Rz. 18

BGH, Urt. v. 14.6.2005 – VI ZR 181/04, zfs 2005, 486 = VersR 2005, 1154

Zitat

BGB §§ 823, 828 Abs. 2

Das Haftungsprivileg des § 828 Abs. 2 S. 1 BGB in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften vom 19.7.2002 (BGBl I 2674) führt nicht zu einer Änderung der Darlegungs- und Beweislast für Schadensfälle, die sich vor dem 1.8.2002 ereignet haben.

a) Der Fall

 

Rz. 19

Der Kläger, ein überörtlicher Sozialhilfeträger, nahm die Beklagte aus gemäß § 116 SGB X übergegangenem Recht auf Erstattung von Aufwendungen und Feststellung der zukünftigen Haftung aus Anlass eines Verkehrsunfalls in Anspruch.

 

Rz. 20

Am 5.6.1993 lief der damals 8-jährige Jens, der zuvor mit drei anderen Kindern in einer breiten Parklücke gestanden hatte, gegen einen mit einer Geschwindigkeit zwischen 25 und 40 km/h vorbeifahrenden Pkw, der bei der Beklagten haftpflichtversichert war. Jens wurde schwer verletzt und ist seitdem zu 100 % behindert. Auf seine Klage wurde durch Urteil des Landgerichts K. vom 22.11.1995 rechtskräftig festgestellt, dass die Beklagte als Gesamtschuldnerin mit der Führerin des Fahrzeugs verpflichtet ist, dem Geschädigten ⅔ aller ihm zukünftig erwachsenden Schäden aus dem Unfall zu ersetzen, soweit nicht der Anspruch auf Sozialversicherungsträger übergegangen ist. Der Kläger begehrt vollumfänglichen Ersatz der von ihm übernommenen Kosten für die Heil- und Rehabilitationsbehandlung sowie die fortdauernde Unterbringung des Geschädigten. Das Landgericht hat die Beklagte zur Zahlung von ⅔ der geltend gemachten Aufwendungen verurteilt und dem Feststellungsbegehren mit einer entsprechenden Quote entsprochen. Die Berufung des Klägers hatte keinen Erfolg. Mit seiner vom Oberlandesgericht zugelassenen Revision verfolgte der Kläger sein Begehren in vollem Umfang weiter.

b) Die rechtliche Beurteilung

 

Rz. 21

Das angefochtene Urteil hielt der revisionsrechtlichen Nachprüfung stand.

Ohne Erfolg wandte sich die Revision dagegen, dass das Berufungsgericht ein Mitverschulden des Verletzten bejaht und dieses mit einem Drittel bemessen hatte.

 

Rz. 22

Da das schädigende Ereignis vor dem 1.8.2002 eingetreten war, bestimmte sich die Mitverantwortung des geschädigten Kindes (§ 254 BGB) gemäß Art. 229 § 8 Abs. 1 EGBGB nach der Vorschrift des § 828 BGB in der vor Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur Änderung schadensrechtlicher Vorschriften vom 19.7.2002 (BGBl I S. 2674) geltenden Fassung. Nach § 828 Abs. 2 BGB a.F. ist, wer das siebente, aber nicht das 18. Lebensjahr vollendet hat, für einen Schaden nicht verantwortlich, wenn er zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht hat. Die Einsichtsfähigkeit wird danach vom Gesetz vermutet. Ihr Fehlen ist eine Ausnahme, deren Vorliegen der Minderjährige im konkreten Fall darlegen und beweisen muss.

 

Rz. 23

An dieser Rechtslage hat sich für die Beurteilung der vor Inkrafttreten der gesetzlichen Neuregelung erfolgten Schadensfälle nichts geändert. Das Zweite Gesetz zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften sieht keine rückwirkende Geltung für "Altfälle" vor. Das wurde von der Revision auch nicht verkannt. Sie meinte jedoch, die Neufassung der Vorschrift des § 828 Abs. 2 BGB habe nur klarstellende Funktion. Der Gesetzgeber habe damit lediglich nachvollzogen, dass nach neuen wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie einer Haftung von Kindern bis zum zehnten Lebensjahr kindliche Eigenheiten entgegenstünden. Deswegen sei bei Verkehrsunfällen im Straßenverkehr von einer mangelnden Einsichtsfähigkeit auszugehen. Im Streitfall hätte mithin die Beklagte Anhaltspunkte für das Vorhandensein der Einsichtsfähigkeit vortragen und unter Beweis stellen müssen. Dem konnte nicht gefolgt werden.

 

Rz. 24

Richtig ist, dass der Gesetzgeber mit der Einführung der Ausnahmevorschrift des § 828 Abs. 2 BGB dem Umstand Rechnung getragen hat, dass Kinder bis zur Vollendung ihres zehnten Lebensjahres regelmäßig überfordert sind, die besonderen Gefahren des motorisierten Straßenverkehrs zu erkennen, insbesondere die Entfernungen und Geschwindigkeiten von anderen Verkehrsteilnehmern richtig einzuschätzen und sich den Gefahren entsprechend zu verhalten. Dabei hat er sich von der Erkenntnis leiten lassen, dass Kinder in diesem Alter wegen ihres Lauf- und Erprobungsdrangs, ihrer Impulsivität, Affektreaktionen, mangelnden Konzentrationsfähigkeit und ihrem gruppendynamischen Verhalten oft zu einem verkehrsgerechten Verhalten nicht in der Lage sind (vgl. BT-Drucks 14/7752, S. 16 und 26). Der Gesetzgeber hat damit Gesichtspunkte aufgegriffen, mit denen in den vorangegangenen rechts- und verkehrspolitischen Diskussionen die Forderung begründet wurde, den Beginn der Deliktsfähigkeit generell, zumindest aber bei sämtlichen Verkehrsunfällen auf das Alter von zehn Jahren heraufzusetzen. Der gesetzlichen Neuregelung kann jedoch nicht entnommen werden, dass Kindern bis zur Vollendung des zehnten Lebensjahres bei Unfällen im motorisierten Straßenverkehr regelmäßig die ...

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