§ 15 RVG; Teil 4 Abschnitt 1 VV RVG

Leitsatz

  1. Wird ein Rechtsanwalt zunächst einem Mandanten als Pflichtverteidiger "für die Dauer der Vernehmung eines Zeugen" beigeordnet und dann später als Pflichtverteidiger für das Verfahren, handelt es sich nicht um dieselbe Angelegenheit, sodass eine Anrechnung von Gebühren nicht in Betracht kommt.
  2. Erfolgt die Bestellung des Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger nach § 140 Abs. 1 Nr. 10 StPO, handelt es sich nicht um eine Einzeltätigkeit, sondern um eine Tätigkeit i.S.v. Teil 4 Abschnitt 1 VV mit der Folge, dass der beigeordnete Rechtsanwalt die Grundgebühr, die Verfahrensgebühr und die Terminsgebühr verdient.

AG Speyer, Beschl. v. 27.3.2023 – 1 Ls 5121 Js 25842/19; AG Speyer, Beschl. v. 5.4.2023 – 1 Ls 5121 Js 25842/19

I. Sachverhalt

Dem Beschuldigten wurde der Vorwurf der Vergewaltigung gemacht. Ihm wurde mit Beschluss des AG vom 16.12.2020 der Rechtsanwalt für die Dauer der Vernehmung der Zeugin Z im Rahmen des Ermittlungsverfahrens beigeordnet.

Der Beschluss wurde dem Rechtsanwalt zusammen mit der Terminsbestimmung zur Zeugeneinvernahme am 8.1.2021 zugestellt. Der Rechtsanwalt nahm am 11.1.2021 Akteneinsicht. Er hat an der nichtöffentlichen Sitzung vor dem Ermittlungsrichter am 28.1.2021 teilgenommen.

Am 2.2.2021 hat er die Festsetzung seiner Vergütung beantragt. Das AG hat eine Grundgebühr Nr. 4100 VV, eine Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV, eine Terminsgebühr Nr. 4102 Nr. 1 VV sowie Auslagen festgesetzt.

Auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom 12.4.2021 wurde dem Beschuldigten sodann mit Beschl. v. 21.4.2021 der Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger beigeordnet. Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nahm dieser am 7.5.2021 und am 17.8.2021, auch jeweils auf Hinweis der Staatsanwaltschaft, erneut Akteneinsicht. Nach Anklagerhebung haben zwei Hauptverhandlungstermine stattgefunden, an denen der Rechtsanwalt teilgenommen hat.

Nach Eintritt der Rechtskraft hat der Rechtsanwalt beantragt, seine weiteren Gebühren und Auslagen wie folgt festzusetzen: Grundgebühr Nr. 4100 VV, Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV, Verfahrensgebühr Nr. 4106 VV, zweimal Terminsgebühr Nr. 4108 VV mit einem Zuschlag Nr. 4110 VV und Auslagen. Das AG hat die Gebühren antragsgemäß festgesetzt.

Dagegen hat die Vertreterin der Staatskasse Erinnerung eingelegt und beantragt, die Gebühren für das Ermittlungsverfahren anzurechnen. Dazu hat sie auf die Entscheidung des LG Mannheim im Beschl. v. 21.1.2019 (5 Qs 61/18, RVGreport 2019, 217) hingewiesen. Das AG hat der Erinnerung mit Beschl. v. 27.3.2023 nicht abgeholfen. Das AG – Schöffengericht – hat die Erinnerung sodann mit Beschl. v. 5.4.2023 zurückgewiesen und sich die Gründe des Nichtabhilfebeschlusses zu eigen gemacht.

II. Keine Anrechnung

1. Keine Anrechnung nach Teil 4 VV

Das AG verneint eine Anrechnung. Eine Anrechnung von Gebühren sei in der Aufstellung der Kostentatbestände in Teil 4 VV nicht vorgesehen.

2. Keine Anrechnung nach § 15 Abs. 5 RVG

Eine Anrechnung von Gebühren komme – so das AG – aber auch nicht nach § 15 Abs. 5 RVG in Betracht, der in bestimmten Fällen eine Anrechenbarkeit zuließe. Voraussetzung hierfür sei jedoch, dass der Rechtsanwalt, nachdem er in einer Angelegenheit tätig geworden ist, beauftragt wird, in derselben Angelegenheit weiter tätig zu werden. Sodann dürfe dieser nicht mehr an Gebühren erhalten, als der Rechtsanwalt erhielte, wenn dieser von vornherein hiermit beauftragt worden wäre.

Den Begriff "derselben Angelegenheit" erwähne das RVG aber nicht. Die Abgrenzung von unterschiedlichen Angelegenheiten werde der Rspr. und dem Schrifttum überlassen (vgl. Gerold/Schmidt/Mayer, RVG, 25. Aufl., 2021, § 15 Rn 5). Die anwaltliche Tätigkeit in derselben Angelegenheit müsse danach aufgrund eines einheitlichen Auftrags erfolgen, sich im gleichen Rahmen halten, zwischen den einzelnen Handlungen und/oder Gegenständen einen inneren Zusammenhang haben und in der Zielsetzung übereinstimmen (vgl. Mayer/Kroiß, RVG, 8. Aufl., 2021, § 15 Rn 2–4). Gemessen an diesen Maßstäben liegen nach Auffassung des AG die Voraussetzungen für die Anwendung des § 15 Abs. 5 RVG hier nicht vor.

Der Rechtsanwalt sei mit Beschl. v. 16.12.2020 im Ermittlungsverfahren wie folgt bestellt worden:

"Für die Dauer der Vernehmung wird dem Beschuldigten Rechtsanwalt pp., Speyer, beigeordnet."

Grund für die Beiordnung sei der Ausgleich für den Ausschluss des Angeschuldigten während der Dauer der Vernehmung gewesen, sodass wenigstens für diesen einen Termin sein beigeordneter Verteidiger seine Rechte wahrnehmen konnte (§ 168c Abs. 3, Abs. 5 S. 2 StPO). Der Vernehmungstermin habe am 28.1.2021 stattgefunden. Der Rechtsanwalt sei zugegen gewesen. Aus dem Protokoll dieser nichtöffentlichen Sitzung ergäben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass der Rechtsanwalt mit einer sukzessiven Erweiterung des Auftrags habe rechnen können. Deshalb habe dieser nach Auftragserledigung beantragt, seine Vergütung festzusetzen, was letztendlich antragsgemäß erfolgt sei.

Erst 3 Monate nach Beendigung seines Auftrags aus dem Bestellungsbeschluss vom 16.12.2020 sei der ...

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