Rz. 21

Verschiedene Geschädigtenvertreter haben in den letzten Jahrzehnten die Auffassung vertreten, dass der Gesetzgeber zusätzlich aktiv werden müsse und § 843 Abs. 3 BGB dahingehend ändern solle, dass in das Gesetz ausdrücklich ein Wahlrecht hineingeschrieben wird und die Gleichwertigkeit der Rentenzahlung und der Kapitalabfindung expressis verbis hervorgehoben wird. In der Schweiz findet sich z.B. genau diese gesetzliche Konstellation wieder.

Hinsichtlich einer Gesetzesänderung gab es auch schon mehrere Ansätze im Rahmen der Verkehrsgerichtstage, zuletzt auf dem 43. VGT in Goslar. Dort stand die Problematik auf der Tagesordnung. Die in der überwiegenden Anzahl anwesenden Versicherer verhinderten jedoch, derartige Bestrebungen und Änderungsempfehlungen im Hinblick auf eine Gesetzesänderung. Der Grund liegt auf der Hand: Versicherer generieren durch die nach aktueller Gesetzeslage bestehende Unsicherheit und die damit einhergehende tradierte Rechtspraxis, die behauptet, dass eine Kapitalisierung nur in absoluten Ausnahmefällen zur Anwendung gelänge, erhebliche Einsparungen. Des Weiteren kommt hinzu, dass im Rahmen außergerichtlicher Regulierungen gegenüber unbedarften und im Personenschadensrecht nicht spezialisierten Anwälten die aktuelle Gesetzeslage nach wie vor zu Zinssätzen in Höhe von 5 % als Rechnungsgrundlage führt. Die Versicherer verhindern immer wieder auf recht geschickte und effiziente Weise, dass die Voraussetzungen und die Praxis der Kapitalisierung nach der bestehenden Gesetzeslage einer dezidierten und ausführlichen gerichtlichen Überprüfung zugeführt werden. Nur die Fälle, in denen "schlecht" und "unbedarft" zur Kapitalisierung vorgetragen wird, werden systematisch gerichtlichen Entscheidungen zugeführt. Fälle, in denen indes sorgfältig und dezidiert zum "wichtigen Grund" vorgetragen wird, werden vorher – also bereits außergerichtlich oder aber vor einer "negativen" Entscheidung – "wegverglichen", um ungünstige Präjudiz-Entscheidungen zu dieser Rechtsproblematik zu vermeiden. In diesem Zusammenhang muss man die Wachsamkeit der Versicherer – bei objektiver, nicht wertender Betrachtung – wirklich als lobenswert bezeichnen. An dem Thema und Problemfeld der Kapitalisierung zeigt sich, wie effektiv ein systematisches, konzertiertes Vorgehen und "kluge" Lobbyarbeit sein können. Dieses Vorgehen ist sicherlich noch als legitim zu bezeichnen, wenngleich die von Seiten der Versicherer vertretenen Sichtweisen zur Kapitalisierung sicherlich vornehmlich von wirtschaftlichen und weniger von rechtlich-dogmatisch überzeugend hergeleiteten Erwägungen getragen sind. Die aktuelle rechtliche Positionierung der Versicherer darf daher sicherlich als rechtlich-dogmatisch unzutreffend und in moralischer Hinsicht als fragwürdig bezeichnet werden.

 

Rz. 22

Die eigentliche Intention der Versicherer und die Fragwürdigkeit ihrer Positionierung zur Kapitalisierung zeigt sich insbesondere bei dem Bemessungsfaktor des Kapitalisierungszinsfußes: Würde die Kapitalisierung unter Berücksichtigung der aktuellen Gegebenheiten im Rahmen einer sorgfältig und substantiiert vorgetragenen Klageschrift einer gerichtlichen Entscheidung zugeführt werden, so könnten durch entsprechende Beweisanträge sicherlich auch Einschätzungen von Finanzexperten eingeholt werden, die durch Gutachten in Bezug auf Anlagestrategien, prognostizierte Realrenten und Beobachtungszeiträume erhellen könnten, ob ein Zinssatz von 5 % in der jeweils aktuellen Marktlage Jahr für Jahr angemessen ist oder nicht. Man muss kein Prophet oder Phantast sein, um das Ergebnis eines solchen Fachgutachtens vorauszusagen: Die von Seiten der Versicherer postulierten 5 % würden aktuell keinen Bestand haben.

 

Rz. 23

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die einzige Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts in Zivilsachen 35 Jahre alt ist. Berücksichtigt man diesen langen Zeitraum, werden einem die Dimensionen dieser Problematik bewusst, denn jährlich ereignen sich 400.000 Verkehrsunfälle in Deutschland mit Personenschäden und statistisch gesehen werden 95 % der Personengroßschäden außergerichtlich verglichen. Hätte man jedes Jahr eine höchstrichterliche Rechtsprechung mit einem aktuellen Zinssatz, auf den man verweisen könnte, in dem die aktuelle Inflationsrate, die Rentendynamik, die Wirtschaftslage und andere Kriterien zutreffend Berücksichtigung fänden, so hätten die Geschädigten auf deutlich höhere Schadensersatzleistungen einen Rechtsanspruch. Aus diesem Grund haben die Verfasser auch in mehreren Publikationen die Auffassung vertreten, dass Deutschland hinsichtlich des Zinssatzes ein "Entwicklungsland" sei.

 

Rz. 24

Des Weiteren kommt hinzu, dass über Jahrzehnte hinweg mit "veralteten", aber geradezu sakrosankt verteidigten, über alle Zweifel erhaben Tabellenwerken von Küppersbusch kapitalisiert wurde, mit der Folge, dass in einer erheblichen Anzahl unterdimensionierte, nicht angemessene Abfindungsvergleiche auf Kapitalisierungsbasis zulasten von Geschädigten ab...

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