Rz. 18

Häufig versuchen Sachverständige mit Rekonstruktionsprogrammen (Vorwärtssimulationen) auch die Frage von Wahrnehmungsmöglichkeiten solcher Kleinkollisionen zu rekonstruieren. Dies ist ein untaugliches Mittel, da in den zu solchen Programmen gehörenden technischen Datenblättern zu Kfz längst nicht sämtliche nötigen "Kennwerte" hinterlegt sind. Dort werden Fahrzeuge unterschiedlicher Hersteller mit quasi gleichen Festigkeiten, also Formänderungsqualitäten abgespeichert, obwohl sich die einzelnen Fahrzeugtypen z.T. nicht unwesentlich unterscheiden.

Abb. 6.6

Als einfaches Beispiel kann man gem. Abb. 6.6 eine Kollision zweier Kleinwagen simulieren (verwendetes Programm PC-Crash). Ein Ford Fiesta stößt dort mit einem Tempo von 10 km/h mit der vorderen rechten Karosserieecke gegen einen aus Gegenrichtung herannahenden Opel Corsa, der das gleiche Tempo innehat. Die Fahrzeuge besitzen als Kompakt-Kfz vergleichbare Unfallmassen, was dann im Rahmen der Simulation auch zu einer zu erwartenden, ähnlichen Energieaufnahme pro Kfz führt, nämlich bei eng um 9 km/h. Auch die Eindringtiefe wird pro Kfz, obschon nur an den vordersten Karosserieecken getroffen, jeweils mit 16 cm angegeben.

 

Dass ein Real- Crash zu einem anderen Ergebnis bzgl. der Fahrzeugverformungen führen muss, lassen die Konstruktionsmerkmale beider Pkw erkennen, Abb. 6.7a und b. Der Ford Fiesta besitzt nämlich vorne rechts an der Karosserieecke einen vergleichsweise massiven Metallquerträger, während der Opel Corsa dort keine fahrzeugstabilisierenden Elemente aufweist – dort ist unter dem Stoßfängerverkleidungsmaterial nur "Luft". Das bedeutet, dass der Ford Fiesta im Rahmen eines Crashs weit weniger beschädigt werden würde als der Opel Corsa.

 

Rz. 19

Hat man also als technischer Sachverständiger die Aufgabe, die Frage der Wahrnehmungsmöglichkeiten zu beurteilen, so muss man immer auf Crashversuchsergebnisse oder aber selbst gefahrene Unfallversuche zurückgreifen, um auch dem technischen Laien vermitteln zu können, wie man letztlich zu eben jenem Ergebnis kam. Dies gelingt nur dadurch, dass man sicher nachweisen kann, dass die mit der Kollision einhergehende Kopplung aus Maximalverzögerungswert und Anstiegszeit merklich oberhalb der Wahrnehmungsschwelle liegt, wobei natürlich ein evtl. eigener Bremseinfluss sehr bedeutungsvoll sein kann.

Kann man dies bejahen, d.h., eine Fahrzeugerschütterung (infolge eines Kollisionsgeschehens) war objektiv wahrnehmbar, so ist in einem nächsten Schritt zu prüfen, ob sie denn auch als sicheres Kollisionsgeschehen hätte eingestuft werden können, also der Regel folgend, dass nur die bewusste Wahrnehmung der Kollision (und nicht irgendeines Verzögerungsereignisses) zählt. Als besonders ausgefallenes Beispiel sei noch eine Auffahrkollision zwischen einem Renault Megane und einem Audi 80 vorgestellt, Abb. 6.8a und b.

 

Der Renault rutschte im Rahmen einer Vollbremsung gegen die Heckpartie des Audi 80, der starke Verformungen im Heckbereich davontrug. Der Stoßfänger, die Kofferbodenwanne, die Heckklappe und auch die Beleuchtungseinrichtungen wurden stark in Mit­leidenschaft gezogen. Bewertet man ein solches Kollisionsereignis im Rahmen einer Energiebilanz, so kommt man zu der Erkenntnis, dass der für die Erzeugung der Fahrzeugschäden notwendige Geschwindigkeitsunterschied bei annähernd 10 km/h gelegen haben muss, womit eine Beschleunigung des heckseitig getroffenen Audi 80 von gut und gerne 7 m/s2 einhergeht, also einer Größenordnung, die man als ganz sicher wahrnehmbar einstufen kann.

Bemerkenswert ist die Aussage der (älteren) Audi-Fahrerin, die zunächst unerklärlicherweise die Unfallstelle verließ, woraufhin der Renault-Fahrer Anzeige wegen Fahrerflucht erstattete, obschon er als Auffahrender haftete. Die Audi-Fahrerin gab gegenüber der Polizei an, dass sie verkehrsbedingt plötzlich abbremsen musste und dabei einen leichten Ruck spürte, den sie aber auf das plötzliche Abbremsen zurückführte. Erst beim nächsten Halt habe sie dann den entstandenen Schaden am Audi-Heck bemerkt.

Dies führt eindrucksvoll vor Augen, dass nicht entscheidet, dass man irgendeinen Ruck spürt – man muss ihn auch sicher einem Kollisionsereignis zuordnen. Fahrzeugerschütterungen und Verzögerungen sind im alltäglichen Fahrbetrieb nichts Ungewöhnliches.

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