§§ 142, 144 StPO

Leitsatz

Auf die sofortige Beschwerde gegen die Ablehnung der Bestellung eines weiteren Verteidigers prüft das Beschwerdegericht, ob der Vorsitzende des Erstgerichts die Grenzen seines Beurteilungsspielraums zu den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO eingehalten und sein Entscheidungsermessen fehlerfrei ausgeübt hat. Es kann die Beurteilung des Vorsitzenden, dass die Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Beiordnung nicht erfordert, nur dann beanstanden, wenn sie sich nicht mehr im Rahmen des Vertretbaren hält.

BGH, Beschl. v. 31.8.2020 – StB 23/20

I. Sachverhalt

Beim OLG Dresden ist gegen den Angeklagten ein Strafverfahren u.a. wegen des Vorwurfs der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung in vier Fällen, anhängig. Der Ermittlungsrichter des OLG hat am 15.6.2018 dem Angeklagten Rechtsanwalt H. aus L. als Verteidiger bestellt.

Mit Schriftsatz von Rechtsanwalt aus L. vom 22.4.2020 hat der Angeklagte beantragt, ihm jenen als weiteren Pflichtverteidiger beizuordnen. Begründet hat er das so schwieriger rechtlicher Bewertung des umfangreichen Prozessstoffes, dass das ausschließlich bei arbeitsteiligem Zusammenwirken zweier Verteidiger beherrscht werden könne. Zudem hat er zu bedenken gegeben, dass "erfahrungsgemäß bei höherer Anzahl von Verfahrensbeteiligten und längerer Dauer der Hauptverhandlung die Wahrscheinlichkeit" steige, "ein Verteidiger werde planmäßig verhindert sein". Der Vorsitzende des Strafsenats hat dies mit – formlos mitgeteiltem – Beschluss abgelehnt. Hiergegen ist am 28.5.2020 "Beschwerde" eingelegt worden.

Inzwischen hat das OLG die Anklage der Generalstaatsanwaltschaft zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Zugleich hat der Vorsitzende Hauptverhandlungstermin auf den 7.9.2020 und 30 Fortsetzungstermine bis zum 28.1.2021 bestimmt.

Das Rechtsmittel hatte beim BGH keinen Erfolg.

II. Zulässigkeit des Rechtsmittels

Der BGH sieht das Rechtsmittel als statthafte und auch i.Ü. zulässige sofortige Beschwerde an (§ 142 Abs. 7 S. 1 StPO, § 304 Abs. 4 S. 2 Hs. 2 Nr. 1, § 306 Abs. 1, § 311 Abs. 1 und 2 StPO).

1. Statthaftigkeit

Das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde sei gem. der – ihrem Wortlaut nach unmittelbar anwendbaren – Vorschrift des § 142 Abs. 7 S. 1 StPO statthaft. Der Anwendung der in § 144 Abs. 2 S. 2 StPO geregelten Verweisung bedürfe es nicht. Sie gelte auch nach ihrer systematischen Stellung allein für die Entscheidung über die Aufhebung der Bestellung eines zusätzlichen Verteidigers nach § 144 Abs. 2 S. 1 StPO (anders OLG Hamm, Beschl. v. 5. 5. 2020 – III-4 Ws 94/20, StRR 6/202, 3 [Ls.]), das – auch mit Blick auf die Gesetzesmaterialien [s. BT-Drucks 19/13829, 50] – hinsichtlich der Gesetzessystematik von einem gesetzgeberischen Redaktionsversehen ausgegangen ist und § 142 Abs. 7 Satz 1 StPO über die Verweisung gem. § 144 Abs. 2 Satz 2 StPO angewendet hat; im Ergebnis ebenso BeckOK StPO/Krawczyk, 37. Ed., § 144 Rn 11).

2. Beschwerdeführer

Beschwerdeführer sei der Angeklagte selbst, nicht Rechtsanwalt T. Dies ergebe sich daraus, dass dessen Schriftsatz vom 22.4.2020 über den Antrag auf Beiordnung eines zweiten Pflichtverteidigers den Angeklagten als Antragsteller bezeichnet. Da der Schriftsatz über die sofortige Beschwerde ausdrücklich auf den "Antrag des (damaligen) Angeschuldigten" Bezug nehme, sei er dahin auszulegen, dass das Rechtsmittel in seinem Namen und Auftrag eingelegt worden ist. Infolgedessen komme es nicht darauf an, ob Rechtsanwalt T., wenn er Beschwerdeführer wäre, eine Beschwerdebefugnis zustünde (vgl. auch BGH, Beschl. v. 18.8.2020 – StB 25/20, RVGreport 2020, 439 = StRR 2020, Nr. 10 S. 11 f.).

3. Rechtzeitigkeit

Entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft ist die sofortige Beschwerde rechtzeitig eingelegt worden. Nach § 35 Abs. 2 StPO hätte der angefochtene Beschluss nämlich förmlich zugestellt werden müssen. Denn es bedürfe der Zustellung der Entscheidung, wenn durch ihre Bekanntmachung eine Frist – wie vorliegend die Wochenfrist des § 311 Abs. 2 StPO – in Lauf gesetzt wird. Eine bloße formlose Mitteilung genüge auch dann nicht, wenn sie – anders als hier – nachgewiesen sei (s. LR/Matt, StPO, 26. Aufl., § 311 Rn 7 m.w.N.). Da die Beschwerdefrist somit noch gar nicht zu laufen begonnen habe, habe die sofortige Beschwerde nicht verfristet eingelegt werden können.

III. Begründetheit

In der Sache hatte das Rechtsmittel keinen Erfolg. Der zur Entscheidung berufene Vorsitzende des mit der Sache befassten OLG-Senats (§ 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO) habe bei seiner Entscheidung über den Antrag des Angeklagten auf Beiordnung eines zweiten Pflichtverteidigers die Grenzen des Beurteilungsspielraums nicht überschritten, der ihm zu den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO zugestanden hat.

1. Neuregelung

Nach der seit dem 13.12.2019 geltenden Vorschrift des § 144 Abs. 1 StPO können in Fällen der notwendigen Verteidigung einem Beschuldigten zu seinem Wahl- oder (ersten) Pflichtverteidiger "bis zu zwei weitere Pflichtverteidiger zusätzlich" bestellt ...

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