Rz. 38

Ausnahmsweise ist jedoch eine Nachlasszugehörigkeit und damit das Eingreifen des ordentlichen Pflichtteilsanspruchs zu bejahen. Dies ist zum einen der Fall, wenn keine wirksame Benennung eines Drittbegünstigten (Bezugsberechtigten) vorliegt, da dann die Forderung mangels eines besonderen Berechtigten den Erben als Nachlassbestandteil zusteht.[115] Zu beachten sind hierbei aber bei Lebensversicherungen die §§ 159 Abs. 1, 160 Abs. 2 VVG: Wenn ausdrücklich die Zahlung an die Erben vereinbart ist, so erwerben diese wohl im Zweifel den Anspruch auf die Versicherungssumme nicht aufgrund Erbrechts, sondern als Bezugsberechtigte infolge Versicherungsvertrages und damit nach § 331 BGB außerhalb des Nachlasses.[116] Zudem kann sich eine ganze oder wenigstens teilweise Nachlasszugehörigkeit auch bei einer wirksamen Bestimmung des Drittberechtigten bei einer kreditsichernden Lebensversicherung ergeben – ein in der Praxis häufig auftretendes Problem. Das Trennungsdenken mit der Unterscheidung zwischen Nachlasserwerb einerseits und Erwerb aufgrund Vertrages zugunsten Dritter andererseits kann hier für den Pflichtteilsberechtigten zu nicht tragbaren Ergebnissen führen. Dem Pflichtteilsberechtigten könnten mit formaler Argumentation Nachlassverbindlichkeiten als Abzugsposten bei der Berechnung des Pflichtteilsanspruchs entgegengehalten werden, die rein wirtschaftlich gesehen mit dem Erbfall erloschen sind, wie Klingelhöffer[117] thematisiert hat.

 

Beispiel

M hat 100.000 EUR Verbindlichkeiten. Zu deren Sicherung hat er an die Bank B-AG seine Rechte aus der Lebensversicherung mit einer Versicherungssumme von 90.000 EUR abgetreten, für welche eigentlich seine Ehefrau F Bezugsberechtigte ist. In der Abtretungserklärung wird jedoch die Bezugsberechtigung "für die Dauer der Abtretung" widerrufen, soweit sie den Rechten der B-AG entgegenstehen. Kurz danach verstirbt M. Er hinterlässt nur eine Eigentumswohnung im Wert von 120.000 EUR, die jedoch noch mit den genannten Verbindlichkeiten belastet ist. In einem Testament hat er seine Ehefrau F zur Alleinerbin eingesetzt. Sein einziges Kind K (aus der ersten Ehe) macht gegen die Erbin seinen Pflichtteilsanspruch geltend.[118]

Erbin F berechnet den Pflichtteil wie folgt: 120.000 EUR (Eigentumswohnung) – 100.000 EUR (Verbindlichkeiten) = 20.000 EUR : 4 = 5.000 EUR. Die Verbindlichkeiten seien echte Erblasserschulden. Die Lebensversicherung könne hierauf nicht angerechnet werden, da sie außerhalb des Nachlasses erworben werde. Auch ein Pflichtteilsergänzungsanspruch scheide diesbezüglich aus, da es bei ihr an einer direkten Bereicherung fehle: Die gesamte Summe sei sofort und direkt an die B-AG ausgezahlt worden.

Kind K berechnet den Pflichtteil wie folgt: 120.000 EUR (Eigentumswohnung) – 10.000 EUR (Restschuld nach Abzug der Lebensversicherung) = 110.000 EUR : 4 = 27.500 EUR.

Wessen Berechnung ist richtig? Der BGH bemerkte dazu, dass sich bei sachgerechter Auslegung und Normanwendung für den Pflichtteilsberechtigten die von Klingelhöffer erörterten Probleme nicht stellen würden: Die Sicherungsabtretung im vorgenommenen Umfang bildet gleichsam die Brücke vom Erwerb aufgrund des Vertrages zugunsten Dritter hin zum Nachlass und damit zum ordentlichen Pflichtteilsanspruch. Denn tritt ein Versicherungsnehmer seine Ansprüche aus einer Lebensversicherung als Sicherheit an einen Kreditgeber ab und widerruft er zu diesem Zweck ein (widerruflich eingeräumtes) Bezugsrecht, gehört der Anspruch auf die Versicherungssumme beim Tod des Versicherungsnehmers in Höhe der gesicherten Schuld zu seinem Nachlass; er ist insoweit ebenso wie die gesicherte Schuld für die Berechnung des Pflichtteils gemäß § 2311 BGB zu berücksichtigen.[119] Durch die Sicherungsabtretung werde aber nicht die Bezugsberechtigung im Ganzen aufgehoben. Nur soweit der Sicherungszweck es gebietet, erfolge ein "Rangrücktritt" des Drittbegünstigten. Soweit der Kreditgeber die Sicherheit nicht benötige, bleibe die Bezugsberechtigung bestehen und der Dritte erwerbe aufgrund derselben außerhalb des Nachlasses.

[115] Ob die Bezugsberechtigung widerruflich ist oder nicht, ist jedoch für die Nachlasszugehörigkeit der Versicherungssumme ohne Bedeutung, so zutreffend Kerscher/Riedel/Lenz, § 16 Rn 5.
[116] Allg.M., etwa MüKo-BGB/Lange, § 2325 Rn 37; MüKo-VVG/Heiss, § 159 Rn 67; Kerscher/Riedel/Lenz, § 15 Rn 4; siehe aber Staudinger/Olshausen, § 2325 Rn 38.
[117] Klingelhöffer, ZEV 1995, 180, 181.
[118] Beispiel nach Klingelhöffer, ZEV 1995, 180.
[119] BGH DNotZ 1997, 420 = NJW 1996, 2230 = ZEV 1996, 263 m. Anm. Klumpp; ebenso OLG Düsseldorf FamRZ 1998, 121 = MittBayNot 1998, 354.

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