Rz. 10

Zunächst empfiehlt es sich, den Gesetzeswortlaut des § 843 Abs. 3 BGB zu lesen. Viele Anwälte wissen nicht, ab wann der Geschädigte überhaupt einen einklagbaren Anspruch auf Kapitalabfindung hat, d.h. wann der Geschädigte unabhängige Gerichte entscheiden lassen darf, ob er eine Kapitalabfindung bekommt. Die Vorschrift des § 843 Abs. 3 BGB bildet insoweit den normativen Anknüpfungspunkt und stellt die gesetzliche Anspruchsgrundlage für den Anspruch auf Kapitalisierung dar. Sofern zwischen dem Versicherer und dem Geschädigten z.B. wegen des Zinssatzes keine außergerichtliche Einigung hergestellt werden kann, weil sich aus 2 % oder 3 % Zinsen bei einer langen Laufzeit zuweilen höhere sechsstellige Differenzbeträge ergeben können, dann steht dem Geschädigten die Möglichkeit zu, diese Frage gerichtlich klären zu lassen – und zwar durch Geltendmachung seiner Ansprüche auf der Grundlage des § 843 Abs. 3 BGB.

 

Rz. 11

§ 843 Abs. 3 lautet: "Statt der Rente kann der Verletzte eine Abfindung in Kapital verlangen, wenn ein wichtiger Grund vorliegt." Dies bedeutet, dass der Geschädigte anstelle des Anspruchs auf Rente ein einklagbarer Anspruch nach § 843 Abs. 3 BGB auf Kapitalabfindung zusteht, sofern ein "wichtiger Grund" vorliegt. Im Gesetz findet sich keine Legaldefinition des "wichtigen Grundes"; Anhaltspunkte für die Anwendung und Auslegung dieses unbestimmten Rechtsbegriffes ergeben sich somit zunächst einmal aus der Rechtsprechung, der Literatur und Kommentierung sowie der Rechtspraxis. Die gelebte Rechtspraxis sieht so aus, dass die Kapitalisierung in der außergerichtlichen Schadensregulierung die Regel darstellt (schätzungsweise in ca. 80–90 % der Fälle), in der Rechtsprechung indes nur eine überschaubare Anzahl von veröffentlichten Entscheidungen zu § 843 Abs. 3 BGB existieren. Bezogen auf die Rechtsprechung und Literatur ist festzustellen, dass diese den unbestimmten Rechtsbegriff des "wichtigen Grundes" weitgehend anhand einer Fallkasuistik entwickeln und tradierte Argumente und Behandlungsmuster adaptiert werden. Nach Auffassung der Autoren ist es z.B. verfehlt anzunehmen, dass die Vorschrift des § 843 Abs. 3 BGB ein Regel-Ausnahme-Verhältnis (Rente = die Regel, Kapitalisierung = die absolute Ausnahme) statuiert. Sofern man sich die Mühe macht, die Vorschrift und die Rechtspraxis einer sorgfältigen Überprüfung nach rechtlich-dogmatischen Gesichtspunkten zu unterziehen, so gelangt man an sich zwangsläufig zu dem Ergebnis, dass die Ansicht, dass die Kapitalisierung die absolute Ausnahme darstellt, weil der "wichtige Grund" eigentlich nie gegeben ist (so die Versicherer) der tatsächlichen wie rechtlichen Grundlage entbehrt und somit unzutreffend ist. Bei einer um dogmatische Anbindung bemühten Auslegung des § 843 Abs. 3 BGB erkennt man, dass der Gesetzeszweck der Vorschrift in der Gewährleistung eines effektiven Opferschutzes liegt. Um diesen Leitgedanken der Vorschrift, den Sinn und Zweck, den telos der Norm zu verwirklichen, ist es – nach Ansicht der Autoren – somit geboten, das Tatbestandsmerkmal des "wichtigen Grundes" im Interesse respektive zugunsten des Geschädigten extensiv (weit) auszulegen.

Bei der Norm geht es letztlich nur um eines: dem Geschädigten ein erhöhtes Schutzniveau zur Verfügung zu stellen. Von daher ist die Begrifflichkeit des "wichtigen Grundes" – unter Berücksichtigung des intendierten Gesetzeszwecks – aus der Perspektive bzw. dem Schutzniveau der verletzten Person zu entwickeln, auszulegen und anzuwenden.

 

Praxistipp

Folgendes sollten Sie sich als Geschädigtenanwalt in rechtlich-dogmatischer Hinsicht mit Blick auf die Vorschrift des § 843 Abs. 3 BGB vor Augen führen: Die Vorschrift des § 843 Abs. 3 BGB dient dem Schutz des Geschädigten. Ihm soll im Interesse eines effektiven Opferschutzes ein höheres Schutzniveau gewährt werden. Aus diesem Grund ist das Tatbestandsmerkmal des "wichtigen Grundes" extensiv (weit) auszulegen. Es lohnt sich daher, nach Gründen zu schauen, die zugunsten des Geschädigten unter den "wichtigen Grund" zu subsummieren sein könnten. Das Tatbestandsmerkmal dürfte bei substantiiertem Vortrag und rechtlich korrekter Anwendung und Auslegung des § 843 Abs. 3 BGB sehr häufig zu bejahen sein.

 

Rz. 12

Seitens der Versicherer wird in außergerichtlichen Regulierungsgesprächen vertreten, das Problem des "wichtigen Grundes" stelle sich gar nicht, da die Versicherer sowieso immer ein Interesse an einer Kapitalabfindung haben und insoweit fast nie eine jahrelange Zahlung der einzelnen Schadenspositionen auf Rentenbasis erfolge. Diese Aussage ist als solche in tatsächlicher Hinsicht richtig, aber leider auch nur die halbe Wahrheit. Es ist zwar richtig, dass Versicherer die Sache durch eine Kapitalabfindung abschließen wollen, da dann keinerlei weitere Verwaltungskosten und Personalkosten entstehen, wenn sie die Akte schließen und ins Archiv legen können. Der Versicherer wird jedoch im Rahmen der Verhandlungen stets versuchen, die "Spielregeln" für eine Kapitalabfindung zu dikti...

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