1. Vorrang der Auslegung

 

Rz. 307

Für die Anfechtung eines Testaments gelten nicht die allgemeinen Vorschriften der §§ 119124 BGB, sondern die Spezialregeln der §§ 2078 ff. BGB. Die Auslegung geht der Anfechtung vor. Erst wenn mit Hilfe der Auslegungsregeln der §§ 133, 2084 BGB der wirkliche oder hypothetische Wille des Erblassers nicht festgestellt werden kann, sind die Voraussetzungen einer Anfechtung zu prüfen.[388] Dem Erblasserwillen soll in erster Linie Geltung verschafft werden, §§ 2084, 2085 BGB ("Anfechtung kassiert, Auslegung reformiert").

[388] BGH LM Nr. 1 zu § 2100 BGB = NJW 1978, 264.

2. Anfechtungstatbestände

a) Erklärungs- und Inhaltsirrtum

 

Rz. 308

Wie § 119 Abs. 1 BGB so sieht auch § 2078 Abs. 1 BGB eine Anfechtungsmöglichkeit vor bei Erklärungs- und Inhaltsirrtum. Wille und Erklärung des Erblassers decken sich nicht. Der Erblasser will nicht, was er tatsächlich erklärt hat. Einem Inhaltsirrtum kann bei einem gemeinschaftlichen Testament der Irrtum über die eintretende Bindung des Überlebenden nach dem Tod des ersten Erblassers gleichstehen – mit Beweislast für denjenigen, der den Irrtum behauptet.[389]

 

Rz. 309

Zwischen falscher Vorstellung des Erblassers und der Verfügung muss ein Kausalzusammenhang bestehen. Es muss festgestellt werden können, dass der Erblasser nach seiner subjektiven Denkweise die Verfügung bei Kenntnis der wahren Sachlage nicht getroffen hätte. Das objektive Moment der verständigen Würdigung des Falles – wie bei § 119 BGB – ist unerheblich. Zu prüfen ist also, ob die Verfügung – einmal existent – im Ergebnis vom Erblasser seinerzeit nicht doch gebilligt worden wäre.

Die Unkenntnis der Rechtswirkung eines Widerrufs bei Rücknahme eines notariell beurkundeten Testaments aus der amtlichen Verwahrung kann ein Anfechtungsgrund sein.[390]

[390] OLG Düsseldorf ErbR 2016, 16 = FamRZ 2016, 1014 = ZEV 2016, 164.

b) Motivirrtum

 

Rz. 310

Im Testamentsrecht ist, anders als bei § 119 Abs. 2 BGB, der Motivirrtum ganz allgemein ein Anfechtungsgrund und nicht nur der Eigenschaftsirrtum, § 2078 Abs. 2 BGB. "Irrige Annahme" in § 2078 Abs. 2 BGB bezieht sich auf die Vergangenheit, "Erwartung des Eintritts oder Nichteintritts eines Umstandes" auf die Zukunft.[391] Der Grund für die großzügige Zulassung des Motivirrtums als Anfechtungsgrund liegt zum einen darin, dass beim Testament auf die Interessen eines Erklärungsempfängers keine Rücksicht zu nehmen ist und zum anderen, dass testamentarische Anordnungen freigebige Zuwendungen sind. Deshalb ist auch kein Ersatz des negativen Interesses vorgesehen.

 

Rz. 311

Auch hier ist ein Kausalzusammenhang erforderlich: Es muss festgestellt werden können, dass der Erblasser subjektiv bei Kenntnis der wahren Sachlage oder der wirklichen Entwicklung der für die Motivierung maßgeblichen Umstände die Verfügung nicht getroffen haben würde.

[391] BGH NJW 1963, 247; BayObLG Rpfleger 1984, 66; BGH LM Nr. 4 und 8 zu § 2078 BGB; BGH FamRZ 1983, 898; OLG München NJW 1983, 2577; OLG Frankfurt FamRZ 1993, 613 m.w.N.; OLG Hamm FamRZ 1994, 849.

c) Täuschung und Drohung

 

Rz. 312

Die Anfechtungsmöglichkeit wegen Drohung ist in § 2078 Abs. 2 BGB ausdrücklich geregelt.[392] Täuschung fällt als Motivirrtum unter § 2078 Abs. 2 BGB.

[392] Vgl. zu den Voraussetzungen einer Anfechtung wegen Drohung: KG FamRZ 2000, 912.

d) Hinzutreten weiterer Pflichtteilsberechtigter

 

Rz. 313

Einen qualifizierten Irrtum im Motiv wegen Hinzutretens eines Pflichtteilsberechtigten behandelt § 2079 BGB. Das Gesetz geht davon aus, der Erblasser rechne bei der Testamentserrichtung nicht mit dem Vorhandensein weiterer Pflichtteilsberechtigter beim Erbfall als den ihm im Zeitpunkt der Testamentserrichtung bekannten.[393] Wenn er sich darin irrt (spätere Geburt, Eheschließung, Minderjährigenadoption), so wird vermutet, er hätte bei vorausschauender Kenntnis einer solchen Veränderung den Pflichtteilsberechtigten nicht übergangen. Weiter wird vermutet, für die Testamentserrichtung mit dem den betreffenden Pflichtteilsberechtigten nicht berücksichtigenden Inhalt sei der Irrtum kausal gewesen. Wer die Kausalität leugnet und behauptet, das Testament wäre auch bei Kenntnis der späteren Pflichtteilsberechtigung so errichtet worden, hat dafür die Beweislast.

3. Beweislast

 

Rz. 314

Für die Irrtumstatbestände des § 2078 BGB trägt derjenige die Beweislast, der sich auf die Anfechtung der letztwilligen Verfügung beruft.[394] Die Anhaltspunkte für den Willensmangel müssen sich nicht aus der Verfügung von Todes wegen selbst ergeben.[395]

 

Rz. 315

Das in § 2079 BGB normierte Anfechtungsrecht des übergangenen Pflichtteilsberechtigten ist ein Sonderfall des Motivirrtums und ergänzt damit § 2078 Abs. 2 BGB. § 2079 BGB enthält eine Vermutung für das Vorliegen eines Motivirrtums in den dort geregelten Fällen und führt damit in seinem Anwendungsbereich zu einer Beweislastumkehr.

[394] BayObLG FamRZ 1977, 347; KG FamRZ 1977, 271; zu den Beweisanforderungen vgl. BayObLG ZErb 2003, 154; BayObLG FamRZ 2003, 259.
[395] BGH NJW 1965, 584.

4. Anfechtungsberechtigte

 

Rz. 316

Anfechtungsberechtigt ist jeder, dem die Anfechtung der Verfügung unmittelbar zustatten kommt, also bspw. der gesetzliche Erbe,...

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