Rz. 7

Das OVG NRW[6] bestreitet einen differenzierten Weg bei der Berechnung. Es unterteilt die Gültigkeit der jeweils geltenden Regelungen nach seinen Geltungszeitpunkten. Das führt dann zu unterschiedlicher Gesetzesanwendung mit weitreichenden Folgen:

Zitat

"Das Tattagprinzip ist auch bei Anwendung der Bonusregelung des § 4 Abs. 6 StVG zugrundezulegen. Das dort und in Absatz 5 verankerte Maßnahmensystem [...] sieht vor, dass die Maßnahmen zwei und drei erst dann ergriffen werden dürfen, wenn die jeweils davor liegende Maßnahme bereits zuvor ergriffen worden ist (§ 4 Abs. 6 Satz 1 StVG). Falls die Fahrerlaubnisbehörde sich nicht an diese Schrittfolge hält, verringert sich, wenn der Inhaber einer Fahrerlaubnis sechs oder acht Punkte erreicht oder überschreitet, der Punktestand auf fünf Punkte (Satz 2); wenn der Betroffene acht Punkte erreicht oder überschreitet, ohne dass die Maßnahme der Verwarnung ergriffen worden ist, verringert sich der Punktestand auf sieben Punkte (Satz 3). Entsprechend dem Gedanken des Tattagprinzips kommt es bei Anwendung der Regelungen über die Reduzierung von Punkten darauf an, ob die Zuwiderhandlungen zeitlich vor der Ermahnung oder Verwarnung liegen und ob die begangene Straftat oder Ordnungswidrigkeit rechtskräftig geahndet worden ist. Anderenfalls wäre die Anwendung der "Bonusregelung" davon abhängig, ob die Fahrerlaubnisbehörde von den Verstößen bereits Kenntnis erlangt hat oder den bereits bekannten Verstoß in die Punkteaufstellung eingestellt hat. Die Auswirkung von solchen Zufällen widerspräche möglicherweise einer berechenbaren Anwendung des Gesetzes und damit den rechtsstaatlichen Vorgaben des Art. 20 Abs. 3 GG zur Rechtssicherheit. Denn die hier in Rede stehende Verlässlichkeit ist ein wesentliches Element der Rechtsordnung. Dahinter verbirgt sich die rechtsstaatliche Forderung, dass staatliche Hoheitsakte einerseits so klar und bestimmt und andererseits so beständig sein sollen, dass sich der Bürger auf sie hinreichend verlassen kann. Ohne ein Mindestmaß an solcher Verlässlichkeit bleibt das Handeln des Staates für den Bürger unvorhersehbar und damit sowohl unberechenbar als auch unverständlich. [...]"

Soweit die Gesetzesmaterialien zur der Änderungsfassung des § 4 StVG vom 28.11.2014 auf eine Klarstellung zur Punkteberechnung hinweisen, dass das Tattagprinzip für das Ergreifen von Maßnahmen keine Bedeutung habe (BT-Drucks 18/2775, S. 10), lässt sich § 4 Abs. 6 StVG in der hier anwendbaren alten Gesetzesfassung nicht entnehmen, dass der Rechtsgedanke des Tattagprinzips nicht zum Tragen kommen soll. Demgegenüber lautet § 4 Abs. 6 StVG n.F., dass Punkte für Zuwiderhandlungen, die vor der Verringerung nach Satz 3 begangen worden sind und von denen die nach Landesrecht zuständige Behörde erst nach der Verringerung Kenntnis erhält, den sich nach Satz 3 ergebenden Punktestand erhöhen.“ (Hervorhebungen durch die Autorin)

Das Gericht lässt ausdrücklich offen, ob ein Ausschluss des Rechtsgedankens des Tattagprinzips in jeder Hinsicht vorliegen kann, wenn eine verfassungsrechtliche Auslegung der Vorschriften erfolgt, weil nämlich in der Fassung vom 28.8.2013 gerade nicht festgestellt werden könne, dass der Gesetzgeber von der Leitvorstellung des "Mahnens und Erziehens" Abstand nehmen wollte. Es heißt dann weiter in der Entscheidung:

Zitat

"Die für einen veränderten gesetzgeberischen Willen angeführten Äußerungen im Beschluss des Bund-Länder-Fachausschusses "Fahrerlaubnis-/Fahrlehrerrecht" vom 19.3.2014 sind – abgesehen von ihrem zeitlichen Abstand zum Gesetzgebungsverfahren – schon nicht dem Gesetzgeber zuzurechnen. Bei den Fachausschüssen handelt es sich um zu diversen Themen einberufene Gremien, bei deren Mitgliedern es sich im Wesentlichen um Beamte und Angestellte der jeweils fachlich zugeordneten Landes-und Bundesministerien handelt. Die Arbeitsergebnisse dieser Fachausschüsse können dazu dienen, bei unklarer Gesetzeslage eine einheitliche Verwaltungspraxis herbeizuführen. Eine Neubestimmung des gesetzgeberischen Willens – und damit des verbindlichen Inhalts von Gesetzen – ist diesen Ausschüssen indessen verwehrt."

Schließlich kommt auch eine wie auch immer geartete Vorwirkung von § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG in der am 5.12.2014 – also nach dem Erlass der streitbefangenen Entziehungsverfügung – in Kraft getretenen Neufassung vom 28.11.2014 (BGBI. I S. 1802; StVG n.F.) nicht in Betracht. Dafür kann insbesondere nicht ins Feld geführt werden, dass es sich bei § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG n.F. – also der Anordnung der Verwertbarkeit von Zuwiderhandlungen im Rahmen des Fahreignungs-Bewertungssystems, die vor dem Ergreifen einer Maßnahme nach Abs. 5 des Gesetzes begangen worden, der Fahrerlaubnisbehörde aber erst danach bekannt geworden sind und in die nächste Stufe des Sanktionensystems führen – um eine bloße KlarsteIlung des schon zuvor Geltenden gehandelt hat. Denn eine solche Interpretation wurde – wie schon ausgeführt – weder durch den Wortlaut des § 4 Abs. 6 StVG a.F. noch durch eine systematisc...

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