände des Einzelfalls ggfs. eine Reduzierung oder Erhöhung der Mittelgebühr vorzunehmen und so die insgesamt angemessene Gebühr zu bestimmen. Alles andere ist contra legem, auch wenn das zum Teil von Amts- und Landgerichten anders gesehen wird (vgl. die Nachweise bei Burhoff/Volpert/Burhoff, a.a.O., Vorbem. 5 VV Rn 56 ff.). Man kann das nur immer wiederholen. Legt man diese zutreffende Sichtweise zugrunde, bieten die vom AG mitgeteilten Verfahrensumstände keinen Anlass, die Mittelgebühren zu erhöhen oder zu reduzieren. Es hat sich um ein durchschnittliches (verkehrsrechtliches) Bußgeldverfahren, für das eben die Mittelgebühr vorgesehen ist. Die Einstufung durch das AG ist nicht nachvollziehbar.

Rechtsanwalt Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

AGS 12/2021, S. 544 - 545

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