Rz. 138

Unternehmen/Selbstständigen aus den Beitrittsstaaten können seit dem 1.5.2004 ein mit dem Beitritt erworbenes Recht in Anspruch nehmen: Sie können beim Sozialleistungsträger ihres Heimatlandes die Ausstellung einer A1- (früher: "E-101-) Bescheinigung" beantragen. Nach Art. 11 Abs. 1a) der VO Nr. 574/72 (Abl. L 74 v. 27.3.1972) wird hierdurch das Vorliegen der Voraussetzungen der VO (EG) Nr. 883/2004 bescheinigt. D.h., dass die entsprechende Person bzw. der entsprechende Arbeitnehmer einem Unternehmen in einem Mitgliedsstaat gewöhnlich angehört, von diesem beschäftigt und zur Ausführung einer Arbeit für dessen Rechnung in einem anderen Mitgliedsstaat entsandt wird und deswegen weiterhin den Rechtsvorschriften des 1. Mitgliedsstaates unterliegt, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit 24 Monate nicht überschreitet und sie nicht eine andere Person ablöst, für welche die Entsendezeit abgelaufen ist.

 

Rz. 139

Es stellt also der Träger, der die zuständige Behörde desjenigen Mitgliedsstaates (1. Mitgliedsstaat) bezeichnet, dessen Rechtsvorschriften weiterhin anzuwenden sind, auf Antrag des Arbeitnehmers oder seines Arbeitgebers eine Bescheinigung darüber aus, dass und bis zu welchem Zeitpunkt diese Rechtsvorschriften weiterhin für den Arbeitnehmer gelten. Von erheblicher Bedeutung ist, dass diese sog. "A1-Bescheinigungen" eine Bindungswirkung für die Behörden des Staates (2. Mitgliedsstaat), in den entsandt worden ist, entfalten.

 

Rz. 140

Wenn nämlich die zuständigen Sozialversicherungsträger des 2. Mitgliedsstaates an der Richtigkeit des der Bescheinigung zugrunde liegenden Sachverhaltes oder an dessen rechtlicher Bewertung zweifeln bzw. es infrage stellen sollten, ob die Angaben dieser Bescheinigung mit der VO (EG) Nr. 883/2004 im Einklang stehen, muss der ausstellende Sozialversicherungsträger des 1. Mitgliedsstaates zwar die Richtigkeit der Bescheinigung überprüfen und diese ggf. zurückziehen. Bis dahin besteht aber eine durch die Behörden des 2. Mitgliedsstaates nicht widerlegbare Vermutung dafür, dass der Anschluss der entsandten Arbeitnehmer an das System der sozialen Sicherheit des 1. Mitgliedsstaates, in dem das Unternehmen seine Betriebsstätte hat, ordnungsgemäß ist (EuGH v. 10.12.2000 – C-202/97, NZS 2000, 291) und zum 2. Mitgliedsstaat keine Sozialversicherungspflicht besteht.

 

Rz. 141

Die nationalen Behörden jedes Mitgliedsstaates müssen somit Entscheidungen der Behörden anderer Mitgliedsstaaten als verbindlich respektieren.

 

Rz. 142

Allerdings gilt diese Regelung nur für Staaten des EWR-Raumes, d.h. Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Island, Italien, Lichtenstein, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, Spanien, die BRD und jetzt natürlich auch für die am 1.5.2004 und 1.1.2007 bzw. 1.7.2013 beigetretenen Staaten. Infolge des Austritts Großbritanniens im Zuge des sog. Brexit ergeben sich vielfältige Besonderheiten.

 

Rz. 143

Welche Bedeutung die A1-Bescheinigung auch auf anderen Gebieten hat, zeigt das Urteil des BGH (24.10.2006 – 1 StR 44/06), wonach eine von einem anderen Mitgliedsstaat der EU erteilte Entsendebescheinigung (E-101) auch die deutschen Organe der Strafrechtspflege bindet, und deshalb die Durchführung eines Strafverfahrens wegen Vorenthaltens von Sozialversicherungsbeiträgen (§ 266a Abs. 1 StGB) ebenso gehindert ist wie eine Strafverfolgung in Zusammenhang mit Erklärungen ggü. den Behörden des Entsendestaates zur Erlangung der E-101-Bescheinigung, jedenfalls solange die erteilte Bescheinigung nicht zurückgenommen ist (s. dazu aber die Entscheidung des OLG Bamberg v. 2016 unter Rdn 127).

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