Rz. 100

Ist die Zuwendung an einen pflichtteilsberechtigten Abkömmling gleichzeitig nach §§ 2050 ff. BGB ausgleichungs- und nach § 2315 BGB anrechnungspflichtig, hätte eine Berechnung seines Pflichtteils zur Folge, dass die Zuwendung eine ihren Wert übersteigende (1 ½-fache) Berücksichtigung findet.[189] Dieses Ergebnis steht im Widerspruch zum jeweils erklärten Normzweck. Zur Vermeidung einer übermäßigen Berücksichtigung des Vorempfangs, der gleichzeitig anrechnungs- und ausgleichungspflichtig ist, modifiziert das Gesetz den Vorgang zur Berechnung des Pflichtteils: Nach § 2316 Abs. 4 BGB bleibt die Berechnung gem. § 2315 Abs. 2 BGB "außen vor". Stattdessen ist die Zuwendung nur noch mit der Hälfte ihres Wertes von dem nach § 2316 Abs. 1 BGB errechneten Ausgleichungspflichtteil in Abzug zu bringen, § 2316 Abs. 4 BGB.[190] Die Minderung der Pflichtteilslast, die durch die Kumulation von Ausgleichung und Anrechnung i.S.d. § 2316 Abs. 4 BGB erreicht werden soll, bleibt aber bei bestimmten Fallkonstellationen (zu Lasten der Erben) hinter dem Wert zurück, der bei alleiniger Anrechnung nach § 2315 Abs. 2 BGB erzielt worden wäre.

 

Rz. 101

 

Beispiel

Der Erblasser ist im gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft verheiratet. Er hat zwei Abkömmlinge, A und B, die seine Ehefrau zur Alleinerbin eingesetzt hat. Der Nachlass hat einen Wert von 700.000 EUR. Das Kind B hat einen Vorempfang, der zugleich ausgleichungs- und anrechnungspflichtig ist, i.H.v. 100.000 EUR erhalten. Die Berechnung ist nun wie folgt vorzunehmen:

 
Nachlass 700.000 EUR
abzgl. ½ Erbteil Ehegatte = 350.000 EUR
zzgl. Vorempfang 100.000 EUR
ergibt 450.000 EUR
/ 2 Abkömmlinge = Ausgleichserbteil von 225.000 EUR
abzgl. dem Vorempfang von B 100.000 EUR
ergibt einen Betrag von 125.000 EUR
hieraus ½ Pflichtteil 62.500 EUR

Anrechnung nach § 2316 Abs. 4 BGB

 
des hälftigen Vorempfangs von 50.000 EUR = 12.500 EUR

Erfolgt eine Anrechnung nach § 2315 BGB, so käme man zu folgendem Ergebnis:

 
Nachlass 700.000 EUR
zzgl. Vorempfang 100.000 EUR
ergibt einen Anrechnungsnachlass von 800.000 EUR
hieraus ⅛ Pflichtteil 100.000 EUR
abzgl. Vorempfang nach § 2315 BGB 100.000 EUR
ergibt 0 EUR
 

Rz. 102

Die Tatsache, dass der Erblasser nunmehr eine Ausgleichungs- und Anrechnungspflicht getroffen hat, führt hier dazu, dass der Pflichtteilsanspruch des B höher ist, als er wäre, wenn nur eine Anrechnung nach § 2315 BGB vorgenommen wäre. Zu dem gleichen Ergebnis gelangt man im Übrigen auch dann, wenn die Ehepartner in einem anderen Güterstand verheiratet gewesen waren. Hierzu folgendes Beispiel:

 

Rz. 103

 

Beispiel

Eheleute M und F waren im Güterstand der Gütertrennung verheiratet. Aus ihrer Ehe sind die beiden Kinder A und B hervorgegangen. Das Kind A hat einen ausgleichungs- und anrechnungspflichtigen Vorempfang i.H.v. 100.000 EUR erhalten. Der Nachlass beträgt 700.000 EUR.

 
Nachlass 700.000 EUR
abzgl. Anteil[191] des Ehepartners F 233.333 EUR
Ausgleichsnachlass 466.666 EUR
zzgl. Vorempfang 100.000 EUR
ergibt einen Ausgleichsnachlass von 566.666 EUR
hieraus ½ Ausgleichserbteil 283.333 EUR
abzgl. des Vorempfangs von 100.000 EUR
ergibt einen Ausgleichserbteil von 183.333 EUR
hieraus ½ Pflichtteil 91.666 EUR
abzgl. hälftigen Vorempfang 50.000 EUR
ergibt einen Pflichtteil von 41.666 EUR

Erfolgt eine Anrechnung nach § 2315 BGB, so käme man zu folgendem Ergebnis:

 
Nachlass 700.000 EUR
zzgl. Vorempfang 100.000 EUR
ergibt einen Anrechnungsnachlass von 800.000 EUR
hieraus 1/6 Pflichtteil, ergibt 133.333 EUR
abzgl. Vorempfang 100.000 EUR
ergibt einen Pflichtteil von 33.333 EUR
 

Rz. 104

Dieses Beispiel zeigt, dass das Ergebnis gleichfalls unbillig ist, wenn der Erblasser im Güterstand der Gütertrennung verheiratet war und der Pflichtteilsberechtigte eine ausgleichungs- und anrechnungspflichtige Zuwendung erhalten hat. Die Differenz ist umso größer, je höher die Erbquote des überlebenden Ehepartners ist. Dieses Ergebnis wurzelt in den grundsätzlich unterschiedlichen Rechenvorgängen der Anrechnung und der Ausgleichung im Pflichtteilsrecht,[192] die der Gesetzgeber wohl übersehen hat und denen mit der Vorschrift des § 2316 Abs. 4 BGB jedenfalls nicht Rechnung getragen wird.[193] Soweit der Erblasser primär das Ziel verfolgt, die Pflichtteilsansprüche im Interesse der Erben zu reduzieren und eine durch das Berechnungsverfahren des § 2316 Abs. 4 BGB verminderte Anrechnungswirkung nicht hinnehmen will, wird folgende Formulierung vorgeschlagen:[194]

 

Formulierungsbeispiel

Der Übernehmer/Empfänger hat sich den Wert der heutigen Zuwendung auf seinen Pflichtteil nach § 2315 BGB anrechnen zu lassen. Eine Ausgleichung unter Abkömmlingen soll nicht erfolgen. Die §§ 2050, 2316, 2316 Abs. 4 BGB finden keine Anwendung.

[189] Thubauville, MittRhNotK 1992, 289 (300).
[190] Vgl. Kerscher/Riedel/Lenz, § 8 Rn 29 (mit Rechenbsp.).
[191] Erbteil 1/3 gem. § 1931 Abs. 4 BGB.
[192] Während nach § 2315 BGB die jeweils anrechnungspflichtige Zuwendung dem Gesamtnachlass hinzugerechnet werden muss, sind nach §§ 2316 Abs. 1, 2055 Abs...

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