Rz. 75

Hat ein Zeuge sein Zeugnis verweigert, dürfen daraus im Wege der freien Beweiswürdigung Schlüsse gezogen werden.

 

Rz. 76

Ist die Vernehmung eines Zeugen für den Mandanten ungünstig verlaufen, bleibt dem Rechtsanwalt – vorausgesetzt, es handelt sich nicht um das einzige Beweismittel des beweispflichtigen Mandanten – noch die Aufgabe, beim Gericht Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Zeugen und der Glaubhaftigkeit seiner Aussage vorzutragen. Dabei können folgende Kriterien herangezogen werden:

Inhalt und Ergiebigkeit der Aussage

Hat der Zeuge die Beweisfrage beantwortet?
Hat er selbst wahrgenommen oder ist er ein bloßer Zeuge vom Hörensagen?
Hat er Tatsachen oder nur Schlussfolgerungen kundgetan?

Vorliegen der Zeugnisfähigkeit

Bestand eine Wahrnehmungsmöglichkeit des Zeugen?

  • Konnte der Zeuge mit seinen Sinnesorganen die geschilderte Wahrnehmung überhaupt treffen? Welchen Standort hatte der Zeuge?
  • Handelt es sich nur um eine fragwürdige Schätzung?

War der Zeuge wahrnehmungsfähig?

  • War er körperlich und geistig in der Lage, wahrzunehmen?
  • Sprechen das Alter, die Erziehung und Bildung, die Begabung und Urteilskraft, die Gesundheit oder der Beruf gegen die Wahrnehmungsfähigkeit?
  • Liegen Wahrnehmungsfehler vor? Stehen Alkoholgenuss, Übermüdung, Ablenkungen, Täuschungen oder Projektionen entgegen?

War der Zeuge wahrnehmungsbereit?

  • War der Zeuge aufnahmebereit?
  • War der Zeuge aufmerksam, neugierig, interessiert, an dem Vorgang innerlich beteiligt, hatte er Vorkenntnisse; welche Sichtweisen, Erwartungen oder Wertvorstellungen und Empfindungen hatte er?
  • Oder hatte er Vorurteile, war er überfordert, hat er Sachen überschätzt, hatte er Angst, hat er den Sachverhalt rekonstruiert, handelte es sich für den Zeugen um ein belangloses Alltagsgeschehen?

Besteht eine Wiedergabemöglichkeit des Zeugen?

  • Konnte der Zeuge noch eine Erinnerung an die Wahrnehmung haben?
  • Oder hat der Zeuge seine Gedächtnislücken mit Mutmaßungen aufgefüllt?

Ist der Zeuge fähig, wiederzugeben?

  • Wie lange liegt der Vorgang zurück?
  • War die Erinnerung in Ordnung oder assoziiert der Zeuge?
  • Konnte der Zeuge seine Erinnerung konkret und anschaulich schildern oder bestehen Ausdrucksschwierigkeiten?
  • Ist die Wiedergabefähigkeit beeinträchtigt durch Krankheit, Wunsch- und Zielvorstellungen, durch voreilige Schlüsse und Verdrängungen?
  • Wird das Gedächtnis durch eigene und fremde Gedanken über den Vorgang – ggf. im Unterbewusstsein – beeinflusst?

Subjektive Richtigkeit der Aussage

Ist der Zeuge wiedergabebereit?

  • Weicht der Zeuge auf nachhakende Fragen aus, lenkt er vom Sachverhalt ab, zieht er sich auf Wertungen zurück?
  • Reagiert der Zeuge auf Nachfragen der Prozessbeteiligten abwehrend oder aggressiv?
  • Ergreift der Zeuge Partei? Ist er über das Verhalten einer Partei oder eines Dritten entrüstet?
  • Schildert der Zeuge den Sachverhalt anschaulich mit Einzelheiten oder handelt es sich um eine allgemeine gezwungene verwaschene Darstellung mit Mängeln an innerer Übereinstimmung, um eine einstudierte schöngefärbte Nacherzählung?

Ist der Zeuge bereit, die Wahrheit zu sagen (seine Wahrnehmung ordnungsgemäß wiederzugeben)?

  • Ist der Zeuge unsicher, verwickelt er sich in Widersprüche, ist seine Schilderung zweideutig oder verworren? Übertreibt der Zeuge?
  • Ist der Zeuge voreingenommen?
  • Will der Zeuge – parteiisch – den Richter unbedingt von seiner Version überzeugen und beteuert er deshalb wiederholt die Richtigkeit seiner Aussage oder ist er gegenüber dem Richter unterwürfig?
  • Besteht eine Zuneigung oder Abneigung, Freundschaft oder Feindschaft, ein Angehörigen- oder Abhängigkeitsverhältnis oder eine Geschäftsbeziehung des Zeugen zu einer Partei? Ist eine Gruppensolidarität anzunehmen?
  • Hat der Zeuge ein wirtschaftliches Interesse am Ausgang des Rechtsstreits?

Übereinstimmung mit anderen Prozessinhalten/Beweiswert

Weicht der Zeuge von einer früheren Aussage ab?
Stimmt die Zeugenaussage mit dem Sachvortrag der beweispflichtigen Partei überein?
Stehen andere Beweismittel entgegen?
Ist die Aussage wahrscheinlich?
 

Rz. 77

Ist der Zeuge ausführlich befragt worden und liegt eine dementsprechend detaillierte Protokollierung seiner Zeugenaussage vor, ist zu empfehlen, einen Antrag zu stellen, schriftsätzlich zum Ergebnis der Beweisaufnahme Stellung zu nehmen, vor allem wenn es sich um die für den Mandanten ungünstige Aussage des fremden Zeugen handelt. In diesem Schriftsatz können dann sorgfältig die Kriterien herausgearbeitet werden, welche die Glaubhaftigkeit der Aussage des gegnerischen Zeugen in Frage stellen. Außerdem ist zweifelhaft, ob das Gericht bei seiner Entscheidung die anwaltlichen Ausführungen zum Ergebnis der Beweiserhebung überhaupt noch präsent hat, wenn dieser zum Ergebnis der Beweisaufnahme sofort in der Verhandlung Stellung genommen hat und seine Einwendungen nicht – oder nicht im Einzelnen – protokolliert worden sind.

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