Rz. 74

Die Annahme einer öffentlichen Urkunde aus einem anderen Mitgliedstaat bedeutet, dass ihr dort ohne Weiteres die gleiche formelle Beweiskraft wie in ihrem Ursprungsmitgliedstaat oder die damit am ehesten vergleichbare Wirkung zukommt. Es handelt sich um eine verfahrensrechtliche Kollisionsregel, die für Fragen der formellen Beweiskraft das Recht des Ursprungsstaates zur Anwendung beruft.[69] Dafür bedarf es keines gesonderten Anerkennungsverfahrens, im Gegenteil ist den Gerichten des Verwendungsstaates die Nachprüfung nach Art. 59 Abs. 2 EuErbVO sogar untersagt. Die Annahme bindet nicht nur die Gerichte bei der Entscheidung in Erbsachen, sondern gilt allgemein für alle Gerichte und Behörden des anderen Mitgliedstaates in allen Verfahren, also auch etwa in Registersachen.[70]

 

Rz. 75

Das Recht des Ursprungsstaates entscheidet mithin über die Reichweite der Beweiswirkung einer öffentlichen Urkunde, die Vermutung für ihre Vollständigkeit und Richtigkeit, die Zulässigkeit des Gegenbeweises und die dabei geltende Darlegungs- und Beweislast. Wird eine deutsche Urkunde in einem anderen Mitgliedstaat vorgelegt, so müssten also die dortigen Gerichte und Behörden deren Beweiswert nach den §§ 415 ff. ZPO behandeln. Umgekehrt müssen aber auch die deutschen Gerichte die Beweiswirkungen des ausländischen Rechts akzeptieren, und dies selbst dann, wenn diese über die Wirkungen vergleichbarer deutscher Urkunden hinausgehen.[71] Manchmal wird sich die Beweiswirkung nicht exakt abbilden lassen, etwa wenn der Ursprungsstaat Beweismittel vorsieht, die im Verwendungsstaat nicht bekannt sind. Dann braucht nicht das fremde Beweismittel übernommen zu werden, sondern das Gericht wendet die eigene beweisrechtliche Lösung an, die dem an sich vorgesehenen Mittel in seiner Wirkung am nächsten kommt.

 

Rz. 76

Die Beweiswirkungen einer öffentlichen Urkunde können von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat sehr unterschiedlich sein. Grundsätzlich muss das Gericht des Verwendungsstaates das anzuwendende Beweisrecht des Ursprungsstaates selbst ermitteln (in Deutschland nach § 293 ZPO). Eine gewisse Hilfestellung kann dabei das Formblatt nach Art. 59 Abs. 1 UAbs. 2 EuErbVO geben. Jeder, der eine ausländische Urkunde in einem anderen Mitgliedstaat verwenden möchte, kann die ausstellende Behörde darum ersuchen, dieses Formblatt auszufüllen und darin die Beweiswirkung der Urkunde zu beschreiben. Die Behörde ist allerdings nicht dazu verpflichtet, diesem Antrag nachzukommen.[72] Tut sie dies, so kann das Formblatt als Rechtsauskunft den Gerichten und Behörden des Verwendungsstaates zur Verfügung gestellt werden. Diese sind zwar nicht an die darin getroffenen rechtlichen Ausführungen gebunden, könnten also den Beweiswert der Urkunde auch abweichend beurteilen.[73] Da aber die Ausstellungsbehörde ihr eigenes Recht regelmäßig besser beurteilen kann, kommt eine solche Abweichung wohl nur ausnahmsweise in Betracht.

 

Rz. 77

Nicht an der formellen Beweiswirkung teil nimmt der materielle Urkundeninhalt. Ein notarielles Testament etwa beweist beispielsweise nur, dass der Erblasser bei einem Notar die in der Urkunde enthaltene Erklärung abgegeben hat, nicht aber, dass die darin enthaltene Verfügung von Todes wegen materiellrechtlich wirksam ist. Für Einwendungen gegen das beurkundete Rechtsgeschäft oder Rechtsverhältnis sind vielmehr gemäß Art. 59 Abs. 3 EuErbVO weiterhin die Gerichte nach den allgemeinen Zuständigkeitsregeln der Art. 4 ff. EuErbVO zuständig; sie entscheiden nach dem Erbstatut (Art. 20 ff. EuErbVO), hinsichtlich der formellen Wirksamkeit des Testaments nach dem Formstatut (Art. 27 EuErbVO; Art. 1 HTestformÜ). Zu den materiellrechtlichen, nicht von Art. 59 Abs. 1 EuErbVO umfassten Fragen zählt auch, ob mit befreiender Wirkung an den Inhaber einer Urkunde geleistet werden kann.[74]

[69] Bauer, in: Dutta/Weber, Internationales Erbrecht, 2016, Art. 59 EuErbVO Rn 2; MüKo-BGB/Dutta, 7. Aufl. 2018, Art. 59 EuErbVO Rn 1.
[70] MüKo-BGB/Dutta, 7. Aufl. 2018, Art. 59 EuErbVO Rn 12.
[71] MüKo-BGB/Dutta, 7. Aufl. 2018, Art. 59 EuErbVO Rn 11; ders., FamRZ 2013, 4, 14; Bauer, in: Dutta/Weber, Internationales Erbrecht, 2016, Art. 59 EuErbVO Rn 38 f.; NK-BGB/Makowsky, Bd. 6, 2. Aufl. 2015, Art. 59 EuErbVO Rn 12. Nach der Gegenansicht stellt die vergleichbare Wirkung deutscher Urkunden stets die Obergrenze für eine Wirkungserstreckung dar, vgl. Geimer, in: Dutta/Herrler, Die Europäische Erbrechtsverordnung, S. 152; Janzen, DNotZ 2012, 484, 491; Simon/Buschbaum, NJW 2012, 2393, 2397.
[72] Bauer, in: Dutta/Weber, Internationales Erbrecht, 2016, Art. 59 EuErbVO Rn 45.
[73] Bauer, in: Dutta/Weber, Internationales Erbrecht, 2016, Art. 59 EuErbVO Rn 43.
[74] Bauer, in: Dutta/Weber, Internationales Erbrecht, 2016, Art. 59 EuErbVO Rn 32.

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