Rz. 97

§ 26 AtomG bildet als Auffangtatbestand eine Anspruchsgrundlage für sonstige Fälle, das heißt für alle anderen Gefahrenlagen, die nicht vom PÜ in Verbindung mit § 25 Abs. 1–4 AtomG erfasst sind (§ 26 Abs. 1 S. 1 und Abs. 1a AtomG). Der Ersatzanspruch nach dieser Norm setzt voraus, dass durch die Wirkung eines Kernspaltungs- oder Kernvereinigungsvorganges oder der Strahlen eines radioaktiven Stoffes oder durch die von einer Anlage zur Erzeugung ionisierender Strahlen ausgehende Wirkung ionisierender Strahlen (§ 26 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 AtomG) ein Mensch getötet, der Körper oder die Gesundheit eines anderen verletzt oder eine Sache beschädigt wird.

 

Rz. 98

Die Vorschrift erfasst in erster Linie Schäden, die entstehen durch

Radioisotope in Betrieben oder Einrichtungen außerhalb von Kernanlagen oder während des Transports,
natürliches oder abgereichertes Uran während eines Transports,
Anlagen, die natürliches oder abgereichertes Uran herstellen, verarbeiten oder zu anderen als kerntechnischen Zwecken verwenden,
Ereignisse unterhalb der Grenze einer sich selbst erhaltenden Kettenreaktion,
metallurgischen Prüfungs- oder Untersuchungsanlagen,
Kernverschmelzungsanlagen,
Anlagen zur Erzeugung ionisierender Strahlen (vgl. § 11 Abs. 1 StrahlenschutzVO; etwa Alpha-, Beta-, Gamma- und Röntgenstrahlen) und
kleine Mengen von Kernmaterialien im Sinne der Anlage 2 zum AtomG. Bei diesen Stoffen, Vorgängen und Anlagen besteht in der Regel nicht die Gefahr einer nuklearen Kettenreaktion; ihr geringeres Risiko wird deshalb als den herkömmlichen technischen Risiken näherstehend eingeschätzt.[250]
 

Rz. 99

Die Haftung für Schäden in diesen sonstigen Fällen trifft den Besitzer des von der Kernspaltung oder Kernverschmelzung betroffenen Stoffes, des radioaktiven Stoffes oder der Anlage zur Erzeugung ionisierender Strahlen (§ 26 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 AtomG). Besitzer ist derjenige, der über den schädigenden Stoff oder die Anlage zur Erzeugung ionisierender Strahlen im Zeitpunkt der Wirkung der Strahlung die tatsächliche Gewalt im Sinne des § 854 BGB ausübt. Voraussetzung des Besitzes ist eine gewisse Dauer und Festigkeit sowie Besitzbewusstsein und Besitzwille. Der Besitzer muss positive Kenntnis von der Radioaktivität des Stoffes haben, § 26 AtomG.[251] Mitbesitzer haften als Gesamtschuldner.[252]

 

Rz. 100

Bei – auch unfreiwilligem – Besitzverlust haftet derjenige, der den Stoff verloren hat, ohne ihn auf eine andere, nach den atomrechtlichen Vorschriften zum Besitz berechtigte Person zu übertragen (§ 26 Abs. 3 AtomG). Im Übrigen gelten die für den Besitzer beschriebenen Voraussetzungen. Die Haftung endet, sobald der Stoff in den Besitz eines ordnungsgemäß Berechtigten gelangt.[253] Bei der Beförderung radioaktiver Stoffe haftet gemäß § 26 Abs. 6 AtomG für den Zeitraum der Beförderung nicht der Beförderer, sondern der Absender, denn für die Sicherheit der Beförderung ist die Verpackung von ausschlaggebender Bedeutung, die in der Regel dem Absender obliegt.[254] Diese Haftung dauert an, bis der Empfänger die Stoffe übernommen hat und damit neuer Besitzer geworden ist (§ 26 Abs. 6 S. 2 AtomG).

 

Rz. 101

Die Haftung nach § 26 AtomG ist keine absolute, sondern eine eingeschränkte (modifizierte) Gefährdungshaftung. Der Besitzer haftet für vermutetes Verschulden, wovon er sich nach § 26 Abs. 1 S. 2 AtomG entlasten kann. Hiernach trifft den Besitzer nur dann keine Ersatzpflicht, wenn der Schaden durch ein Ereignis verursacht wird, das der Besitzer und die für ihn im Zusammenhang mit dem Besitz tätigen Personen auch bei Anwendung jeder nach den Umständen gebotenen Sorgfalt nicht vermeiden konnten und das weder auf einem Fehler in der Beschaffenheit der Schutzeinrichtungen noch auf einem Versagen ihrer Verrichtungen beruht (das entspricht einem unabwendbaren Ereignis).[255] Für die Beurteilung der Unabwendbarkeit gelten mithin objektive, je nach der Größe und der besonderen Eigenart der Gefahr verschärfte Sorgfaltsmaßstäbe, die über die Anforderungen an die im Verkehr erforderliche Sorgfalt des § 276 BGB hinausreichen.[256] Die Sorgfaltsanforderungen nach § 26 Abs. 1 S. 2 AtomG erfordern folglich mehr als die Beachtung der einschlägigen Rechtsvorschriften und der sonstigen anerkannten Regeln der Technik oder Richtlinien.[257] Der – dem Besitzer obliegende – Entlastungsbeweis umfasst ferner den Beleg, dass das Schaden stiftende Ereignis nicht auf Fehlern in der Beschaffenheit von Schutzeinrichtungen oder auf einem Versagen von deren Verrichtungen beruht (§ 26 Abs. 1 S. 2 letzter Hs. AtomG).

 

Rz. 102

Eine verschärfte Haftung trifft den Besitzer von Stoffen oder Anlagen im Sinne des § 26 Abs. 1 S. 1 AtomG bei der Anwendung radioaktiver Stoffe und ionisierender Strahlen an Menschen in der medizinischen Forschung. Wegen des damit verbundenen erhöhten Risikos besteht nach § 26 Abs. 5 S. 1 AtomG nicht nur keine Entlastungsmöglichkeit bei einem unabwendbarem Ereignis (§ 26 Abs. 1 S. 2 AtomG) und keine Haftungsbefreiung bei Inkaufnahme der Gefah...

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