Rz. 19

Nur in sehr seltenen Fällen ist eine Abfindungsvereinbarung nichtig oder kann durch Anfechtung beseitigt werden.[46] Auch ein Anspruch auf Anpassung eines umfassenden Vergleiches kommt angesichts der insoweit sehr zurückhaltenden Rechtsprechung nur ausnahmsweise in Betracht,[47] wenn das Festhalten an der getroffenen Vereinbarung für den Geschädigten nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) nicht mehr zumutbar ist.[48] Dafür ist Voraussetzung, dass entweder die Geschäftsgrundlage des Vergleiches wegfällt/sich ändert oder eine erhebliche Äquivalenzstörung zwischen den vereinbarten Leistungen der Parteien eintritt.[49] Eine Anpassung des Vergleiches kommt dann nicht in Betracht, wenn es der Verletzte, wie regelmäßig bei der Kapitalisierung seiner Ansprüche, in Kauf nimmt, dass sich die maßgebenden Berechnungsfaktoren aufgrund der zu treffenden Prognosen und Schätzungen unvorhersehbar negativ entwickeln.[50] Der Geschädigte trägt das Risiko des Übersehens oder des nachträglichen Bekanntwerdens von Schadenspositionen.[51]

Der Abfindungsvergleich entfaltet Bindungswirkung nur inter partes. Führt ein grober ärztlicher Kunstfehler zu einer massiven Verschlechterung der unfallbedingten Gesundheitsstörung des Geschädigten, so steht ein von ihm mit seinem Haftpflichtversicherer geschlossener Abfindungsvergleich einer Schmerzensgeldklage gegen den Krankenhausträger nicht entgegen.[52]

[46] Vgl. Schah Sedi/Schah Sedi, Das verkehrsrechtliche Mandat, Bd. 5, § 7 Rn 9–11.
[47] Vgl. Schah Sedi/Schah Sedi, Das verkehrsrechtliche Mandat, Bd. 5, § 7 Rn 3.
[48] Reisert, in: Balke/Reisert/Quarch, § 8.2 Rn 9–13.
[49] Zuletzt KG, Beschl. v. 10.11.2014 – 22 U 72/14 = NZV 2016, 189; ebenso z.B. OLG Jena, Beschl. v. 6.7.2011 – 7 U 277/11 = r+s 2012, 147.
[50] St. Rspr., vgl. BGH, Urt. v. 19.6.1999 – VI ZR 255/89 = VersR 1990, 984; BGH, Urt. v. 12.2.2008 – VI ZR 154/07 = NZV 2008, 448; OLG Koblenz, Urt. v. 29.9.2003 – 12 U 854/02 = NZV 2004, 197.
[51] Zuletzt KG, Beschl. v. 10.11.2014 – 22 U 72/14 = NZV 2016, 189.

1. Wegfall der Geschäftsgrundlage

 

Rz. 20

Die eine Fallgruppe für die Anpassung des Abfindungsvergleichs bildet der Wegfall der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB). Die Darlegungs- und Beweislast trifft insoweit den Geschädigten.[53] Zu einer Anpassung berechtigt nicht jede nachträgliche Änderung der Tatsachen, die dem Vergleich als Kalkulationsgrundlage zugrunde gelegt worden sind. Wer eine Kapitalabfindung wählt, nimmt vielmehr das Risiko in Kauf, dass maßgebliche Berechnungsfaktoren auf Schätzungen und unsicheren Prognosen beruhten. Der Schädiger darf sich darauf verlassen, dass mit Begleichung der Kapitalabfindung, die gerade auch zukünftige Entwicklungen einschließen solle, die Sache für ihn ein für allemal erledigt ist. Soweit der Geschädigte das Risiko in Kauf nimmt, dass die für die Berechnung des Ausgleichsbetrages maßgebenden Faktoren auf Schätzungen und unsicheren Prognosen beruhen und sie sich demgemäß unvorhersehbar positiv oder negativ verändern können, ist ihm die Berufung auf eine Veränderung der Vergleichsgrundlage verwehrt.[54]

 

Rz. 21

Ob und in welchem Umfang der Geschädigte das Risiko künftiger Veränderungen übernommen hat, ist durch Auslegung der getroffenen Vereinbarung zu ermitteln. Gehen die Vertragspartner einer Abfindungsvereinbarung davon aus, eine bestimmte Drittleistung – z.B. die dem Kläger aufgrund der unfallbedingten Frühpensionierung zustehende Pension – sei Bestandteil der dem Geschädigten unfallbedingt zufließenden Ausgleichsmittel, und muss der Schädiger bzw. sein Haftpflichtversicherer diese Leistungen sogar im Regresswege erstatten, so ist ein Ausschluss der Risikoübernahme durch den Geschädigten unter Umständen zwar möglich, jedoch bei Abgabe einer umfassenden und vorbehaltlosen Abfindungserklärung ein Ausnahmefall, der konkreter Darlegung durch den Geschädigten bedarf.[55] Ein von Anfang an bestehender Irrtum beider Parteien über einen wesentlichen Berechnungsfaktor erleichtert jedoch die Anpassung eines Abfindungsvergleichs.[56]

 

Rz. 22

Maßgeblich ist ggf. auch, ob es sich um Verletzungen/Spätschäden handelt, die von den Parteien bei Abschluss des Abfindungsvergleiches weder erwartet worden sind noch erkannt werden konnten.[57] Entscheidend ist insoweit die Sichtweise eines objektiven[58] Dritten als einem verständigen und redlichen Vertragspartner.[59] Dabei ist auch zu berücksichtigen, ob die Parteien den möglichen Eintritt derartiger Spätfolgen zum Vertragszeitpunkt unter Heranziehung von Fachleuten hätten erkennen können.[60] War dies der Fall, kommt eine Vertragsanpassung wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage kaum noch in Betracht.[61]

[53] Schah Sedi/Schah Sedi, Das verkehrsrechtliche Mandat, Bd. 5, § 7 Rn 12.
[54] BGH, Urt. v. 19.6.1999 – VI ZR 255/89 = VersR 1990, 984; BGH VersR 1983, 1034; OLG Jena, Beschl. v. 6.7.2011 – 7 U 277/11 = r+s 2012, 147; Nugel, zfs 2006, 190.

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