Rz. 21

Das Gesetz unterscheidet gem. § 2229 Abs. 4 BGB drei Arten von Testierunfähigkeit:

die krankhafte Störung der Geistestätigkeit
die Geistesschwäche
die Bewusstseinsstörung.

Der Jurist spricht in diesen Fällen von der krankhaften Störung der Geistestätigkeit, der Geistesschwäche und der Bewusstseinsstörung; der psychiatrische Sachverständige benennt hierzu die zugrunde liegende Erkrankung, das Syndrom bzw. eine sonstige Störung. Die juristischen und medizinischen Begrifflichkeiten sind somit nicht kongruent, sondern sind durch jahrelange Rechtsprechung bzw. medizinisch-psychiatrische Diagnose-Klassifikationen, in Deutschland die verbindlich geltende ICD-10 GM (International Classification of Diseases, Internationale Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) der WHO definiert worden.[40]

 

Rz. 22

Dabei ist zu beachten, dass die Erkrankungen bzw. Störungen lediglich dann die Testierunfähigkeit bedingen, wenn der Testator die Bedeutung der von ihm abgegebenen Willenserklärung nach Inhalt und Tragweite nicht erkennen (Einsichtsvermögen) und nicht nach dieser Einsicht handeln kann, so dass aufgrund des fehlenden Einsichtsvermögens eine freie Willensbestimmung nicht möglich ist.[41] Es muss somit festgestellt werden, ob eine relevante Erkrankung vorliegt und ob diesbezüglich Auswirkungen im Hinblick auf die freie Willensbestimmung vorliegen. Auch eine nur vorübergehende krankhafte Störung der Geistestätigkeit oder Geistesschwäche kann in dem betreffenden Zeitraum zur Testierunfähigkeit führen.[42]

[40] Rösler/Supprian, in: Foerster/Dreßing (Hrsg.) Psychiatrische Begutachtung, Kapitel 11, S. 206.
[41] Staudinger/Baumann, § 2229 Rn 27.
[42] Staudinger/Baumann, § 2229 Rn 29.

a) Krankhafte Störung der Geistestätigkeit

 

Rz. 23

Hierunter fallen nicht nur kognitive, sondern auch affektive Störungen, wie Manien und Depressionen, mithin psychotische Störungen, wenn diese schwer genug ausgeprägt sind.[43] Als Gruppen der krankhaften Störung der Geistestätigkeit zählt Prof. Dr. Tilman Wetterling die Folgenden auf:[44]

das amnestische Syndrom
das demenzielle Syndrom
das depressive Syndrom
das manische und bipolar affektive Syndrom
die Persönlichkeitsveränderungen
das schizophrene Syndrom und andere Wahnerkrankungen
Suchterkrankungen (Gebrauch psychotroper Substanzen)
sonstige Erkrankungen wie Autismus, Enzephalopathien, Epilepsie, Infektionen des zentralen Nervensystems, multiple Sklerose, Parkinson-Syndrom, Schädel-Hirn-Trauma (Kopfverletzungen), Schlaganfall (Hirninfarkt bzw. Hirnblutung), Tumore des Zentralsystems
Wirkungen von Arzneimitteln (Medikamenten)
psychiatrische Komorbidität
Multimorbidität.
[43] Cording, ZEV 2010, 115.
[44] Wetterling, Freier Wille und neuropsychiatrische Erkrankung, S. 45ff.

b) Geistesschwäche (Intelligenzminderung)

 

Rz. 24

Die Geistesschwäche ist eine quantitativ geringer ausgeprägte krankhafte Störung der Geistestätigkeit und nicht mit Schwachsinn (Intelligenzminderung) gleichzusetzen.[45] Prof. Dr. Tilman Wetterling erwähnt die folgenden psychopathologischen und neuropsychologischen Symptome, die bei Menschen mit Intelligenzminderung auftreten können:[46]

Störungen der Aufmerksamkeit und Wahrnehmung insbesondere komplexer Sachverhalte
Störungen der Sprache, welche sich u.a. im Umfang des Wortschatzes, des allgemeinen Wortverständnisses sowie auch der Grammatik niederschlagen
Störungen der Informationsverarbeitung mit einer einhergehenden Minderung der Urteils- und Kritikfähigkeit
Störungen der Exekutivfunktion, so dass eine Handlungsplanung und Handlungsdurchführung erschwert möglich sind
Störungen des Antriebs und Psychomotorik
Störungen des Sozialverhaltens und der Emotionalität
Störungen der Impulsivität des Erkrankten.
[45] Cording, ZEV 2010, 115.
[46] Wetterling, Freier Wille und neuropsychiatrische Erkrankung, S. 107ff.

c) Bewusstseinsstörung

 

Rz. 25

Zu der Gruppe der Bewusstseinsstörungen zählen sowohl quantitative als auch qualitative Bewusstseinsstörungen, wie Delir und Verwirrtheitszustand.[47] Es ist im Rahmen der Feststellung der Testierunfähigkeit immer zweistufig zu prüfen, ob zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung eine krankheitswertige psychisch-geistige Störung vorlag und ob aufgrund der daraus resultierenden psychopathologischen Funktionsdefizite die Freiheit der Willensbestimmung aufgehoben war.[48] Für die Beurteilung ist nicht alleine die Diagnose einer organischen Störung entscheidend, sondern Grad und Ausmaß der nachweisbaren psychopathologischen Auffälligkeiten. Eine diagnostische Zuordnung allein genügt daher nicht, es kommt vielmehr auf Ausmaß und Intensität der psychischen Störung an.[49]

[47] Wetterling, Freier Wille und neuropsychiatrische Erkrankung, S. 112ff.
[48] Cording, ZEV 2010, 115, 121.
[49] BayObLG FamRZ 2002, 1066 = ZEV 2002, 234.

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