Rz. 191

Obwohl im Gesetz nicht mehr genannt, lassen sich mit der bisherigen Rechtsprechung Fallgruppen bilden, in denen eine grobe Unbilligkeit des Versorgungsausgleichs bejaht werden kann. Die Änderung am Wortlaut der Härteregelung sollte an deren Gehalt nichts ändern; der Verzicht auf Regelbeispiele trug allein dem Umstand Rechnung, dass der Gesetzgeber das Instrument auch wegen des nun einzelrechtsbezogenen Anwendungsbereichs der Regelung flexibilisieren wollte.

 

Rz. 192

Unterscheiden lassen sich zwei große Gruppen von Härtegründen: Gründe, die in den Lebensumständen der Eheleute, v.a. den Vermögens- und Einkommensverhältnissen der Ehegatten oder der Fähigkeit begründet sind, für den eigenen Erwerb zu sorgen und solche, die in illoyalen oder anderen zu missbilligenden Verhaltensweisen des einen Ehegatten ggü. dem anderen. Es lassen sich insoweit allerdings nahezu beliebig viele Untergruppen bilden, da es in einer Gesamtschau, wie sie hier erforderlich ist, immer eine unendliche Zahl von möglichen Eingruppierungen gibt.

 

Rz. 193

 

Praxistipp

Zu beachten ist, dass die im Folgenden angesprochenen Tatbestände entweder für die Unbilligkeit eines Ausgleichs sprechen können, zum anderen als Abwägungselemente gerade auch für die Durchführung eines Ausgleichs herangezogen werden können. Entscheidend ist dafür, welcher der Ehegatten die jeweiligen Umstände verwirklicht (bei den verhaltensbezogenen Härtegründen) bzw. welcher stärker von ihnen betroffen ist (bei den strukturellen und wirtschaftlichen Härtegründen).

 

Rz. 194

 

Beispiel

F muss bei der Scheidung die Anrechte aus ihrer gesetzlichen Rentenversicherung ausgleichen. Sie bezieht seit dem Jahr 1997 aber lediglich ein Einkommen aufgrund ihrer Erwerbsunfähigkeitsrente und kann keine weiteren Versorgungsanrechte mehr erwirtschaften. Ihr Mann M ist selbstständig und hat als auszugleichende Anrechte nur eine kleine Lebensversicherung. Unterhalt leisten kann er nicht.

In diesem Fall sind an sich auf beiden Seiten Gründe verwirklicht, die gegen einen Ausgleich der jeweiligen Anrechte sprechen: F verlöre durch den Ausgleich ihre einzige und wesentliche Erwerbsquelle, aus der sie allein ihren Unterhalt bestreiten kann. M hat dagegen keine eigene Altersversorgung, sodass er dringend auf die Übertragung der Anrechte von F angewiesen ist. Gleichwohl wird in diesem Fall der Schwerpunkt bei den Gründen von F zu suchen sein. Diese müsste von ihren Anrechten abgeben, ohne die Chance neue Anrechte zu erwerben und das an eine Person, die es bisher unterlassen hat, Versorgungsanrechte zu erwerben. In diesem Fall sprechen also die wirtschaftlichen Verhältnisse dafür, den Ausgleich ihrer Anrechte zu verneinen.

Auf der anderen Seite (wenn es um den Ausgleich von M geht) ergibt sich die spiegelbildliche Lage: Gegen einen Ausgleich spricht in diesem Fall, dass M auch von seinen wenigen Anrechten die Hälfte genommen wird. Auch insoweit setzt sich bei der Billigkeitsabwägung v.a. wieder durch, dass F in einer wirtschaftlich deutlicher schwächeren Position ist und auch auf Unterhaltsleistungen von M nicht bauen kann. Zu dem Problem, dass F dann u.U. besser stünde als sie stehen würde, wenn gar kein Versorgungsausgleich durchgeführt würde vgl. Rdn 218.

 

Rz. 195

 

Beispiel

M hat während der Ehe die Tochter seiner Frau F missbraucht. Auszugleichen sind sowohl Anrechte von F (in der gesetzlichen Rentenversicherung) als auch solche von M (in der privaten Altersvorsorge). F hat ihre private Altersvorsorge vor dem Ehezeitende aufgelöst, damit M auf keinen Fall an ihr partizipieren kann.

Auch in diesem Fall liegen auf beiden Seiten Härtegründe vor: Die vorsätzliche Auflösung von Rentenanrechten ist an sich ein Grund, welcher den Ausgleich von Anrechten des anderen Teils als grob unbillig erscheinen lassen kann. In Bezug auf die Aufteilung der Anrechte von F ist aber besonders die Schwere des M zur Last gelegten Verhaltens zu beachten. Insofern dürfte es grob unbillig sein, ihre Anrechte aufzuteilen – und zwar selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, dass ihr selbst ein versorgungsausgleichsrechtlich zu missbilligendes Verhalten vorgeworfen werden kann. In Bezug auf den Ausgleich der Anrechte von M dürfte die gleiche Beurteilung Platz greifen: F ist zwar an sich ein Fehlverhalten vorzuwerfen. Dieses wird aber bei weitem überlagert durch das M vorgeworfene Verhalten. Insofern ist die Rechtslage damit keine andere als wenn nur aufseiten von M ein Härtegrund vorläge, der den Versorgungsausgleich grob unbillig erscheinen lassen würde.

Auch in diesem Fall stellt sich wiederum das Problem der Folgen dieses wegen der groben Unbilligkeit gespaltenen Ausgleichs: Führt man ihn so durch, wie gerade beschrieben, dann behält F alle ihre Anrechte und erhält noch die Hälfte der Anrechte von M dazu. Dass das eine massive Verletzung des Halbteilungsgrundsatzes bedeutet, liegt auf der Hand. Sind beide Anrechte in etwa gleich wertvoll, bedeutete dieser Ausgleich, dass am Ende F ¾ aller in der Ehezeit erworbenen Anrechte hat, w...

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